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KAPITEL 5

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Irgendwann in der Nacht erwachte Martin, immer noch an die Wand gelehnt. Wenige Schritte entfernt lag Sandro im Stroh ausgestreckt. Er roch nach Wein; seine Bruche war nachlässig verschnürt. Also hatte er sein Ziel erreicht und in der Stadt eine willige Frau gefunden. Am Stalltor brannte eine Öllampe, in deren Licht einige Männer hockten und sich leise unterhielten. Das Tor stand offen, ab und zu tauchte ein schwarzgekleideter Mann im Lichtschein auf. Martin vermutete, dass es irgendwann nach der Matutin war. Es würde noch zwei oder drei Stunden dauern, bis Alban kam. Mit einem Mal fühlte er sich hellwach, dabei hatte er gehofft, diese enttäuschende erste Nacht einfach zu verschlafen. Sollte er Sandro wecken und ihn bitten, ihm von seinen Erlebnissen in der Stadt zu erzählen? Nein, das würde seine Laune nicht bessern.

Pater Albrecht kam ihm in den Sinn. Dieser kluge alte Mann hatte ihm prophezeit, dass es Schwierigkeiten geben würde, allerdings hätte selbst er wohl nicht gedacht, wie bald. Martin nahm die silberne Kette vom Hals, an der jener Anhänger hing, den zu tragen der Pater ihn so eindringlich ermahnt hatte. Es war ein winziger, zapfenförmiger Silberbehälter, der sich in der Mitte aufschrauben ließ. Er tat es und schüttelte den Inhalt auf seine Handfläche – einen winzigen Holzsplitter. Erworben hatte er ihn in der Grabeskirche zu Jerusalem; es war das einzige Andenken, das er für sich gekauft hatte und nicht für seinen Auftraggeber. Diesem hatte er viele wunderliche Dinge mitgebracht: einen Stein vom Ölberg, einen Olivenzweig aus dem Garten Gethsemane, Rosenkränze aus der Grabeskirche, Fläschchen mit Jordanwasser. Und sogar einen Dorn, von dem es hieß, er stamme aus der Dornenkrone.

Dieser Splitter jedoch gehörte ihm. Er hatte noch in Jerusalem diesen Anhänger dafür anfertigen lassen, seitdem trug er die Kette bei sich. Natürlich wusste er, dass die Herkunft des Splitters nicht gesichert war. Seit Jahrhunderten pilgerten Menschen ins Heilige Land und kauften Holzstückchen vom Kreuz Jesu und solche Dinge, sie konnten unmöglich alle echt sein. Aber er hatte den Verkäufer seines Splitters sehr sorgsam ausgewählt, und die Beteuerungen der Echtheit hatten glaubwürdig geklungen.

Er besah sich den Inhalt seines Anhängers selten, aber wenn er es tat, hielt er den Atem an, damit der winzige Splitter nicht versehentlich fortwehte. Mit allergrößter Vorsicht legte er ihn in sein Behältnis zurück und verschloss es. Dann küsste er den Anhänger und hängte ihn sich wieder um. Der Zapfen fühlte sich gut auf der Haut an, er fühlte sich richtig an.

Und doch war da eine bohrende Stimme in seinem Kopf, die ihn verhöhnte. War er es überhaupt wert, diesen Splitter zu besitzen? Was war er denn für ein Mensch? Nein, sein Schwert oder seine Füße für Geld zu verkaufen, fand er nicht unehrenhaft. Aber was machte ihn sonst aus? Er hatte die Burg seines Vaters verkommen lassen, ohne wirklich zu begreifen, wie er das geschafft hatte. Er trank, hurte und ging selten in die Kirche. Das Verhältnis zu seinem Bruder war von tiefster Abneigung geprägt. Wie man Frauen für eine Nacht betörte, wusste er wohl. Aber wie ließ sich die Leere danach füllen? Wie fühlte es sich an, eine Frau zu lieben? Nicht nur für eine Nacht, sondern, wie Pater Albrecht es geraten hatte, für immer?

Warum denke ich gerade jetzt über diese Dinge nach?, fragte er sich verdrossen, lehnte den Kopf an die Bretterwand und versuchte weiterzuschlafen. Aber wieder hatte er Alban vor Augen, wie er am Stalltor stand, das schlechte Gewissen im hageren Gesicht.

Er stand auf und schlüpfte in seinen Mantel. Die Luft war klar und kühl, die Nacht schwarz, denn es war Neumond. Ein Mönch kreuzte seinen Weg, eine Lampe vor sich haltend, und bog auf den Weg zur Abtei ein. Martin schloss sich ihm an und betrat das Gebäude.

Schweigend und den Blick fest auf den Boden geheftet, zogen die Mönche ihrer frühmorgendlichen Wege. Es waren nur wenige, und sie störten sich nicht an seiner Anwesenheit. Im Kreuzgang hockte er sich auf eine steinerne Bank und sah einem jungen Novizen zu, wie dieser die Lampen entzündete, die von den Arkadenbögen hingen.

»Kann ich Euch helfen?«, fragte der Novize.

»Ich suchte Rogatus von Steinreuth.«

Nach kurzem Nachdenken erhellte sich die Miene des jungen Mönches. »Ihr meint den Abt, der so leicht aufbraust! Aber wer seid Ihr, dass Ihr zu ihm wollt?«

»Der Anführer seines Söldnertrupps«, antwortete Martin. Der Junge zögerte, offenbar fragte er sich, was es für einen Grund geben konnte, seinen Auftraggeber so früh am Morgen aufzusuchen. Martin beschloss, einfach bei der Wahrheit zu bleiben. »Ich will meinen Sold holen.«

»Wollt Ihr das nicht lieber nach der Laudes tun?«

»Nein.«

»Es tut mir leid, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich Euch sagen darf, welche Zelle er hat. Bitte kommt später wieder.«

Martin setzte eine ernste Miene auf. »Ich sah heute einen Novizen bei einer Hure. Du könntest es gewesen sein.«

Der Junge schüttelte den Kopf. Er war es nicht, dennoch errötete er. »Thomas von Aquin sagt, je größer die Begierde ist, die einen übermannt, desto geringer ist die Schuld. Ich bitte Euch, über solche Dinge zu schweigen.«

»Natürlich. Wo finde ich den Abt?«

»Genügt es, wenn ich es Euch erkläre? Ich muss hier meinen Pflichten nachkommen und bin schon spät dran.«

Ungeduldig hörte Martin seinen Ausführungen zu und machte sich auf den Weg. Er kam an einem großen Raum vorbei, in dem Schreibpulte standen, folgte einem schmalen Gang und gelangte in einen abgelegenen Trakt, in dem es roch, als sei die Latrine nicht weit. Eine einsame Wandlampe erhellte die düsteren Türen nur schwach. Nie hatte Martin verstanden, was es war, das seinen Bruder ins Kloster gezogen hatte, und er würde es wohl nie verstehen. Die Lust am Lesen und Schreiben, das sicherlich. Aber was sonst? Er wusste so wenig über ihn.

Die meisten Kammern waren verschlossen, bis auf zwei, die eher wie Lagerräume wirkten. War er wirklich auf dem richtigen Weg? Doch da hörte er hinter einer der Türen ein Schnarchen. Wahrhaftig, hier waren Gäste einquartiert.

Die letzte Zelle rechts, hatte der Novize gesagt. Unter der Tür jener Zelle floss gedämpfter Lichtschein auf den Gang. Martin ging darauf zu und hob die Faust, um anzuklopfen, aber etwas hielt ihn davon ab. Ein Geräusch? Seine Finger berührten das Holz der Tür, wie alles hier kalt und abweisend. Diese Tür war nicht verschlossen. Langsam drückte er sie auf. Das Holz knarrte nicht. Er hätte es ohnehin kaum wahrgenommen, denn das, was er dahinter zu sehen bekam, zerrte an seinem Verstand. Er starrte in die Kammer, fassungslos und zutiefst entsetzt.

Sie war klein, besaß aber ein gemauertes Podest, auf dem eine Matratze und Decken lagen. Eine Kerze flackerte im Luftzug und tauchte die beiden nackten Männer darauf in ihren bleichen Schein. Es erschütterte Martin nicht so sehr, zwei Mönche zu sehen, die es miteinander trieben. Dass so etwas vorkam, hörte man hin und wieder. Vielmehr entsetzte ihn, dass der eine der beiden Ordensbrüder – der Abt – dem anderen seinen Willen aufzwang. Und dieser andere war Alban.

Rogatus kniete hinter ihm. Albans Hände, die auf dem Rücken gefesselt waren, öffneten und schlossen sich krampfhaft im Takt der Stöße. Sein Oberkörper war vorgebeugt, sein schmerzverzerrtes Gesicht in Schweiß gebadet. Er hatte die Zähne zusammengebissen, sodass sie knirschten. Seine Schultern zitterten vor Anstrengung, es zu ertragen. Rogatus atmete keuchend. Seine Augen waren geschlossen, während er sich seiner ekelhaften Lust hingab.

All das nahm Martin während der Dauer zweier Herzschläge wahr, dann stürmte er in die Kammer. Zischend glitt sein Schwert aus der Scheide. Noch im Laufen beschrieb er mit der Klinge einen Bogen und ließ sie zwischen den schweißfeuchten Körpern niedersausen. Ein furchterregender Schrei aus der Kehle des Abtes hallte von den Wänden wider. Seine Augen schienen aus ihren Höhlen zu quellen. Seine Lippen bewegten sich, als versuche er zu fragen, was geschehen war. Dann sackte er zur Seite und rührte sich nicht mehr. Das Schwert entglitt Martins Hand. Klirrend fiel es zu Boden.

Alban war nach vorne gefallen, hatte die Knie angezogen und das Gesicht darin vergraben.

»O Gott, Martin, was tust du hier?«, flüsterte er. Martin zerrte ihn von dem Podest herunter. Mit dem Dolch, den er an einem zweiten Gürtel verborgen unter dem Hemd trug, durchtrennte er Albans Fesseln und warf ihm das Gewand über die Schulter.

»Zieh dich an.«

Gekrümmt stand Alban da, hielt seine Tunika an die Brust gepresst und rührte sich nicht. Er starrte auf die blutige Klinge. »Weshalb hast du ein Schwert? Du hättest es am Stadttor abgeben müssen.«

»Das ist doch jetzt egal. Mach schon! Oder willst du warten, bis das ganze Kloster aufgewacht ist?«

»Es ist dir verboten, innerhalb der Stadt eine Waffe zu tragen«, beharrte Alban mit zittriger Stimme, als habe er nicht begriffen, was geschehen war. Sein Blick irrte zwischen Martin und dem Leib des Abtes hin und her. Martin jedoch hatte genug gesehen, er packte seinen Bruder an den Schultern und schob ihn hinaus auf den Gang. Dort überließ er ihn sich selbst und rannte den Weg zurück, den er gekommen war.

***

Alban hastete den Korridor entlang, ohne zu wissen, wohin. Wo war er? Wo seine Zelle? Er hatte jede Orientierung verloren, und ihm war speiübel. Was war geschehen? Er wusste nur, dass er aus den Augenwinkeln eine Schwertklinge hatte aufblitzen sehen. War der Abt tot? In einer leerstehenden Zelle übergab er sich und wankte weiter. Endlich fand er die halbgeöffnete Tür seiner Zelle; mit letzter Kraft rettete er sich hinein, verriegelte die Tür und sank auf die Knie.

Seine Gedanken überstürzten sich. Furcht erfasste ihn, dass er für Martins Tat belangt werden würde; zugleich war er erfüllt von Genugtuung, den Abt bestraft zu wissen. Doch die Scham überwog all dies. Wie oft hatte er auf seinen Bruder herabgesehen, hatte ihn spüren lassen, dass er in ihm nur einen Herumtreiber sah, der außer Saufen und Kämpfen nichts im Kopf hatte? Und was war er? Die Hure seines Abtes, der ihm seinen Willen aufzwang, wie es ihm beliebte. Martin hielt diesen Vorfall vermutlich für einmalig, aber so war es nicht. Der Abt hatte Alban schon vor langer Zeit mit seinem Wissen erpresst, dass dieser ein Anhänger der wyclifitischen Lehren war, und ihn so auf sein Lager gezwungen. Seitdem hatte Alban die Sünde der Unzucht mit ihm begehen müssen, und jedes Mal war es ein Gang durch die Hölle gewesen. Zu Gott hatte er gebetet, ihn nächtelang auf Knien angefleht, diesem schändlichen Treiben ein Ende zu bereiten.

Nun war das Ende gekommen. Und herbeigeführt hatte es Martin. Ausgerechnet Martin.

Ein Mann der Tat, nicht des Wortes, kam ihm die Äußerung seines Herrn in den Sinn.

Wo war Martin jetzt? War er geflohen? Oder befand er sich noch innerhalb der Klostermauern? Alban lauschte auf Schritte, Rufe, irgendetwas, aber nichts war zu hören. Doch da, ein Schrei. Er begann wieder zu zittern, als ihm bewusst wurde, wen die Brüder rufen würden, sobald sie den Abt fanden. Er legte die Hände auf die Ohren, doch es half nichts; er hörte die schnellen Schritte auf dem Gang, das angsterfüllte Flüstern und das Hämmern an seine Tür. Verzweifelt presste er die Lider zusammen, aber ihm war klar, er musste öffnen. Er stand auf, zog sich die Tunika über und griff nach dem Riegel. Erst in diesem Moment erinnerte er sich an die Fesseln um seine Handgelenke. »Was ... was ist denn?«, rief er, während er sie abzustreifen versuchte, doch sie saßen fest.

»Bruder Alban, schnell, etwas Entsetzliches ist geschehen!«

Er schob den Riegel zurück und verbarg die Hände in den Ärmeln, als sei er ins Gebet versunken. Ein Augustiner öffnete und deutete aufgeregt hinter sich.

»Der Abt Rogatus ... Schreckliches, wahrhaft Schreckliches ist in seiner Zelle vorgefallen. Ein Teufel muss ihn heimgesucht haben.«

Alban schluckte und räusperte sich. »Ich komme.«

»Ja, Bruder.« Der Mönch schien sich zu wundern, dass er nicht sofort aus dem Zimmer stürmte, zog sich aber zurück. Alban versuchte, die Lederschnüre mit den Zähnen durchzubeißen, doch es gelang nicht. Ärger auf Martin wallte in ihm hoch. Warum hatte er ihm nicht die Fesseln entfernt, statt sie nur zu durchschneiden? Endlich besann er sich auf sein kleines Brotmesser, das er wie jeder Benediktiner an seinem Zingulum zu tragen pflegte. Rasch nahm er es aus seiner Reisekiste und sägte an den Lederschnüren, bis sie nachgaben. Dann warf er sie mitsamt dem Messer in die Kiste, streifte seine Kukulle über und verließ die Zelle. Während er den Korridor entlangging, rieb er die verräterischen Male an seinen Handgelenken und wappnete sich gegen das, was ihn in der Zelle seines Herrn erwartete.

Drei Mönche standen vor der Tür und spähten hinein. Als er sich näherte, wandten sie sich um und machten ihm Platz. Bleich waren sie, als hätten sie wahrhaftig den Teufel erblickt. In der Zelle hatten sich weitere Ordensbrüder versammelt, tuschelten erregt miteinander und hantierten mit blutdurchtränkten Stofflappen. Einer der Mönche hob soeben Martins Schwert auf, wickelte ein Stück Stoff darum und trug es in der ausgestreckten Hand fort, wobei er verkündete, es vergraben zu wollen.

Alban blieb im Türrahmen stehen, unfähig, sich zu rühren. Jesus Christus, steh mir bei, dachte er. Schließlich räusperte er sich. Einer der Mönche drehte sich um.

»Bruder Alban?«

»Ja.«

»Gut, dass du da bist. Tritt näher, sieh dir den Abt an. Wir haben nur Glück, dass Bruder Georg, unser Wundchirurg, so schnell herkam. Die Wunde muss schnellstens ausgebrannt werden, denn Abt Rogatus hat viel Blut verloren. Verliert es immer noch.«

Widerstrebend trat Alban näher. Rogatus lag auf dem Rücken, bewusstlos, mit kalkweißem Gesicht, das von dem großen Blutverlust zeugte. Sein Unterleib war mit einem Laken bedeckt, das im Blut geradezu zu schwimmen schien. Ein Mönch brachte eine Schale mit glühenden Kohlen, ein weiterer trug ein eisernes Instrument, dessen Ende wie ein Löffel geformt war, nur flacher und runder. Georg, der Wundchirurg, wies sie an, den Löffel in die glühenden Kohlen zu legen.

»Wie gut, dass er nicht bei sich ist«, murmelte einer der Mönche und trat näher, um das Ungeheuerliche auszusprechen: »Er wurde entmannt. Wer tut so etwas?«

In seiner Erinnerung sah Alban die Schwertklinge niedersausen. Martin hatte ihn von seinem Herrn getrennt, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Ihm war, als wollten sich die Wände der Zelle ihm zuneigen, um ihn zu erschlagen. Er streckte die Hände vor, um sie davon abzuhalten und selbst nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Einer der Mönche griff unter seine Achsel, doch die Berührung erschreckte Alban, und er schob ihn weg.

»Verzeih, wir hätten dich auf den Anblick vorbereiten sollen. Diese grausame Tat hat schon uns entsetzt, aber wie schlimm muss es erst für dich sein, der du ihn kennst.«

Alban hielt es hier nicht länger aus. Er wankte nach draußen, krümmte sich erneut vor Übelkeit, aber es kam nur noch ein trockenes Würgen. Er hustete, hastete gebückt weiter und spürte plötzlich fremde Hände an seinen Armen. Zwei Mönche zogen ihn mit sich.

»Ins Refektorium. Er braucht eine Stärkung.«

Ganz ohne sein Zutun schienen seine Füße über den Boden zu tappen, als sie ihn durch diese endlosen Gänge führten. Eine Tür ging auf. Der Speisesaal. Hier hatten er und Rogatus noch am Abend gesessen und scheinbar einmütig ihr Mahl eingenommen, während sie der Lesung des siebenten Psalms zugehört hatten. Besonders der zwölfte Vers war Alban nahegegangen. Die Worte aus der Schrift, so rein und klar wie feinstes venezianisches Glas, hatten ihm Hoffnung gegeben: Deus iudex iustus et fortis comminans tota die. Gott ist ein gerechter Richter und ein Gott, der täglich strafen kann. Auf diese Strafe hatte er stets gehofft, während er litt wie ein Hund.

Ein anderer Psalm kam ihm in den Sinn, eines von jenen Gottesworten, die ihn schweigend die Tortur hatten erdulden lassen: »Zürnt ihr, so sündigt nicht, und redet allein in eurem Herzen auf dem Nachtlager. Aber seid still.« Er schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Jemand drückte ihm einen Becher in die Hand.

»Trink das, dann geht es dir besser.«

Alban zwang sich, hinzusehen. Es war Prior Lukas, der ihm den Becher gereicht hatte. »Was ist das?«, fragte er.

»Kräuterschnaps. Er ist stark, aber er hilft. Man muss ihn nur schnell trinken.«

Dem Alkohol war er sonst nicht zugeneigt, aber jetzt war wohl der richtige Moment, seine Wirkung zu erproben. Er kippte den Becher hinunter; es brannte fürchterlich. Als sich seine Kehle wieder einigermaßen normal anfühlte, kehrte auch das Entsetzen zurück. Offenbar war es mit einem einzigen Becher nicht getan.

Der Prior setzte sich neben ihn und sah ihn mitleidig an. Alban senkte den Kopf, denn er war überzeugt, dass alles, was geschehen war, ihm ins Gesicht geschrieben stand. Ihm war entsetzlich kalt, und er musste mit aller Gewalt seine Zähne aufeinanderpressen. Erneut füllte Lukas den Becher. Diesmal war das Brennen erträglicher, doch die betäubende Wirkung wollte sich immer noch nicht einstellen. »Weiß man ... weiß man, wer es getan hat? Und warum?«, wagte Alban endlich zu fragen.

Lukas hob die Schultern. »Ich hatte gehofft, du wüsstest es.«

»Nein. Ich weiß nichts.« Angesichts dieser Lüge schoss ihm die Hitze ins Gesicht, und er konnte nur hoffen, dass Lukas es auf die Aufregung schob. Nun war er auch noch zum Lügen gezwungen. Es wäre besser, diese ganze Angelegenheit schnellstens zu beichten, doch dazu war er nicht imstande.

Der Prior seufzte. »Nun, dann bleibt nur der Abt selbst, es aufzuklären. Er wird hoffentlich überleben und uns sagen können, was geschehen ist. Wir müssen beten. Fasten und beten.«

Martin hatte offenbar das Kloster verlassen. War sein nächtlicher Besuch tatsächlich niemandem aufgefallen? Wo war er jetzt? Was würde er tun?

Hemmungslos begann Alban zu schluchzen. Er spürte kaum die Hand, die sich tröstend auf seine Schulter legte. Er allein trug die Schuld, ohne ihn wäre Martin dem Abt nie begegnet. Sein unbeherrschter Bruder, verdammt sollte er sein! Den Abt zu entmannen. Zu entmannen! Hatte sich der Teufel seiner bemächtigt?

***

Martin wollte zur Pforte laufen, doch da fiel ihm die Mauer ein. Er hastete in Richtung des Stalles, lief daran vorbei und an der Mauer entlang, bis er die Stelle erreichte, die der Söldner ihnen gezeigt hatte. Es war nicht schwer, hinaufzuklettern, und er spürte kaum, wie sich seine Finger und Stiefelspitzen ins bröckelige Mauerwerk krallten. Er schwang ein Bein über die mit Dachziegeln besetzte Brüstung. Sein Blick fiel zurück. Unten stand Sandro, die Hände an der Mauer, und starrte zu ihm hoch.

»Martino! Was soll das? Warum bist du am Stall vorbeigelaufen, als sei der Leibhaftige hinter dir her?«

Den Freund hatte Martin völlig vergessen. Was sollte er ihm sagen? Er wusste es nicht. Was er getan hatte, ließ sich nur schwer erklären. »Sandro, ich muss weg.«

»Per carità! Bist du verrückt geworden? Was heißt das, du musst weg?«

Martin suchte nach Worten, doch er konnte nur den Kopf schütteln.

»Martin, was ist passiert? Warum willst du weglaufen?«

»Frag Alban, warum. Nein, frag ihn nicht. Setz dich einfach in den Stall und warte, dass jemand es erzählt.«

»Erzählt? Was denn nur, per le stelle?«

»Versteh doch, ich kann nicht darüber sprechen. Ich kann es einfach nicht.« Mit einem Satz war Martin auf der anderen Seite der Mauer; er hörte ihn noch rufen, eilte aber weiter, die Straße entlang in Richtung des Kreuzlinger Tores.

»Du kannst die Stadt nicht verlassen«, rief Sandro dicht hinter ihm. Allzu laut hallte seine Stimme von den Hauswänden wider. »Die Tore sind geschlossen, hast du das vergessen? Jetzt in der Nacht sowieso.«

Martin geriet in einen Pulk wartender Huren, Nachtschwärmer und einiger Leute, die am Tor lagerten, und blieb stehen. Nach dem, was er aus dem Gespräch zwischen Rogatus und Prior Lukas herausgehört hatte, würde das Tor wohl auch bei Morgengrauen nicht geöffnet werden. Es war ohnehin unsinnig, so kopflos fortzurennen; klüger war es, in der Stadt zu bleiben, bis er wusste, was mit dem Abt war. Starb Rogatus, ohne wieder das Bewusstsein zu erlangen, war er sicher. Sein Bruder war an dieser Sache nicht gerade ruhmvoll beteiligt und würde sich hüten, ihn zu verraten.

»Ich muss mich verstecken. Hast du irgendeine Idee, wo?«

»Mio amico, ich kenne mich hier doch ebenso wenig aus wie du. Vielleicht in diesem Süßen Winkel? Wenn man sich Verschwiegenheit kaufen kann, dann in einem Hurenviertel.«

»Kaufen? Mit was denn?«

Sandro nestelte seine Geldkatze vom Gürtel. »Diesmal wirst du hoffentlich nicht zu stolz sein, mein Geld zu nehmen.«

Martin nahm sie an sich und umarmte ihn. »Danke, mein Freund.«

»Das heißt wohl, dass ich nicht mit dir kommen soll.«

»Ja, das heißt es. Aber wir sehen uns wieder.« Martin drückte seine Hand, dann lief er weiter. Das Hurenviertel war jedoch nicht sein Ziel; das Geplänkel mit den Hübschlerinnen hätte er jetzt nicht ertragen. Noch vor wenigen Stunden hatte er sich vergnügen wollen, sein Lager mit willigen Frauen teilen, sich am Treiben in den Gasthäusern beteiligen, aber ein einziger Schwerthieb hatte all das belanglos gemacht. Er sah seinen Bruder vor sich, entblößt, geschändet, voller Furcht. Das verzerrte Gesicht des Abtes, seine geschlossenen Augen, seine vor Anstrengung mahlenden Kiefer. Der Schweiß, der die Schläfen heruntertropfte. Die Zunge, wie sie zwischen den Zähnen hervorschnellte und gierig über die Lippen fuhr. An den Hieb selbst konnte er sich kaum mehr erinnern. Er wusste nur noch, dass er das Schwert hatte fallen lassen, ein paar Worte mit Alban gewechselt hatte und gerannt war, als sei ihm der Teufel auf den Fersen. Und war er das denn nicht? Noch als er die Mauer hochgeklettert war, hatte ihn die Furcht gepackt, teuflische Klauen könnten sich in seinen Rücken bohren und herunterziehen, um ihn in Stücke zu reißen.

Martin bemerkte kaum, wie er die Leute anrempelte und sie sich schimpfend umwandten. Das Grübeln machte ihn müde, und er wankte auf wackligen Füßen vorwärts, durch fremde Straßen voller Buden und Gaden, vorbei an Klöstern und bereits hellerleuchteten Gasthäusern. Als er den Wassergraben am anderen Ende der Stadt erreichte, löste er die leere Schwertscheide vom Gürtel und warf sie hinein. Hinter dem Graben erhob sich die Stadtmauer, und dahinter, so wusste er, war der Rhein. Wohin sollte er nun? Eine überdachte Brücke führte in das Viertel am anderen Flussufer, aber dorthin wollte er nicht, also machte er kehrt. Am Münster Unserer Lieben Frau blieb er stehen. Die Kirche stand leicht erhöht auf einem Hügel, und auch hier, vor ihrer Umfassungsmauer, hatten sich Huren niedergelassen, die ihre Röcke schamlos über die Knie zogen, als sie Martin sahen. Im Münster, so hieß es, tagten die Konzilsversammlungen. Hier trafen sich all die Kardinäle, Erzbischöfe, Bischöfe und Äbte und vielleicht auch der Papst, der berüchtigte Neapolitaner, von dem es hieß, er habe die Tiara nur durch Blutvergießen errungen. Sie alle ließen sich von ihren Trieben leiten, von ihrer Geltungssucht und Machtgier. Die Welt war schlecht, alles an ihr verdorben und verhurt, und er, der verarmte Ritter aus der Provinz, war der Verdorbenste von allen, nicht wert, bei den Huren an der Kirchmauer zu sitzen.

Er hockte sich dennoch hin und schlang den Mantel fest um sich. Es dauerte nicht lange, bis eine der Hübschlerinnen zu ihm kam, aber er schüttelte nur den Kopf. Sie wich zurück.

»Schon gut«, sagte sie. »Du siehst aus, als wärst du gerannt. Hast wohl irgendetwas angestellt, hm?«

»Ich habe jemandem geholfen, von dem ich nicht dachte, dass ich ihm je helfen würde.«

»Und warum hast du es dann getan?«

Er schnaufte verächtlich. »Weil ich nicht missachten konnte, dass er trotz allem mein Bruder ist. Aber was erzähle ich dir das?« Die Hure hatte sich neben ihn gesetzt. Ihre Fingerspitzen berührten seine verkrüppelte Hand. Martin zuckte zurück und verschränkte die Arme, sodass die Hände unter seinen Achseln verborgen waren.

»Wie ist das passiert?«, fragte sie. »Bei einem so stattlichen Mannsbild wie dir fällt das auf.«

»Was geht’s dich an?«

»Sei nicht so schroff.«

Er schüttelte sich die schweißfeuchten Haare aus der Stirn. »Ich habe nur ... Ich will nur ... Hast du eine Hütte?«

»Du willst mich also doch?« Sie drückte die Brust heraus. »Meine Hütte ist ganz in der Nähe.«

Jung war sie nicht mehr, aber dafür recht hübsch. Ihr Haar sah nicht danach aus, als sei es verlaust, und sie war auch nicht übertrieben geschminkt. »Wie ist dein Name, und was kostest du?«, fragte er.

»Helene, und für einen Konstanzer Pfennig darfst du die ganze Nacht bei mir bleiben. Du bist aber friedlich, ja?« Sie führte ihn in eine enge Gasse, an deren Häuserwänden kleine Hütten und Zelte klebten. Vor einer der Hütten blieb sie stehen und hob einladend die Decke, die vor dem Eingang hing. Er musste auf die Knie gehen, um hineinkriechen zu können; das Innere war gerade groß genug, dass zwei Menschen darin liegen konnten. Martin ließ sich auf das ausgelegte Stroh sinken. Sorgfältig verhängte Helene den Eingang und drehte sich auf den Fersen zu ihm um. Als sie ihr Kleid aufzuschnüren begann, um ihm ihre Brüste darzubieten, wollte er sagen, dass das nicht nötig war. Er wollte nur schlafen. Doch mit einem Mal erschien ihm ein warmer Leib unter sich der einzig wirksame Trost zu sein, auch wenn diese Hütte nicht war, was er sich zu Beginn der Reise erträumt hatte. Keine Musik, kein Tanz, keine weichen Laken. Er zog die Frau zu sich aufs Stroh. Bereitwillig legte sie sich auf den Rücken, hob ihre Röcke und half ihm, seinen Unterleib zu entblößen. Tief sog er ihren herben Duft ein, während ihr warmer Körper ihn empfing. Ihre Hände glitten unter sein Hemd und kneteten seine angespannten Muskeln. Viel brauchte es nicht, bis er sich aufbäumte und aufstöhnte. Doch allzu schnell kehrte die Erinnerung zurück.

Die Frau nahm den Pfennig entgegen und stopfte ihn in einen Gürtelbeutel. »Was hast du da?« Sie wollte nach seinem Anhänger greifen, doch er setzte sich auf und legte die Hand schützend darum. Das beruhigende Gefühl, das sich für gewöhnlich einstellte, wenn er an die Reliquie dachte, blieb diesmal aus.

»Wärst du einverstanden, die Hütte für ein paar Tage mit mir zu teilen?«

»Warum nicht? Wie viele Tage?«

»Ich weiß nicht, eine Woche vielleicht.« Er fand den Gedanken beruhigend, mit dieser Hütte eine kleine und unauffällige Zufluchtsstätte zu haben. Und alles war besser, als weiter ziellos umherzustreifen.

»Hm. Und für jeden Tag gibst du mir einen Pfennig?«

»Ja.«

»Gut, sieben Pfennige also. Aber es mit mir zu treiben kostet dich jedes Mal einen Pfennig zusätzlich, sonst rechnet sich das für mich nicht.« Ohne sein Einverständnis abzuwarten, drehte sie ihm den Rücken zu, rollte sich zusammen und atmete sofort tief und gleichmäßig. Er lauschte in die Dunkelheit. Draußen war es ruhig, nur ganz entfernt erklang das Gelächter von Betrunkenen. Wie lange mochte es dauern, bis er erfuhr, ob Rogatus noch am Leben war? Genügte diese eine Woche? Ihm blieb nur, abzuwarten.

Das Zeichen des Ketzers

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