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KAPITEL 8

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»Frau Fida, öffnet. Ich bin’s, Susanna!« Sie schlug die Faust gegen die Herbergstür. Ihr entging nicht, dass der Fremde jeden misstrauisch musterte, der vorüberkam. Er wirkte gehetzt, fast so, als wünsche er sich weit fort. Die Tür flog auf.

»Kind, ich dachte, du seist auf dem Weg nach Hause?« Frau Fida streckte ihren ergrauten Kopf heraus. »Und wen bringst du da ... bei allen Heiligen!« Sie machte ein Kreuz und trat zur Seite. »Kommt herein. Wie ist das passiert?«

»Ich wurde belästigt, und da stand er mir bei«, erwiderte Susanna.

»Ihr Heiligen«, murmelte Fida erneut, lief voraus und öffnete die Tür zu ihrer Wohnstube. Ein Tisch stand darin, davor eine Bank, auf die sie deutete. »Setzt Euch, Herr, ich hole etwas zum Verbinden. Susanna, warum hast du ihn nicht zu deinem Vater gebracht?«

»Bis auf die andere Rheinseite? Mit so einer Verletzung?«

»Ja, du hast ja recht.« Fida winkte den Mann heran. »Heraus aus den Sachen. Die lasse ich schnell sauber machen und flicken.«

Widerwillig ließ er den Mantel von den Schultern gleiten. Dann nahm er seinen Gürtel ab, an dem, wie es üblich war, ein kleiner Geldbeutel und ein Brotmesser hingen. Als er das bräunliche, an den Ellbogen geflickte Hemd über den Kopf zog, kam ein Dolchgürtel zum Vorschein. An der Schulter hatte er eine Tätowierung, zwei kleine rote Kreuze. Der ganze Kerl wirkte in seiner wuchtigen Größe fehl am Platz, und er fühlte sich sichtlich unwohl. Auf Susannas Wink hin warf er ein Bein über die Bank und setzte sich. Den Arm legte er auf den Tisch. Fida kehrte mit einer Schüssel heißen Wassers und sauberen Leinentüchern über dem Arm zurück. »Das mach du, Kind. Ich hole derweil etwas zu essen und zu trinken. Man sieht’s ihm an, dass ihm flau im Magen ist.« Sie marschierte hinaus. Susanna nahm eines der Tücher, tauchte es ins Wasser und säuberte die Wunde. Aus einer Truhe nahm sie mehrere Lederbeutelchen. Kräuterduft erfüllte den Raum. Sie rührte getrocknete Ringelblume zu einer Paste an, die sie ihm auftrug. Dann riss sie ein Tuch in Streifen und umwickelte damit seinen Arm.

Fida kehrte mit einem Krug, Brotfladen und Braten zurück. Sie stellte alles auf dem Tisch ab und füllte einen großen Becher mit Wein. »Ihr habt Stärkung nötig. Der ist vom guten Hohentwieler und nicht für gewöhnliche Gäste.«

»Ist das hier eine Herberge?«, fragte er.

»Aber ja. In Witwe Fida Pfisters Haus hat sogar der Magister Hus mit seinen Gefolgsleuten sein Quartier genommen.«

Bislang hatte er alles regungslos über sich ergehen lassen, doch nun stieß er mit bitterer Verachtung hervor: »Ich bin in einem Wyclifitennest gelandet!«

»Nicht so respektlos, guter Mann«, rief Fida. »Er war einer der angenehmsten Gäste, die ich je hatte, und er sorgte dafür, dass das Haus immer voll war. Andauernd lud er Leute in seine Kammer ein, und oft waren es so viele, dass sie draußen auf der Stiege hocken mussten.«

Widerwillig schüttelte er den Kopf. »Wozu denn das?«

»Er las Messen, hielt Vorträge, redete von Gott und der Kirche und dass das heute alles nicht so wäre, wie es vom Schöpfer vorgesehen sei. Seine Zuhörer waren immer durstig und tranken meine Weinfässer leer. In diesen paar Wochen hab ich viel verdient, aber dann kamen bewaffnete Männer und holten ihn ab. Seitdem ist’s wieder etwas ruhiger. Nur der Freiherr von Chlum, sein Schutzritter, der wohnt immer noch hier. Nun esst aber.«

Und schon rauschte sie wieder hinaus, denn sie hatte immer zu tun. Susanna war nicht wohl dabei, mit diesem Mann, der so sonnig aussah und so finster dreinschaute, allein zu sein.

Weit von ihm entfernt setzte sie sich ans andere Ende der Bank. Mit den Fingern zerrupfte er den Braten und verschlang ihn mitsamt dem Fladen, den die Gäste für gewöhnlich der Armenspeisung überließen. Ob der Becher guten Wein oder sauren enthielt, schien ihm gleich zu sein, so haltlos stürzte er den Inhalt hinunter. Als er fertig war, wischte er sich die Finger an den Beinlingen ab. Dann erst begutachtete er seinen Verband.

»Das hätte eigentlich vernäht werden sollen«, meinte Susanna.

Er zuckte mit den Schultern. »Eine hässliche Narbe mehr oder weniger.«

Wer zwei Finger verloren hatte, fand eine Narbe sicher nicht besonders dramatisch. Feine, hell schillernde Linien auf seiner Haut verrieten, dass ihm Auseinandersetzungen wie die mit dem Schwarzäugigen nicht fremd waren. »Woher kanntet Ihr den Mann?«

Er hob die gespreizte Hand vor sein Gesicht. »Ihm verdanke ich dies.«

»Er hat Euch das angetan? Heiliger Konrad! Wie ist das passiert?«

»Ich hasse diese Frage.« Er seufzte auf, und ihr lag schon eine Entschuldigung auf den Lippen, aber mit einem Mal kam wieder der heitere Mann zum Vorschein, den sie am Kreuzlinger Tor gesehen hatte. »Aber ich mag es gern, hübschen Frauen wie dir aus meinem bewegten Leben zu erzählen. Manchmal halten sie sich die Ohren zu, weil es keine feinen Geschichten sind, aber aufregend finden sie sie immer. Es geschah vor fünf Jahren in der Schlacht bei Grünwald. Hast du je davon gehört?«

»Nein.«

»Es war die größte Schlacht des deutschen Ritterordens, und die schlimmste. Ich kämpfte als weltlicher Ritter für den Hochmeister Ulrich von Jungingen, der uns gegen das polnisch-litauische Heer ins Verderben führte.«

»Nein! Ihr seid ein Ritter?«

Er nickte, ging aber nicht weiter darauf ein. »Die Schlacht dauerte fast den ganzen Tag, sodass mir in der schweren Rüstung irgendwann alle Glieder lahm wurden. Sogar das Pferd unter meinem Hintern tat mir weh. Ich verlor es, dann meinen Schild und hätte den Rückzug antreten müssen, aber das ging nicht, denn ich befand mich mitten in der feindlichen Linie und schwang mein Schwert nur noch, um mein nacktes Leben zu retten. Zu diesem Zeitpunkt war die Niederlage längst besiegelt.«

Er hielt inne, um sich nachzuschenken. Er schien es zu genießen, die Erzählung hinauszuzögern, und blinzelte ihr von der Seite zu.

»Da kam ein polnischer Söldner auf mich zu. Er war mir schon mehrmals an dem Tag aufgefallen, denn er kämpfte äußerst geschickt. Ich sagte mir, bevor du stirbst, wirst du den noch besiegen. Und griff ihn an. Er schrie mich von seinem Pferd aus an. Ich verstehe ein wenig Polnisch – er hatte mir seinen Namen genannt, Wladyslaw Korsz. Er sprang vom Pferd, um sich mir auf gleicher Höhe zu stellen. Wir kämpften sicherlich eine halbe Stunde, aber wie gesagt: Mein Schwertarm schmerzte schon von der Anstrengung. Sein Langschwert war eine Spur länger als meines, damit erwischte er irgendwann meine Finger. Nur halb, aber sie waren nicht mehr zu retten und mussten amputiert werden.«

»Es muss schrecklich gewesen sein«, murmelte sie.

»O ja, das war es. Leider bekam ich keine Gelegenheit mehr, es ihm heimzuzahlen, denn das Schlachtgetümmel riss uns auseinander, und der Blutverlust schwächte mich sehr. Wie ich hinter die rettende Linie kam, weiß ich nicht mehr, aber irgendwie habe ich es geschafft.« Er trank und ließ sich dabei reichlich Zeit.

»Und dann?«

»Dann fand ich mich irgendwo weit im Hinterland der Schlacht im Zelt eines Feldschers wieder. Ich lag auf einer Pritsche, die Rüstung trug ich noch. Mehrere Männer hielten mich fest, und einer streckte meinen Arm aus. Ich weiß nicht mehr genau, wie es vor sich ging, nur dass ich mich wehrte, schrie und ohnmächtig wurde, als die Säge angesetzt wurde.«

»Und dann?«, drängte sie.

»Nichts und dann.« Er stierte in den Becher. Doch nach einer Weile sprach er weiter. »Monatelang habe ich gehadert und nichts getan, außer in der Welt herumzuziehen und die Wut darüber, eine verkrüppelte Schwerthand zu haben, in Wein zu ertränken. Mit der Linken kann ich keine Waffe führen, sooft ich’s auch versucht habe.«

Darauf wusste sie nichts zu sagen. Sie ahnte, dass er diese Geschichte für gewöhnlich nicht mit diesem Schluss ausklingen ließ. In diesem Moment kam Fida mit den gesäuberten und geflickten Sachen. Rasch kleidete er sich an. Er hatte es eilig, aufzubrechen, und Susanna brachte ihn zur Tür. Kühler Abendwind wehte ins Haus.

»Ich danke Euch, Herr Martin«, sagte sie.

»Ach, das war doch nichts«, meinte er leichthin. Wieder ein Hauch des fröhlichen Mannes, selbstgefällig und stolz. Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob es an. »Behüte dich Gott, schöne Magd.«

»Euch auch.« Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, und sie wusste nicht, was es hervorlockte. Dieser honigfarbene Blick, den sie so schnell nicht vergessen würde? »Mir scheint, einer wie Ihr hat Gottes Beistand viel nötiger.«

Ein belustigtes Knurren entschlüpfte ihm. Er kniff ihr die Wange und trat auf die Straße. Sie hoffte, dass er sich noch einmal nach ihr umwandte, wie er es am Kreuzlinger Tor getan hatte, aber er tat es nicht.

***

Die Straße war noch immer belebt, obwohl es spät sein musste. Zahllose Gassenlaternchen irrlichterten durch die Dunkelheit. Martin verbarg seine Haare unter der Kapuze und schlug den Weg zum Kreuzlinger Tor ein. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass er die Flucht nicht mehr aufschieben durfte. Im Laufen überprüfte er den Inhalt seiner Geldkatze. Ein Gulden befand sich noch darin, den Rest hatte Sandro in Kleingeld eingetauscht. Wie lange würde das reichen? Schlafen konnte er unter freiem Himmel, aber er benötigte Proviant und, was am wichtigsten war, ein Pferd. Eines zu kaufen war unmöglich; irgendwann würde er Sandro darum bitten müssen, seinen Schecken aus dem Augustinerkloster zu holen.

Auf der Straße vor dem Tor war es ruhig. Enttäuscht sah er, dass es bereits geschlossen war. Es war ein Fehler gewesen, so lange in der Herberge zu sitzen und unnützes Zeug zu plaudern. Jetzt würde er die Nacht abwarten müssen. Er suchte sich auf einem Marktplatz eine dunkle Ecke zwischen den Hütten, hockte sich ins Stroh und versuchte, ein wenig zu schlafen. Doch so schnell ging ihm das Mädchen nicht aus dem Sinn. Hübsch war sie, ja, mit ihrem kleinen Mund, dem eckigen Kinn und dem prallen Zopf in der Farbe von Welschnüssen. Aber er hatte viele hübsche Weiber gesehen, und zwar mehr als nur ihre Münder. Was war an ihr anders? Er konnte es nicht benennen. So bereitwillig wie ihr hatte er noch keiner von seiner verfluchten Hand erzählt.

Dass Wladyslaw Korsz hier war, fand er nicht weiter erstaunlich. Auch der war ein Söldner, und die waren ja derzeit in Konstanz fast so zahlreich wie Hübschlerinnen und Konzilteilnehmer. Wen mochte er begleitet haben? Einen polnischen Prälaten? Oder jemanden aus Prag, der ebenfalls gegen den Ketzer aussagen wollte? Kaum einer vermochte das Schwert mit solcher Wucht zu schwingen wie sein alter Gegner, und es war Glück gewesen, ihm Susanna so leicht entrissen zu haben. Die Rache für Grünwald würde ihm wohl auf ewig verwehrt bleiben.

Fünf Jahre, dachte Martin und ballte die Hand. Auch nach fünf Jahren spürte er noch den Augenblick, als die Klinge hindurchgejagt war. Manchmal fühlte es sich an, als seien die Finger noch da, und dann schlug er mit der Faust dorthin, wo sie gewesen waren, im verzweifelten Versuch, den Schmerz zum Verstummen zu bringen.

Schritte ließen ihn hochschrecken. Eine Gruppe von Männern ging über die Straße. Zwei von ihnen trugen Fackeln, dahinter schritt ein Mann in einem pelzverbrämten Tasselmantel. Goldschmuck blitzte an seinen Fingern auf. Die Männer in seinem Gefolge trugen einfache, dunkle Mäntel, Gugeln auf den Schultern und Armbrüste. Ein Adliger mit seiner Leibwache. Martin kam auf den aberwitzigen Gedanken, einfach hinter sie zu treten und so zu tun, als gehöre er dazu.

Einer der Torflügel schwang auf. Die kleine Gruppe trat hindurch; die beiden Wächter begannen das Tor wieder zu schließen. Martin beschleunigte seinen Schritt. Da hörte er hinter sich einen Befehl.

»Bleib stehen!«

Seine Hand, fast schon am Dolch, erstarrte, als er das Klicken einer sich spannenden Armbrust hörte. Stadtknechte oder seine eigenen Männer – wer auch immer, sie hatten ihn gefunden.

»Lauf besser nicht weg, sonst hast du einen Bolzen im Nacken.« Die Stimme war vielleicht fünf oder sechs Schritte entfernt. »Und jetzt dreh dich langsam um.«

Martin gehorchte. Tatsächlich waren es drei Stadtknechte, ihre Waffenröcke trugen die Konstanzer Farben, Schwarz und Weiß. Zwei hatten die Hände an den Schwertgriffen, der dritte zielte mit der Armbrust auf ihn. Seine Gedanken rasten. Was sollte er tun? Einem Armbrustbolzen konnte man kaum ausweichen.

Er warf sich zu Boden, rollte herum und hörte einen Fingerbreit neben seinem Ohr den Bolzen zwischen die Pflastersteine schlagen.

»Nicht schießen!«, rief einer der Männer. »Bist du irre, Mann?«

Rogatus wollte ihn also lebend. Aber so einfach würde er es seinen Häschern nicht machen. Er sprang auf die Füße und bog in eine der dunklen Seitengassen ein. Hier sah er kaum die Hand vor den Augen. Seine Füße versanken in stinkendem Unrat. Er musste Bergen von Abfall ausweichen, trat auf Schlafende, die ihm laut hinterherfluchten, und hastete dem Ende der Gasse entgegen, die in eine breitere Straße mündete.

Abgeschüttelt hatte er die Knechte jedoch nicht.

Sollte er sich in einer der Hütten verstecken? Eines der Häuser zu öffnen versuchen? Das alles war zu gewagt, sie würden ihm einen Bolzen in den Nacken jagen, wenn es ihm misslang. Er rannte in eine weitere Gasse, doch diesmal sprang er auf eine der Hütten, zog sich an einem Fenster des dahinterliegenden Hauses hoch und schwang sich aufs Dach. Aber er hatte kein Glück, sie hatten es bemerkt und blieben ihm auf den Fersen. Er musste die Flucht über die Dächer fortsetzen.

Zu seiner Verwunderung fingen die Männer an zu streiten, ob sie ihm weiter nachsetzen sollten. Sie wurden langsamer, und er glaubte schon, es schaffen zu können. Er sprang aufs nächste Hausdach, von dort auf das Dach einer kleinen Kate und krachte hindurch. Die Zeit, sich aufzurappeln, blieb nicht mehr. Er rollte sich auf den Rücken. Als er die gespannte Armbrust und dahinter die Köpfe seiner Verfolger am Rand des Loches auftauchen sah, hob er die Hände, um ihnen zu zeigen, dass er sich ergab.

Die Männer sprangen in die Kate. Der Bolzen zeigte auf sein Herz. Angriffsbereit neigte sich der Anführer vor und legte die Hand um den Griff seines Schwertes, zog es aber nicht.

»Runter mit der Kapuze«, befahl er. Martin streifte sie zurück.

»Sagte ich es nicht?«, rief der mit der Armbrust. »Der alte Cossa könnte doch nie so laufen. Der Papst ist der da jedenfalls nicht.«

»Der Papst? Ich?« Martin stemmte sich auf die Ellbogen. »Seid ihr noch bei Trost?«

»Hüte deine Zunge«, zischte der Anführer. »Warum bist du weggelaufen?«

Grimmig stieß Martin den Stiefel auf den Boden. »Da ich offenbar nicht der Papst bin, geht’s dich wohl nichts an, oder? Du würdest auch abhauen, wenn jemand plötzlich eine gespannte Armbrust auf dich richten würde.«

»Dein Ton gefällt mir nicht«, erwiderte der Mann mit finsterem Blick. »Wer nichts auf dem Kerbholz hat, rennt nicht weg.«

»Ach, zum Teufel mit dir!« Martin sprang auf die Füße. Wütend presste der Anführer die Lippen zusammen und schien zu überlegen, ob er die Sache auf sich beruhen lassen sollte. Schließlich bedeutete er seinen Leuten, ihm zu folgen, und trat aus der Hütte. Der Armbruster entspannte seine Waffe, und dann waren sie fort.

Wie waren die Männer nur auf den Gedanken gekommen, er könne einer der Päpste sein? Lächerlich, dachte Martin, verärgert darüber, sich wegen eines Hirngespinsts die Lunge aus dem Leib gerannt zu haben. Er trat auf die Straße, sah sich vorsichtig um, aber sie waren fort. Wo sollte er jetzt hin? Heute würde er ganz sicher nicht noch einmal versuchen, es durch das Tor zu schaffen. Sollte er zum Haus der Pfisterin zurückkehren? Nein, er wollte nicht noch einmal Susannas liebliches Gesicht sehen. Nicht, wenn er dann doch wieder Abschied von ihr nehmen musste.

Er betrat ein Gasthaus, setzte sich in die hinterste Ecke und leistete sich ein Bier. Als der Morgen graute, ging er weiter und erkannte irgendwann die Gasse wieder, in der Helenes Hütte stand. Mittlerweile war er so müde, dass ihm ihr warmes Strohpolster der verlockendste Platz der Welt zu sein schien. Die Flucht musste noch einen Tag warten. Er hob den Vorhang der Hütte an. Ein feister Mönch lag über der Hure. »Domine in adiutorium meum intende. Domine, Domine«, zischte er zwischen seinen Stößen, als wolle er gleichzeitig seine Sünde wegbeten.

»Den Herrn kannst du auch hier draußen anrufen.« An der Kapuze zerrte Martin ihn auf die Straße. Erbost schnappte der Mönch nach Luft und riss den Mund auf. Doch der Protestschrei blieb angesichts der Faust, die drohend vor seiner Nase schwebte, aus. Der Mönch hastete mit gerafftem Gewand davon. Martin schob sich in die Hütte und ließ sich neben Helene fallen. Sie hatte sich aufgesetzt und warf sich in einer zornigen Geste den Rock über den Unterleib.

»Wie kannst du es wagen! Wer meine Hütte betritt, entscheide ich allein!« Dann erst erkannte sie ihn. »Was, du? Ich dachte, du wolltest fort. Oder willst du hier jetzt auf ewig hausen?«

»Ich will nur schlafen.« Er drehte ihr den Rücken zu. »Morgen bin ich wirklich weg, ich verspreche es. Und jetzt hör auf mit dem Gezeter.«

Er spürte ihre Hand an seinem Arm. Sie zog den Ärmel hoch und berührte den Verband. »Das hattest du gestern noch nicht«, murmelte sie. »Gott gebe, dass du morgen wirklich verschwunden bist.«

***

Wäre der Anlass weniger schlimm, so hätte Alban der Anblick der aufgeregten Mönche erheitert. Niemand kümmerte sich um das Schweigegebot. Die Augustiner hasteten durch die Gänge, steckten die Köpfe zusammen und schafften es kaum, ihre Stimmen zu senken.

Alban saß im Kreuzgang auf einer steinernen Bank und versuchte, ihren Gesprächen zu lauschen. Bei der Matutin waren noch alle ruhig gewesen, doch bei Morgengrauen hatte einer nach dem anderen angefangen, wie ein aufgescheuchtes Huhn herumzulaufen und das Gerücht zum nächsten Ohr zu tragen.

»Der Papst ist geflohen«, hatte schließlich jemand auch in sein Ohr geflüstert. »Mitten in der Nacht! Der König ist außer sich vor Wut, und in der Stadt brodelt es schlimmer als je zuvor.«

Balthasar Cossa, genannt Johannes XXIII., hatte also seine Felle wegschwimmen sehen und gehandelt. Offenbar hatte er nicht die Absicht, kampflos auf den Stuhl Petri zu verzichten.

»Was mag der alte Seeräuber vorhaben?«, fragte eine heisere Stimme neben ihm. Alban sah auf. Es war der Prior.

»Weiß man überhaupt, wie er es geschafft hat, zu fliehen?«

»Oh, durchaus.« Lukas ließ sich neben ihm auf die Bank nieder. Durch den dünnen Kranz seiner weißen Haare fuhr der Wind; es sah aus, als loderten kleine weiße Flammen. Gedankenverloren blickte er in den Himmel und bewegte den Zeigefinger hin und her. »Der eine redet dies, der andere das ... Man muss nur die Ohren offen halten, so schwierig ist das nicht.« Mit einem Mal kicherte er. »Pater Alban, hast du von dem Turnier gehört?«

»Nur, dass es eines gab.«

»Der Österreicher, des Papstes treuster Gefolgsmann, ist vom Pferd gefallen. Ich wette, er hat das mit Absicht getan, um rechtzeitig in der Bischofspfalz dem alten Cossa die Stiefel schnüren zu können. Der König muss von Cossas Fluchtplänen gewusst haben, denn am Abend vor der Flucht hat er ihn aufgesucht. Es heißt, der Papst habe sich ins Bett geflüchtet, die Decke bis ans Kinn gezogen und behauptet, er sei krank, vergiftet von der Konstanzer Stadtluft. Der König hat ihn gefragt, ob er fliehen wolle, und der alte Hund hat’s abgestritten.«

Alban lauschte gebannt. Die Geschichte klang doch zu aufregend, auch wenn ihn die lose Wortwahl des Priors erstaunte. Lukas redete munter weiter. »Um Mitternacht soll dann der Österreicher durchs Kreuzlinger Tor gegangen sein, angeblich hätten ihn dringende Geschäfte fortgerufen. Bei sich hatte er ein paar Knappen, und einer von denen war Cossa. Sie liefen nach Kreuzlingen und ritten von dort aus weiter. Ein paar Stadtbüttel verfolgten sie, jedoch ohne Erfolg. Wer weiß, vielleicht hatten sie sogar den Befehl, die Verfolgung nur vorzutäuschen, denn auch wenn der König sich über die Nachricht wie toll gebärdete, dürfte ihm das Verschwinden des Papstes gelegen kommen. Er wollte der Herr über das Konzil sein, und jetzt ist er es.«

»Und wo ist der Papst jetzt? Auf dem Weg zurück nach Pisa?«

»Was soll er denn in Pisa? Er wird ganz in der Nähe hocken, wahrscheinlich in Schaffhausen, denn das gehört Friedrich von Österreich.«

Alban musste sich überwinden, die Frage zu stellen, die ihm schon seit dem Morgen unter den Nägeln brannte. »Ehrwürdiger Prior ...«

»Ja?«

»Wie, glaubt Ihr, wirkt sich die Flucht auf den Prozess gegen den Magister Hus aus?«

Lukas neigte sich vor, um ihm in die Augen zu blicken. »Höre ich da Sorge aus deiner Stimme heraus, Pater Alban? Sorge für diesen Häretiker?«

Alban räusperte sich und hoffte, nicht zu erröten. »Ach, nur die Sorge für seine fehlgeleitete Seele. Aber die Antwort darauf wäre schon interessant.«

»Oh, da hast du natürlich recht.« Der Prior lehnte sich wieder zurück, versank in Schweigen und sagte dann: »Beide, Papst und König, hatten ihm zugesagt, ihn zu schützen. Was der König tat, nichts nämlich, wissen wir ja. Er will die böhmische Krone seines kinderlosen Bruders beerben. Und da kann er die Unruhe, die der Ketzer mit seinen Lehren in Böhmen entfacht hat, nicht brauchen. Es wäre in seinem Sinne, wenn Hus den ganzen Unsinn, den er erzählt, widerruft und das Thema damit vom Tisch ist.«

»Wie wahrscheinlich ist es denn, dass er widerruft?«

»Das weiß ich nicht. Er scheint schon ein gehöriger Sturkopf zu sein, der Magister. Der Papst, ja, der hätte noch etwas für ihn tun können und war vielleicht sogar gewillt dazu. Aber nun ist er fort, und Hus steht ganz ohne Schutz da.«

Das war es, was Alban zu hören befürchtet hatte. Da er Angst hatte, seine Bestürzung nicht länger vor Lukas verbergen zu können, stand er eilig auf und entschuldigte sich. Tief in sich versunken ging er den Kreuzgang entlang, vorbei an Verkaufstischen, die Konstanzer Händler hier aufgestellt hatten, um mit den weltlichen Gästen ins Geschäft zu kommen. Er hatte genug von dem allgegenwärtigen Geplapper und Getuschel und überlegte, ob er sich in seine Zelle zurückziehen sollte. Doch dort war es klamm und stickig. Sollte er nach dem Abt sehen? Nein, er war erst vor kurzem bei ihm gewesen, hatte die Frühmesse zelebriert und ihm die Kommunion gegeben.

Alban betrat das Skriptorium. Niemand war hier. In seine Nase drang der altbekannte Geruch von Papier und Pergamenten. Hier zu sein schmerzte ihn, auch wenn es ohne den Atem des Abtes in seinem Nacken leichter zu ertragen war. Gerüche bargen mehr als alles andere den Schmerz der Erinnerung. Tief sog er die Luft ein, unterdrückte den Schauer, der seinen Rücken hinabrieselte, und schüttelte den Kopf. Er schlenderte zwischen den Pulten hindurch, ließ seine Finger vorsichtig über Buchrücken gleiten und wünschte sich, ein einfacher Skriptor zu sein – kein Priestermönch, der täglich sein Missale Romanum lesen, anderen die Beichte abnehmen und all das tun musste, was eine Priesterweihe mit sich brachte. Er schlug einige Bücher auf, las hier und dort ein wenig: die Schriften des Augustinus, Thomas von Aquin, Albertus Magnus. Heilige Männer, untadelig, unbeschmutzt.

Er sah eine aufgeschlagene Bibel. Eine winzige Gestalt bildete den ersten Buchstaben des Johannesevangeliums, das noch nicht abgeschrieben war: ein sitzender Mann, auf dem Schoß eine Schriftrolle. In principio erat Verbum ... Alban sah sich die Worte schreiben, sah sich eine andere Figur zeichnen, eine schönere, farbenfrohere, erhabenere. Er konnte es besser. Und es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er das bewiesen. Heute kritzelte er irgendwelche Notizen in ein abgenutztes Kräuterbüchlein und ermahnte sich ständig, damit zufrieden zu sein. Wer mochte wissen, wie lange die aufwändigen und kostbaren Werke überdauerten? Wie oft geriet ein Tintenfass außer Kontrolle und zerstörte die Arbeit, wie oft brannte es in einem Skriptorium ... Er nahm das Blatt zwischen seine Finger und stellte sich vor, wie er es herausriss. Es wäre kein Verlust, denn die Zeichnung war schlecht!

Mit einem Aufstöhnen sank er auf die Knie. Was tat er hier? Er bejammerte die bedeutungslose Tatsache, dass sein Talent brachlag, während ein wahrhaft ehrbarer Mann, ein so viel wichtigerer als er, da draußen im Dominikanerkloster in einer Zelle hockte und vielleicht in diesem Augenblick an einer Verteidigungsrede schrieb, von der sein Leben abhing. Alban hob die gefalteten Hände, um Gott um Vergebung für sein armseliges Selbstmitleid zu bitten.

Das Zeichen des Ketzers

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