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KAPITEL 3

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Alban wartete jeden Tag auf einen Zwischenfall, doch in den ersten beiden Wochen verlief die Reise friedlich. Immer wieder stießen sie auf Spuren von Wegelagerern, aber Martins Söldnertrupp zeigte die nötige abschreckende Wirkung. In den Städten und Dörfern waren sie dank des Geleitbriefes des Königs keiner Gefahr ausgesetzt, und des Nachts fanden sich Klöster oder Herbergen, die sie aufnahmen. Die Wege waren in erbärmlichem Zustand und der Wagen langsam, sodass Alban oft ausstieg und ein Stück nebenherlief. Rogatus hingegen ließ sich selten außerhalb des Wagens blicken, und dann auch nur, um sich diskret in die Büsche zu schlagen. Die Söldner machten darum kein solches Aufheben, sie schlugen ihr Wasser mitten auf dem Weg ab, was Rogatus zu peinlich berührtem Kopfschütteln veranlasste.

»Ich freue mich, bald wieder zivilisierte Menschen um mich zu haben«, verkündete er. Sie befanden sich geschätzte zwanzig Meilen von Konstanz entfernt und hatten inzwischen andere Reisegruppen gesichtet. Zu einem Zusammenschluss war es nicht gekommen, denn der Abt drängte zur Eile. Selbst das täglich vorgeschriebene Lesen des Missales vernachlässigte er.

Während Rogatus meistens nur vor sich hin starrte, schaute Alban aus dem Wagenfenster, beobachtete die langsam an ihnen vorbeiziehende Landschaft oder las in seiner Bibel, seinem Messbuch oder in den Lehrbüchern alter Kirchenväter. Auch sein Kräuterbüchlein hatte er bei sich, ebenso einen kleinen Vorrat getrockneten Heilkrauts. Ihm oblag es, während der Reise auftretende Beschwerden zu behandeln, und er bedauerte es, dass sie im März stattfand, wo es wenig zu sammeln gab. Doch je weiter sie in den Süden kamen, desto spärlicher wurde der Schnee.

Gelangweilt blätterte Alban in dem Kräuterbüchlein, während unter ihm der Wagen ruckelte. Er hatte es nicht nur geschrieben, sondern auch illuminiert. Schlichte Zeichnungen waren es, einfach zwischen den Text geworfen, um die Kräuter bestimmen zu können – nichts, was das wahre Ausmaß seines Könnens auch nur ansatzweise verriet.

Es lag lange zurück, dass er seiner Leidenschaft, der Kalligraphie, nachgegangen war, und in Konstanz würde er dies schon gar nicht tun. Keinesfalls wollte er seinen eitlen Leidenschaften frönen, während gleichzeitig der Magister Hus auf das Urteil der Kirche wartete. Alban blickte vorsichtig zu Rogatus. Immer, wenn er an Hus dachte, fürchtete er, der Abt könne es ihm vom Gesicht ablesen.

Der Abt reiste nach Konstanz, um dazu beizutragen, dass Johannes Hus seine Lehren widerrief und ein hartes Urteil über ihn gesprochen wurde. Er, Alban, jedoch hoffte, dazu beitragen zu können, dass das Urteil milde ausfiel. Nur wie, das wusste er beim besten Willen nicht. Im Gefüge des Klerus war er nur ein kleines Licht. Aber der Gedanke, im entlegenen Steinreuth zurückzubleiben, während Rogatus sich zum Konzil aufmachte, war ihm unerträglich gewesen. Wenigstens vor Ort wollte er sein und einen Blick auf seinen heimlichen Meister erhaschen. Das sollte nicht allzu schwierig werden, denn wie er gehört hatte, wohnte Hus in einer bescheidenen Herberge und predigte dort im kleinen Kreise interessierter Menschen. Möglich war das nur, weil er unter dem persönlichen Schutz des Königs stand, der ihm freies Geleit zugesagt hatte. Und Johannes XXIII., der als einziger der drei Päpste in Konstanz weilte, hatte vorläufig das Interdikt sowie die Exkommunikation gegen ihn aufgehoben – die Lage war also keineswegs hoffnungslos. Vielleicht tröstete es Hus ja, wenn er erfuhr, dass seine Lehren auch im abgelegenen Kloster Steinreuth einen Menschen erreicht hatten, der im Geist an seiner Seite stand. Mehr als diesen kleinen Dienst würde Alban ihm wohl nicht erweisen können.

Und vielleicht ... vielleicht war doch mehr möglich. Gottes Wege waren unergründlich.

Ein besonders heftiger Ruck schreckte ihn aus seinen Gedanken hoch. Der Wagen hielt. Rogatus sah auf. »Schon wieder ein Schlagloch.«

»Ein sehr tiefes diesmal«, bestätigte Alban. »Wir werden wohl aussteigen müssen.«

Draußen erklangen Schritte und das Gemurmel der Söldner, die näher traten, um die Sache zu begutachten. Martin ritt so dicht heran, dass der Schweif seines Pferdes gegen den Wagenkasten schlug. Unwillig reckte sich Rogatus nach der Tür, um sie aufzustoßen.

»Bleibt im Wagen«, befahl Martin.

»Warum?«, rief Rogatus ärgerlich. »Mit unserem Gewicht bekommt ihr den Wagen doch nicht flott!«

»Die Schlaglöcher waren mit Geflecht abgedeckt.«

»Ach! Und was bedeutet das?«

Martin antwortete nicht, sondern lenkte sein Pferd ein Stück vom Wagen fort. Gleichzeitig legte er die Hand auf den Schwertgriff.

»Es bedeutet«, murmelte Alban, der plötzlich einen Kloß im Hals hatte, »dass wir überfallen werden.«

»Jesusmariaundjosef!«, entfuhr es Rogatus, der hastig das kleine Holzkreuz, das an seinem Hals hing, küsste. Vorsichtig lugte Alban aus dem Fenster. Auch ihm war danach, ins Gebet zu versinken, doch er musste sehen, was sein Bruder tat. Wenn Martin versagte, war es auch sein Versagen, obwohl das nicht mehr von Belang sein würde, wenn sie alle tot am Wegesrand lagen.

Schweigend standen die Söldner da. Nur das leise Schnauben der Pferde und das allgegenwärtige Vogelgezwitscher durchschnitten die Stille.

Er wusste nicht so recht, ob er sich von dieser bunt zusammengewürfelten Truppe aus Deutschen und Böhmen beschützt fühlen sollte oder nicht. Sechs der Männer besaßen Pferde; drei hatten Brigantinen am Leib, gefütterte Wämser mit innenliegenden Metallplättchen. Auch Martin trug unter seinem Mantel so ein Wams, und es sah kaum weniger mitgenommen aus als die der anderen. Seinen standesgemäßen Brustpanzer hatte er wahrscheinlich in seiner ständigen Geldnot verkaufen müssen. Trotzdem bot er einen beeindruckenden Anblick, wie er groß und breitschultrig auf dem Pferderücken saß. Gemächlich zog er sein Schwert; das metallische Zischen durchschnitt die Luft. In diesem Augenblick erinnerte er wahrhaftig an Martin von Tours, einen jener Heiligen, welche die Reisenden beschützen.

Es raschelte im Unterholz. Männer näherten sich. Sie waren deutlich in der Überzahl, jedoch noch schlechter ausgerüstet als Martins Trupp. Junge Burschen waren darunter, fast noch Kinder, die Gesichter hager und die Füße mit Lumpen umwickelt. Leibeigene vermutlich, die unter zu hoher Abgabenlast litten. Ob sie wussten, welch fette Beute hier zu holen war? Abgesehen vom Lohn der Söldner befanden sich in der Reisetruhe seines Herrn ein wertvolles Kreuz und Geschenke für die Abtei, in der sie Quartier beziehen würden. Allein die Pferde waren ein Vermögen wert.

Martin ließ seine Männer nicht angreifen. Er wartete einfach ab – und das sehr ausgiebig. Voller Ungeduld knetete Rogatus seine Finger. »Was wird das denn jetzt? Warum greift er nicht an?«, zischte er mühsam beherrscht. Martin jedoch hatte sein Schwert quer über den Schenkeln liegen und starrte die Fremden nur an. Einer der Jungen ließ seinen Spieß fallen und wich ins Unterholz zurück. Seine Flucht brachte Unruhe in die Reihe der Wegelagerer. Hatte Martin es darauf angelegt? Da bemerkte Alban einen Reiter, der sich zuvor im Hintergrund gehalten hatte und nun sein Pferd zwischen den Männern hindurchlenkte. Er war tatsächlich im Besitz eines Schwertes; wohl ein verarmter Ritter, den die Not zwang, Reisende auszurauben. Sein Blick war unsicher. Sicherlich war er davon ausgegangen, dass es sofort zum Kampf kam, was seinen Leuten zum Vorteil gereicht hätte. Jetzt musste er einsehen, dass seine armselige Schar würde bluten müssen.

Er atmete mehrmals tief durch. »Nur Ihr und ich«, sagte er zu Martin. »Wir wollen nur zu essen, Geld und Pferde, aber niemandem ein Leid zufügen. Wenn ich Euch besiege, gebt Ihr heraus, was ich verlange. Sicher wollen die Herren dort im Wagen nach Konstanz, wie alle Reisenden. Dort gibt’s genug Pfeffersäcke, die ihnen aushelfen können.«

Mit einem Nicken, das kaum verächtlicher hätte sein können, gab Martin seine Zustimmung. Auch die Art, wie er seinen Mantel abstreifte, zeigte, was er von seinem Gegner hielt. Alban erschrak, als er Rogatus neben sich brüllen hörte: »Die Männer sollen angreifen! Wofür bezahle ich sie denn? Schafft das Pack aus dem Weg, und dann weiter!«

Martin riss am Zügel, sein Pferd tänzelte in Richtung des Wagens. Noch immer sagte er nichts, sondern starrte den Abt so zornig an, dass dieser zurück auf seinen Sitz fiel. Dann glitt Martin vom Pferd und warf Sandro die Zügel zu. Auch der Fremde sprang herunter und zog sein Schwert. Breitbeinig stellten sie sich auf und hoben die Klingen.

Bisher hatte Alban seinem Bruder nur zweimal bei einem Schwertkampf zugesehen. Das erste Mal lag neun Jahre zurück, da war er dreizehn Jahre alt gewesen. Martin hatte die elterliche Burg besucht und im Hof mit dem Schwertmeister seines Vaters gefochten. An den Kampf selbst vermochte Alban sich kaum zu erinnern, nur daran, dass er zwischen Neid und Bewunderung geschwankt hatte, bis er in die Familienkapelle gerannt war, um diese Gefühle wegzubeten. Der zweite Kampf lag erst zwei Jahre zurück. Martin war von seiner ersten Pilgerfahrt zurückgekehrt und den Weg entlanggewandert, der am Kloster vorbeiführte, seinem Freund Sandro entgegen. Alban hatte im Kräutergarten gearbeitet und von dort aus zugesehen, wie die beiden Freunde ihre Schwerter zogen. Offenbar war das ihre Art, Wiedersehensfreude auszudrücken. Martin hatte sich das Pilgerhemd heruntergerissen, damit es ihn nicht behinderte, und dann hatten sie die Klingen gekreuzt, mitten auf dem Weg. Alban war nicht mehr der halbwüchsige Junge gewesen, der sich von Schwertergeklirr beeindrucken ließ, dennoch hatte er den Blick nicht abwenden können.

Hier, auf diesem schlammigen Weg unweit von Konstanz, war es nicht anders: Er musste hinstarren und staunen, als Martin und der Raubritter wie auf ein Handzeichen die Schwerter gegeneinanderschlugen. Neben sich hörte er seinen Herrn aufgeregt atmen; Alban umklammerte den Rosenkranz an seinem Gürtel und wollte beten, doch in der Aufregung fielen ihm die Worte nicht ein.

Martin versuchte, seinem Gegner das Schwert an der Brigantine vorbei in die Schulter zu stoßen, gleichzeitig wehrte er die gegnerischen Hiebe mit kräftigen Schlägen ab. Seine Bewegungen waren beherrscht und kraftvoll, während sein Gegner bald zu keuchen begann. »Herr Jesus!«, zischte Rogatus, als die Breitseite der fremden Klinge auf Martins Knie zielte. Doch Martin stieg darüber hinweg und stach zugleich in Richtung des ungeschützten Halses. Der Fremde hatte Mühe, den Angriff abzuwehren. Martin setzte nach, stand plötzlich an der Seite des Gegners und hieb ihm den Schwertknauf gegen die Schulter. Der Mann stolperte einige Schritte nach vorn, wirbelte auf dem Absatz herum und hob sein Schwert, aber nicht schnell genug; schon war Martin bei ihm und riss mit der Schwertspitze das Leinen der Brigantine auf. Die Bauern stießen unterdrückte Schreie aus. Sie wirkten jedoch eher eingeschüchtert als angriffslustig, und Alban meinte inzwischen drei weniger zu zählen.

»Mach schon«, knurrte Rogatus. Und als habe Martin ihn gehört, verschwand seine Klingenspitze in der Achsel des Gegners. Der Mann fiel auf die Knie und kippte nach vorne. Sein Schwert glitt ihm aus der Hand. Martin stieß es mit dem Fuß in Sandros Richtung, beugte sich vor und säuberte seine Klinge am Beinkleid des Gefallenen. Dann warf er sich die schweißfeuchten Haare aus der Stirn und ließ einen kalten Blick über die Wegelagerer schweifen, doch die schienen abgeneigt, die Auseinandersetzung zu verlängern. Die nächsten schlugen sich in die Büsche. Nur wenige blieben zurück. Diesen erlaubte er mit einem Wink, ihren sterbenden Anführer mitzunehmen.

Alban merkte nun, wie sehr er zitterte. Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht, während er zusah, wie die Fremden ihren Herrn wegtrugen. Martin befahl einem seiner Männer, das eroberte Pferd herbeizuführen. »Nun könnt ihr aussteigen«, rief er in Richtung des Wagens.

Rogatus stürmte hinaus. »Ein nettes Schauspiel!«, herrschte er ihn an. »Aber darauf hätten wir gut verzichten können! Was, wenn du nun tot hier lägest? Habe ich allen Ernstes unser Leben jemandem anvertraut, der sich darin gefällt, den Helden zu spielen?«

»Was wollt Ihr denn?«, gab Martin zornig zurück. »Kein einziger meiner Männer ist gestorben, es ist nicht einmal jemand verwundet. Auch Ihr und Alban nicht. Hätte ich angreifen lassen, wie Ihr es wolltet, sähe die Sache ganz anders aus!«

»Du hättest den Kampf auch verlieren können!«

»Ich weiß schon ganz gut selber, was ich mir zumuten kann.« Mit einem Mal lachte Martin, doch es klang alles andere als heiter. »Ach, gebt es doch zu, so schlimm würdet Ihr es gar nicht finden, wenn ich da jetzt im Staub läge.«

»Martin ...«, fing Sandro an, als wolle er seinen aufgebrachten Freund beschwichtigen.

»Halt’s Maul, Sandro.«

Martin ließ nicht ab, den Abt anzustarren. Der verlor zusehends die Fassung, Zorn rötete sein Gesicht. »Dein Ungehorsam wird dich etwas kosten, die Hälfte deines Soldes nämlich. Und wage es ja nicht, dich darüber zu beklagen!«

Alban bekreuzigte sich. »Beklagen?«, sagte Martin überraschend ruhig. Es wäre Alban lieber gewesen, ihn wie üblich herumschreien zu hören, denn diese Ruhe wirkte noch gefährlicher. »Das ist nicht das richtige Wort für das, was ich gern tun würde.«

»Will er mir drohen?«, bellte Rogatus. »Kümmere er sich lieber um den Wagen! Wir haben genug Zeit verloren.«

Alban schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sein Bruder vernünftig reagieren werde. Langsam hob Martin die Klinge, und Alban stand schon der Atem still. Martin von Tours? Nein, er war eben doch nur ein Raufbold, der nichts anderes konnte, als ein Schwert zu schwingen. Nach einem Moment angespannter Stille, der Alban wie eine Ewigkeit erschien, stieß Martin es heftig in die Scheide zurück. Dann winkte er seine Leute zum Wagen. Alban stieg aus; sofort wurde der Wagen aus dem Schlagloch gehoben, und sie konnten wieder einsteigen. Sowie das Gefährt anfuhr, nahm Alban sein Kräuterbuch und tat, als versinke er darin. Keinesfalls wollte er von Rogatus auf den Vorfall angesprochen werden. Doch der Abt saß nur still da und brütete finster vor sich hin.

***

Den Rest des Weges blieben sie unbehelligt. Hinter Ulm war die Straße so dicht bevölkert, dass höchstens Taschendiebe es wagten, auf Beutezug zu gehen. Nachdem sie Ravensburg hinter sich gelassen hatten, erhaschten sie hin und wieder einen Blick auf die Alpen, über grauen Hügeln wie in einer anderen Welt schwebend. Als sie nach eintönigen Tagen den Bodensee erreichten, war es früh am Morgen, die Stadt am gegenüberliegenden Ufer nur ein Schemen im frühmorgendlichen Nebel, aus dem Dutzende Kirchtürme und Tortürme ragten. Gehört hatte Martin über sie inzwischen einiges: Konstanz, zur Hälfte vom Bodensee umspült, platzte zurzeit aus allen Nähten; die Besucher waren über die Stadt hergefallen wie ein biblischer Heuschreckenschwarm. Sie hausten in Hauseingängen, in Kellergewölben, in Ställen und unter Treppen, und wer eine Kammer ergattert hatte, musste sein Bett mit fremden Leuten teilen. Dreimal so viele Menschen, wie die Stadt Einwohner hatte, befanden sich derzeit hier. Die Zustände waren so schlimm, dass der Heilige Vater Johannes XXIII. mit der Abreise drohte, obwohl er in der geräumigen Bischofspfalz dem bequemen Leben frönte.

Als sie den Hafenort Meersburg erreichten, glaubte Martin im ersten Moment, am Ufer fände eine Hinrichtung statt, so sehr drängten die Menschen mitsamt ihren Fuhrwerken, Heukarren und Reusen dorthin. Sie kamen kaum einen Schritt voran. Pferde wieherten nervös, Frauen keiften, Kinder weinten, und Söldner und Händler brüllten sich an.

Sandro lenkte sein Pferd an Martins Seite. »Was für ein Getümmel. Es wird Stunden dauern, bis wir Plätze auf einem Fährschiff bekommen.«

Martin beobachtete eine Weile das Geschehen auf dem See. Die meisten Schiffe lagen an den Schiffsländen der umliegenden Orte, nur wenige glitten mit prallen Segeln auf dem Wasser, zwischen ihnen unzählige von Möwen begleitete Fischerboote. Eine weit ins Wasser ragende Landungsbrücke markierte den Konstanzer Hafen, doch keines der Schiffe lief sie an. »Es legen zwar Fährschiffe ab, aber nicht nach Konstanz, wie es aussieht. Weiß der Teufel, was das zu bedeuten hat. Ich habe das ungute Gefühl, dass wir heute Nacht noch nicht innerhalb der Stadtmauern schlafen werden.«

»Wie, du denkst schon an Schlaf? Martino! Was kümmert uns der Ort, wo wir schlafen, wenn die Tage so viel interessanter sein werden? Wir werden uns die Stadt so rasch wie möglich anschauen, si?«

Martin nickte. Auch er konnte es kaum erwarten, sich in dieses aufregende Leben zu stürzen, von dem die Welt derzeit voller Entsetzen und Faszination sprach. Hinter sich hörte er Rogatus aus dem Wagen rufen: »Was ist da los? Warum ist die Menge so aufgebracht? Wäre ich nur schon in unserem Quartier. Dieser Lärm hier verursacht mir Kopfschmerzen!«

Seufzend richtete sich Martin in den Steigbügeln auf. Ein Patrizier in feinstem Tuch kam mit ausgreifenden Schritten den Weg vom Hafen herauf, wobei er mit Gott und der Welt schimpfte. Hinter ihm liefen ein paar Knechte und Männer, die wie Schreiber aussahen. Martin sprang vom Pferd und ging ihm entgegen.

»Herr, auf ein Wort. Ihr seht aus, als wüsstet Ihr den Grund, weshalb keine Fährschiffe nach Konstanz ablegen.«

»Und ob ich das weiß!«, entgegnete der Mann gereizt. Er musterte Martin von Kopf bis Fuß, während er ein Spitzentaschentuch aus seinem seidengefütterten Tappert zog und sich die kahle Stirn tupfte. »Du bist anscheinend ein Söldner, den dein Herr vorgeschickt hat?«

»So ist es.«

»Du kannst ihm sagen, dass er einige Tage warten muss, wenn er Pech hat. Nicht einmal mich, ein Mitglied der Ravensburger Handelsgesellschaft, lässt man derzeit in die Stadt. Der Hafen ist abgesperrt, die Tore geschlossen. Und der Grund? Frag mich nicht, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass mich jeder Tag, den ich hier draußen unfreiwillig herumlungere, eine Menge Geld kostet. Gott zum Gruße.«

Der Gedanke, Rogatus diese Nachricht zu überbringen, erheiterte Martin, und er hatte nicht übel Lust, es einfach zu tun. »Gibt es keinen anderen Weg?«, rief er dem davoneilenden Kaufmann nach.

»Doch, natürlich. Aber was nützt das, wenn die Tore überall geschlossen sind?«

»Die bereiten mir jetzt weniger Kopfzerbrechen als das Problem, überhaupt ans andere Ufer zu kommen.«

»Na schön.« Der Kaufmann wandte sich zu ihm um. »Lasst euch nach Bottighofen übersetzen, den nächstgelegenen Ort südlich von Konstanz. Dann braucht ihr nur für eine halbe Stunde der Straße zu folgen, vorbei an einer Abtei und einem Siechenhaus. Wenn ihr die Aussätzigen hört, seid ihr vorm Kreuzlinger Tor. Aber dort seid ihr auch nicht besser dran.« Er ging weiter, seine Gefolgschaft mit sich ziehend, und fuhr fort, lauthals sein Schicksal zu beklagen. Dicht hinter sich hörte Martin die Stimme seines Bruders.

»Der ehrwürdige Abt wünscht heute noch in sein Quartier zu kommen. Das soll ich dir sagen.«

Martin fuhr herum. »Nicht dass er mich dafür angestellt hätte, die Tore zu öffnen!«, fauchte er Alban an. »Aber ich tue mein Bestes, wie du siehst. Richte ihm aus, dass wir einen anderen Weg nehmen werden.«

Er kehrte zu Sandro und seinem Pferd zurück, stieg auf und ritt am Wagen vorbei, ohne Rogatus eines Blickes zu würdigen. Der Trupp bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge, und Martin suchte, dem Rat des Kaufmanns folgend, ein Schiff, das sie nach Bottighofen brachte. Am späten Nachmittag gelangten sie ans Kreuzlinger Tor, vorbei an einem Galgen und dem Siechenhaus, vor dem die Aussätzigen klappernd auf sich aufmerksam machten. Wie es der Händler angekündigt hatte, war das Tor geschlossen. Auch hier hatten sich unzählige Menschen versammelt, die sich ärgerlich darüber beklagten, nicht in die Stadt zu dürfen. Die Brücke, die sich über den breiten Wassergraben spannte, erzitterte unter ihren Füßen. Als Martin sein Pferd mitten durch die wartende Menge trieb, folgten ihm wütende Flüche, und ab und zu musste er die Hand drohend auf den Schwertgriff legen, damit man ihm Platz machte. Ärgerlich bemerkte er, dass sein Bruder ihm gefolgt war. Vermutlich fürchtete Alban, dass er ohne Aufsicht einen Tumult anzetteln würde.

Unterhalb des Torturms saß Martin ab und klopfte an die geschlossene Sichtluke, die erst nach einigen Augenblicken aufschwang.

»Wann wird das Tor geöffnet?«

»Wissen wir nicht.« Der gereizte Tonfall des Wächters verriet, dass er diese Frage oft hatte beantworten müssen. »Auf Befehl von König Sigismund bleibt es auf unbestimmte Zeit geschlossen. Einige Tage wird es wohl dauern.«

»Aber das kann doch nicht für jeden gelten.« Wenn es Martin gelang, Rogatus durch das Tor zu bringen, würde dieser vielleicht seine Absicht ändern und den Sold nicht halbieren. »Mein Herr ist gekommen, um im Prozess gegen den Ketzer Johannes Hus auszusagen. Du siehst also, es ist äußerst dringlich.«

»Jeder hier hat etwas Dringendes zu erledigen. Und jeder meint, das ganze Konzil gerate aus den Fugen, wenn gerade er nicht in die Stadt kann. Selbst die Bauern mit ihren Strohfudern behaupten das. Und jetzt verschwinde.«

»Mein Herr ist aber kein Bauer, sondern der Abt des Klosters Steinreuth. Er hat einen an ihn persönlich ausgestellten Geleitbrief des Königs bei sich, der ihm bisher noch jedes Stadttor geöffnet hat.«

»Die Anordnung lautet, niemanden durchzulassen.« Doch der Wächter klang verunsichert. »Von Ausnahmen wurde uns nichts gesagt.«

»Der König wird nicht gewusst haben, dass sein Gast ausgerechnet in diesen Tagen eintrifft.« Der, so vermutete Martin, wusste trotz des Geleitbriefes nicht einmal, dass es diesen Abt gab. »Er wird vielleicht auch gedacht haben, dass die Torwächter klug genug sind, diese Ausnahmen zu erkennen.«

»Ach, du weißt also, was Sigismund denkt?«

»Nein.« Martin lächelte kühl. »Aber ich weiß, was mein Herr denkt, und sei versichert, er ist kein angenehmer Mensch. Falls er nicht augenblicklich eintreten darf, wird er erst mir den Kopf von den Schultern reißen, dann dir und anschließend dem König. Glaub mir, würdest du ihn kennen, würdest du keinen Augenblick daran zweifeln.«

Unvermittelt schlug der Mann die Klappe zu. Martin wartete geduldig. Nach einer Weile schwang sie wieder auf, und der Wächter nickte. »Ihr könnt passieren. Aber wartet noch eine halbe Stunde, ich muss Verstärkung holen, sonst drängt die Meute hinter euch herein, und dann kriegen wir das Tor nie mehr zu.«

Martin hob zum Dank die Hand und machte sich auf den Rückweg. Schweigend folgte Alban ihm. Martin war froh, dass sich sein Bruder zurückgehalten und ihm die Verhandlung überlassen hatte.

Zurück beim Tross, erklärte er, dass er den Weg in die Stadt geebnet hatte, was Rogatus ohne ein Wort der Anerkennung hinnahm. Bald darauf standen sie vorm Tor, eine brüllende Menge hinter sich. Unendlich langsam schwangen die Torflügel auf; dahinter achteten zwei Dutzend Stadtknechte darauf, dass außer dem Wagen und dem Trupp niemand hindurchkam. Hinter Martins Rücken schwoll das Geschrei an, die Stadtknechte brüllten Befehle, und dann schlug das Tor hinter ihnen zu.

Der Wächter forderte die Waffen der Söldner. »Bewaffnet sind hier nur die königlichen Leibwächter und Stadtknechte. Noch geht es hier friedlich zu, und das soll so bleiben.«

Martin befahl seinen Männern, Folge zu leisten. Er selbst befreite sich von der Pflicht, indem er seinen fast leeren Geldbeutel plünderte. Ohne eine Miene zu verziehen, ließ sich der Mann bestechen. »Steig vom Pferd, damit das Schwert von deinem Mantel verdeckt wird«, meinte er nur.

Martin gehorchte und führte den Schecken am Zaumzeug. Über eine gepflasterte Straße rumpelte der Wagen ins Innere der Stadt.

Der Gestank war schlimmer, als er es aus anderen Städten kannte, und auch der offenbar allgegenwärtige Lärm war gewöhnungsbedürftig. Überall an den Hauswänden standen Buden und Hütten und verengten die Wege, dazwischen spielten Kinder und rannten Hunde und Schweine. Konstanz schien ein einziger Jahrmarkt zu sein. Martin sah müßig dahinschlendernde Söldner, mit allerlei Waren bepackte Händler, Herren in farbenfrohen und mit Pelzen besetzten Tuchen, die vom Reichtum der Stadt zeugten, aber vor allem sah er Huren. Eine geradezu unüberschaubare Zahl von Huren, erkennbar an ihren gelben Kleidern oder wenigstens gelbem Aufputz. Keine ehrbare Frau würde diese Farbe tragen. Und als hätten sie lange Zeit in der Nähe des geschlossenen Tores auf Neuankömmlinge gewartet, näherten sie sich mit wiegenden Hüften dem Trupp.

»Wer seid denn ihr? Nicht einmal einem der Päpste hätte man geöffnet«, rief eine der Hübschlerinnen und blickte zu Sandro hoch, der sein breitestes Grinsen aufsetzte. »Dir öffne ich mich gern!«

Auch Martin war unfähig, angesichts dieser geballten Schamlosigkeit ernst zu bleiben. Die Frauen umschwirrten den Zug wie Motten das Licht, sie lachten und girrten und trieben den Abt in seinem Wagen vermutlich zur Weißglut. Eine Frau legte den Arm um Martins Mitte und drängte sich an ihn. »Später, später«, keuchte er. Während der Reise hatte er keine Gelegenheit gehabt, der Lust zu frönen, und so genügte ihre Hand auf seinem Gemächt, um ihm das Gefühl zu geben, in zu engen Kleidern zu stecken. Er schob sie von sich, um weiterzugehen, da sah er eine junge Frau dicht an den Häusern entlanggehen. Ihr dunkelgraues Kleid war schlicht geschnitten, ihr Gang wenig aufreizend. Unter einem lose geschlungenen Tuch schaute ein Zopf heraus, dunkelgolden wie die Schalen von Welschnüssen. Keine Hure, vielleicht eine Magd – trotz der schlichten Kleidung war sie von auffallendem Liebreiz. Das Gelächter der Söldner und Huren weckte ihre Aufmerksamkeit, denn sie hob den Kopf und schaute neugierig herüber.

Ihre Blicke trafen sich. Hastig senkte sie die Lider, sah ihn aber wieder an, und dann war sie fast schon an der lärmenden Gruppe vorbei, und Martin musste den Kopf drehen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Es freute ihn, dass auch sie sich zu ihm umwandte. Er wollte ihr zulächeln, aber da war sie hinter den Leibern der aufdringlichen Hübschlerinnen verschwunden.

»Träum nicht, Martino«, rief Sandro. »Hast du dir schon eine ausgesucht?«

»Nein. Halt die Finger still, denn solange wir nicht im Quartier sind, haben wir den Auftrag noch nicht erfüllt. Oder willst du, dass unser Herr uns die Pest an den Hals wünscht?«

»Hat er das nicht längst getan, dir zumindest? He, nicht so stürmisch!« Lachend schob Sandro eine fremde Hand fort, die sich unter sein knielanges Hemd zu schieben versuchte. »Warte hier, vielleicht kommen wir ja heute Abend zurück.«

»Ich warte immer, aber bis du kommst, hab ich vielleicht längst einen andern gewählt«, gab die Frau zurück. Noch einmal blickte Martin zurück, doch die schöne Unbekannte war längst fort. Stattdessen bemerkte er einen Novizen im Habit der Augustiner, der aus einer dunklen Gasse kam, sich die zerzausten Haare um die Tonsur zurechtzupfte und mit einem Kuss von einer Hübschlerin verabschiedete. Er wurde blass, als Martin ihn heranwinkte.

»Ich habe nichts gesehen.« Schmunzelnd hob Martin die Brauen. »Meine Bitte an dich ist nur, uns den Weg zu den Augustinern zu zeigen.«

Der junge Mönch atmete sichtlich erleichtert aus. »Gerne, Herr.«

Das Zeichen des Ketzers

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