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KAPITEL 7

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Martin verbrachte die Tage damit, in der Hütte der Hübschlerin zu sitzen und den Gesprächen draußen auf der Gasse zu lauschen. Doch niemand erwähnte einen Söldner, der einen Abt auf brutale Weise entmannt hatte. Offenbar waren die Augustiner darauf bedacht, dass die Nachricht nicht aus dem Kloster drang, was ihn einerseits schützte, andererseits zur Unwissenheit verdammte. In den Nächten verließ er die Hütte, streifte ziellos umher und kaufte sich ein Stück Brot oder Käse, das er im Gehen aß. Mittlerweile war eine Woche seit der verhängnisvollen Tat vergangen. Die Tore waren wieder geöffnet, doch die Unruhe wich nicht aus der Stadt. Ständig randalierten gelangweilte Söldner in den Gassen und stellten den Frauen nach, gleich ob es sich um Huren oder ehrbare Bürgerstöchter handelte. Das Warten und Nichtstun erdrückten Martin; und seitdem drei betrunkene Söldner eines Morgens auf der Suche nach willigen Frauen in die Hütte eingedrungen waren, fühlte er sich nicht mehr sicher. Er sah nur einen Ausweg, er musste Alban fragen, ob Rogatus sich nun entschieden hatte, zu leben oder zu sterben. Allein der Gedanke ließ seine Galle sauer werden.

Sobald er den Morgenruf des Nachtwächters hörte, machte er sich auf den Weg zur Abtei. Vor der Klostermauer lauschte er, was sich auf der anderen Seite tat. Nichts war zu hören, und so kletterte er hinüber. Am Stall, in dem die Söldner untergebracht waren, kauerte er sich in die Dunkelheit. Hineinzugehen wagte er nicht. Sicherlich hatten seine Männer längst die Anweisung bekommen, ihn festzunehmen, sollten sie ihm begegnen.

Er beobachtete das offene Stalltor, lauschte den verhaltenen Gesprächen und versuchte, Sandros Stimme herauszuhören. Ihn aus dem Stall zu locken, ohne bemerkt zu werden, war kaum möglich, also harrte er aus. Eine Stunde mochte verstrichen sein, als er ihn durchs Tor treten sah. Sandro machte ein paar unschlüssige Schritte; er schien zu überlegen, ob er sein Geschäft hinter dem Stall erledigen oder sich die Mühe machen sollte, den Abtritt aufzusuchen. Martin richtete sich auf und winkte ihn heran.

Sandro riss den Mund auf, schwieg aber. Erleichtert zog Martin ihn an sich und klopfte ihm auf die Schulter.

»Weißt du inzwischen, was geschehen ist?«, fragte er leise.

Sandro schüttelte seine schwarzen Locken. »Ich habe deinen Bruder gefragt, aber der ist mit hochrotem Kopf davongestürzt und tut seitdem so, als kenne er mich nicht. Und sonst weiß niemand etwas. Es gibt auch keine Anweisung, deiner habhaft zu werden. Ich wäre sogar zum Abt gegangen, nur um herauszubekommen, was geschehen ist, aber das ist unmöglich. Seit der Nacht, in der du verschwunden bist, hat niemand Rogatus zu Gesicht bekommen. Sag es mir, hast du ihn etwa getötet?«

Martin lachte gequält. Wüsste er das, wäre er nicht hier. »Ich bitte dich, Sandro, hole Alban.«

»Das wird nicht einfach sein. Aber ich versuche mein Bestes.«

»Aspetto.«

Sein Freund verschwand in Richtung der Abtei. Unruhig lief Martin hin und her, darauf bedacht, nicht bemerkt zu werden. Eine elend lange Zeit verging, bis Sandro zurückkehrte. Ihm folgte tatsächlich Alban, die Hände in den Ärmeln seiner Kukulle vergraben, wo er sie fahrig knetete. Martin ging auf ihn zu. Doch bevor er etwas sagen konnte, fuhr Alban ihn an:

»Warum bist du hier?« Er stieß die Worte mit Abscheu aus. »Warum bist du nicht auf der Flucht, für den Rest deines erbärmlichen Lebens?«

»Weil ich wissen will, was mit Rogatus ist. Vielleicht muss ich ja gar nicht flüchten.«

»Du meinst, vielleicht musst du dich nicht für deine Tat verantworten? Das wird dir nicht gelingen! Spätestens vor dem himmlischen Richter wird es dir schlecht ergehen. Aber meinetwegen versuche, deinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Ich kann dir nicht sagen, was du zu hören ersehnst. Rogatus lebt, und er wird auch nicht sterben. Er ist bei Bewusstsein und redet ständig davon, wie er dich findet und bestraft.«

»Du willst, dass er mich erwischt. Ist es so?«, stieß Martin hervor.

Sein Bruder presste die Lippen zusammen und wandte sich ab.

»Das ist eine deutliche Antwort.« Martin stapfte auf ihn zu, schlug eine Hand auf seine Schulter und rüttelte ihn. »Dir ist anscheinend nicht klar, dass ich es deinetwegen tat!«

Mit einem heiseren Schrei riss Alban sich los. »Meinetwegen hast du ihn entmannt? Du hast nur deinem Hass freien Lauf gelassen. Das hatte gewiss nichts mit mir zu tun! Ich bitte dich, geh endlich und bleibe fort. Ich will dich nie wieder sehen, vergiss einfach, dass du je einen Bruder hattest.« Mit gesenktem Kopf hastete Alban in die Nacht.

Sandro starrte Martin an.

»Hast du das, was er da erwähnte, wirklich getan?«

»Ja. Es tut mir leid. Nichts ist mehr, wie es sein sollte, und den Aufenthalt hier habe ich uns gründlich verdorben.«

»Si. Aber ich beklage mich nicht.« Sandro lächelte matt.

»Wie auch immer, ich danke dir, dass du Alban geholt hast. Wenigstens weiß ich jetzt Bescheid, auch wenn es bedeutet, dass ich mich weiterhin verstecken muss.« Martin machte sich auf den Weg zurück zur Mauer, doch Sandro folgte ihm.

»Was willst du jetzt tun?«

Martin wusste nicht, was er antworten sollte. Allein darüber nachzudenken kam ihm wie eine schwere Last vor. Die Zukunft erschien ihm wie ein undurchdringliches Dickicht. »Ich werde flüchten. Was soll ich sonst tun? Darauf warten, dass die Stadtbüttel mich schnappen? Ich bin ein Verbrecher, Sandro. Dieben schlägt man die Hand ab. Was macht man mit einem wie mir?«

»Ohne mich gehst du nirgendwohin.«

Dankbar umfasste Martin Sandros Nacken und drückte ihn an sich. »Nein, mein Freund. Das kann ich nicht von dir verlangen.«

»Das musst du auch nicht. Meine Treue bekommst du freiwillig.«

»Es tut gut, das zu hören. Aber ich weiß ja noch gar nicht, was ich tun werde. Erst einmal sollte ich wohl die Stadt verlassen. Irgendwo in einem der Dörfer am See suche ich mir ein Quartier, wo ich in Ruhe überlegen kann. Wenn ich mich dort zu irgendeinem Plan durchgerungen habe, lasse ich es dich wissen. Jetzt will ich noch ein wenig schlafen, denn diese Sache lässt mir schier den Schädel platzen, als hätte ich nächtelang gezecht.« Er wollte die Mauer hinauf, aber Sandro hielt ihn zurück.

»Warte, lass mich dir noch erzählen, was ich heute gehört habe. Morgen Abend soll ein Turnier stattfinden. Draußen auf dem Brühl, das ist ein Gelände im Westen gleich hinter der Stadtmauer. Das Tor, das dort hinausführt, wird das Geltinger Tor genannt, dort werden etliche Konstanzer hingehen. Dies zu wissen ist vielleicht nützlich für deine Flucht.«

Schritte erklangen hinter ihnen, und zwei miteinander scherzende Söldner kamen um die Ecke des Stalls geschlendert. Rasch drückte Martin die Hand des Freundes und kletterte die Mauer hinauf. Innerhalb weniger Herzschläge hatte er sie überwunden und sprang auf der anderen Seite hinab.

Ein Turnier. Als er noch ein Knappe gewesen war, hatte er zweimal an einem Turnier teilgenommen. Sein Ritterherr war beide Male siegreich aus dem Tjost hervorgegangen und hatte die Ehre seines Namens und Wappens gemehrt. Kurz nach dem Empfang des Ritterschlags aus der Hand des Burggrafen von Nürnberg war auch Martin zu einem Turnier eingeladen worden, hatte dort das Scharfrennen gewagt und erfolgreich bestanden. Er hatte mit seiner Turnierlanze den Gegner regelrecht vom Pferd gefegt, sodass dieser sich das Genick gebrochen hatte. Doch sein erstes Turnier war zugleich sein letztes gewesen. Er würde nie mehr tjostieren können, denn mit drei Fingern ließ sich eine Turnierlanze kaum halten.

Sollte er durchs Geltinger Tor die Stadt verlassen, um sich in all dem Trubel unbemerkt fortzustehlen? Oder war gerade das der falsche Weg, da sich dort viele Stadtknechte und Söldner aufhalten würden?

***

Susanna musste lächeln, als sie die Stube des Freiherrn betrat. Johann von Chlum saß am Tisch und schlief, den Kopf auf dem Tisch. Sein Weinbecher war umgefallen, und die Nase des Freiherrn lag in einer dunkelroten Weinlache. Auch im Schlaf standen tiefe Sorgenfalten auf seiner Stirn. Susanna wusste, wie sehr ihn das Schicksal seines Schützlings beschäftigte, jenes Mannes, der im Kerker schmachtete, weil er Gottes Wort verkündet hatte. Freiherr von Chlum hatte Johannes Hus im Auftrag des Königs und zukünftigen Kaisers Sigismund nach Konstanz begleitet, um ihn zu schützen – nur um dann mit ansehen zu müssen, wie Hus eingekerkert worden war. Seitdem versuchte der Freiherr alles in seiner Macht Stehende, um die Haft seines Schützlings zu mildern und den König an sein gebrochenes Geleitwort zu erinnern, jedoch mit geringem Erfolg. Susanna achtete darauf, dass die Dielen unter ihren Füßen nicht übermäßig knarrten, griff nach dem Becher, doch da schreckte der Freiherr hoch.

»Ich wollte Euch nicht aufwecken, Herr Johann.« Sie stellte den Becher auf den Tisch vor ihm. »Mögt Ihr noch Wein oder etwas anderes? Frau Fida hat ein frisches Bierfass angestochen.«

»Gott segne dich und Frau Fida«, murmelte Johann von Chlum und rieb sich die Nase an seinem Ärmel trocken. »Aber für heute habe ich, wie mir scheint, genug Wein gehabt. Ich will nur schlafen.«

»Tut es auf Eurer Pritsche, das ist erholsamer. Bestimmt wart Ihr heute wieder den ganzen Tag im Quartier des Königs und habt Euch die Beine in den Bauch gestanden.«

»Ja, und wie immer ohne Erfolg. Der König meidet mich und will sich an seinen Geleitbrief nicht erinnern lassen. Ich bin dem Magister Hus wahrlich keine Hilfe.«

»Einen besseren Schutzritter als Euch hätte er nicht haben können. Auch wenn so eine kleine Köchin wie ich natürlich kaum etwas davon versteht.«

Er neigte sich vor, um ihre Hand zu tätscheln. »Jungfer Susanna, du bist sehr verständig und darüber hinaus die beste Köchin, die ich kenne. Obwohl ein hübsches Mädchen wie du lieber zum Tanz gehen sollte, als einen alten Mann wie mich zu bedienen.«

»Ihr wisst, dass es mir eine Freude ist, Euch zu Diensten zu sein«, erwiderte Susanna lächelnd. »Und außerdem gehe ich heute zwar nicht zum Tanz, mit wem denn auch, aber dafür zum Turnier. So oft gibt es derzeit welche vor den Mauern der Stadt, und ich habe noch keines gesehen.«

»Dann pass aber auf dich auf. Da draußen läuft ein Volk herum, das glaubt man nicht.«

»Ach, grapschenden Händen weiß ich schon auszuweichen. Das lernt man dort, wo ich herkomme.« Sie räumte das Geschirr ab und trug es in Fidas Küche. Dann schnallte sie sich ihre Trippen unter, warf sich den Tasselumhang über und verließ die Herberge. Gleich nach dem Turnier würde sie nach Hause gehen, dort ein Nachtmahl zubereiten und dann in der Badestube ihrem Vater helfen, die Zuber zu schrubben oder was sonst an Arbeit anfiel. Es gab immer genug zu tun. Ihr machte das nichts aus, so war sie es gewohnt. Und doch fragte sie sich manchmal, ob es immer so weitergehen würde. Tanzen? Von den Vergnügungen, in denen die Stadt während des Konzils versank, hörte sie nur. Wenigstens einmal wollte sie zusehen, wie sich Ritter im Ringstechen maßen und mit ihren Lanzen gegeneinander antraten.

Susanna war nicht die Einzige, die es zum Turnier zog. Die Gassen waren voller lärmender Menschen. Weit waren die Tortürme geöffnet; jenseits der Stadtmauer hatten zahllose Füße die von einem Regenguss nassen Wiesen zertrampelt. Jetzt schien wieder die Sonne und machte die Leute fröhlich. Susanna lief an Händlerbuden vorbei, aus denen es verführerisch nach Gebratenem roch, sah den Gauklern und Bettlern zu, die sich mit ihrem Geschrei gegenseitig zu übertrumpfen suchten, und hörte das schrille Lachen der Huren, welche sich an die Söldner aus aller Herren Länder heranmachten.

Sie erkämpfte sich einen guten Platz im Pulk der Zuschauer. Das Turnier war bereits im Gange. In voller Rüstung saßen zwei Ritter auf ihren Rössern, hielten die mit blauen und roten Bändern geschmückten Lanzen in der Waagerechten und zerrten an den Zügeln, um die Pferde beeindruckend tänzeln zu lassen. Auf den Tribünen und an den Fenstern eines angrenzenden Hauses sah Susanna edle Herren und Damen sitzen. Sogar der König war anwesend. Da saß der Geleitbrecher, in feinste Stoffe gehüllt und mit glänzendem Schmuck behängt.

Trompetenstöße fegten über den Turnierplatz. Die Ritter gaben ihren Pferden die Sporen und stürmten aufeinander los. Die Decken der Rösser schlugen gegen die Beschrankung, die sie voneinander trennte; die Lanzen erzitterten und standen für einen Moment still, bevor sie gegen die Harnische schlugen. Der rote Ritter fiel vom Sattel, über die Beschrankung hinweg, und blieb reglos liegen. Der blaue musste darum kämpfen, nicht vom Pferd zu fallen. Nach einigen mühseligen Versuchen, sich an den Zügeln festzuhalten, saß er wieder sicher im Sattel und ließ das Pferd austraben. Um Susanna herum brandete Jubel auf. Der Ritter nahm den Helm ab, gab ihn seinem Knappen und reckte die Faust. Ein Herold kündigte das Ringstechen an, bei dem der Veranstalter des Turniers höchstpersönlich, der Herzog von Österreich, antreten werde.

»Der Blaue hätte auch noch fallen sollen, der konnte sich ja kaum noch halten«, hörte sie einen Mann dicht hinter sich sagen. »Das kostet mich zwei rheinische Gulden!«

»Vielleicht bringt dir Friedrich ja die Gulden zurück, Wladyslaw? Er ist der Generalkapitän der päpstlichen Truppen, und sein Gegner sieht jung und unerfahren aus.«

»Na schön, versuch ich’s mit ihm. Schade, dass nur Ritter an Turnieren teilnehmen dürfen; andernfalls würde ich mir den Verlust zurückholen, indem ich selbst aufs Pferd stiege.«

Friedrich von Österreich saß inzwischen im Sattel, den Helm von einem riesigen Pfauenfedernbusch gekrönt, hielt den rotweißen Schild und die Lanze hoch und wartete auf das Fanfarensignal. Als es kam, preschte sein Gegner schnell wie ein Pfeil los, um als Erster die Ringreihe zu durchstoßen, die von mehreren Jungen hochgehalten wurde. Der Herzog gab seinem Pferd die Sporen, senkte aber die Lanze zu überhastet, sodass das Pferd unruhig tänzelte. Hilflos schwankte seine Waffe in der Luft; die gegnerische Lanze stieß gegen seine Brust. Ein schadenfrohes Pfeifkonzert brandete auf. Auch Susanna pfiff und johlte. Es war ein Spaß, hier zu sein. Wann sah sie je wieder einen Herzog in voller Rüstung vom Pferd fallen?

Der Mann hinter ihr stöhnte laut. »Verloren! Jetzt langt es nicht einmal mehr für eine Hure.« Harte Finger bohrten sich in Susannas Hintern. »Aber Konstanzer Töchter machen’s auch umsonst, hab ich mir sagen lassen.«

Susanna drehte sich um und hob drohend die Hand, wie sie es gewohnt war, wenn Gäste im Badehaus ihres Vaters die guten Manieren vergaßen. Aber was sich dort mit einem Lachen und einem Klaps abtun ließ, stachelte den Fremden an. Er war groß, sein Körper gewaltig. Die schwarzen Augen wirkten hart und gefährlich.

»Fasst mich nicht an!«

»Mädchen, jetzt sag nicht, du seist die Einzige, die es nicht tut.«

Seine Hände waren überall, und seine Freunde grinsten dazu. Susanna schob sich von ihm fort, den Umhang fest um die Schultern geschlungen. Der Spaß war ihr vergällt, sie hatte genug gesehen. Als sie aus dem Pulk heraus war, atmete sie auf.

»Na, komm schon. Ein paar Heller hab ich ja noch übrig.«

»Ich bin keine Hure!«, schrie sie und deutete auf ihren Umhang. »Oder trage ich Gelb?«

»Darunter vielleicht?«

Sie wollte weglaufen, doch er hatte ihren Zopf gepackt und hielt sie wie an der Leine. Allmählich begriff sie, was ihr drohte. Die Männer, es waren drei, fingen an, sich über die Reihenfolge zu beraten. Hin und wieder hatte Susanna davon gehört, dass ausgelassene Söldner, die ihre Herren nach Konstanz begleitet hatten und seitdem müßig herumlungerten, ehrbare Frauen belästigten. Sorge hatte ihr das nie bereitet. Dies hier war ihr kleines Konstanz, in dem sie behütet aufgewachsen war. Aber das Konzil veränderte alles.

»Da drüben hab ich eine leere Hütte gesehen«, sagte er.

»Heiliger Konrad!« Es war wie ein übler Traum. Das konnte nicht ihr passieren, unmöglich. »Lasst mich gehen.«

»Gib Ruhe. Dein Mund ist nicht dazu geschaffen, Heilige anzurufen. Das ist einer, in den man nicht nur die Zunge stoßen möchte.«

Sie warf sich herum und stieß ihm die Fäuste gegen die Brust. Sein Griff lockerte sich, und da nahm sie die Beine in die Hand. Doch sie kam nur mühsam vorwärts, denn die Trippen saugten sich im Morast fest. Susanna stolperte, hörte das Gelächter hinter sich und rannte blindlings weiter. Fort, nur fort!

Nicht der Fremde hielt sie auf, sondern der Rücken eines anderen Mannes. Sie stieß sich die Nase an einem Körper, der sich nicht weniger kräftig als der ihres Verfolgers anfühlte, und fiel auf den Hintern.

»Hm?« Gemächlich drehte er sich um. Er ragte über ihr auf, gehüllt in einen abgetragenen Mantel, dessen Kapuze seinen Kopf verdeckte.

»Helft mir, Herr«, sprudelte es aus ihr. Aber er hielt die Arme vor der Brust verschränkt, als scherte ihn nicht, was um ihn herum vorging. Wo immer er seine Gedanken hatte, hier an diesem Ort waren sie nicht. Susanna zupfte an seinem Mantel und deutete hinter sich. Er griff sich an den Kopf und schob die Kapuze zurück. Hellbraune Augen und blondes Haar, in dem sich die Sonne fing, kamen zum Vorschein. Ein Gesicht, das jetzt, da sie es zum zweiten Mal sah, von Sorgen beschattet war. Sie erinnerte sich an Heiterkeit. An einen funkelnden Blick, der begehrlich war, aber nicht respektlos. Und dann erfreut, als er sich nach ihr umgewandt hatte – hinterm Kreuzlinger Tor, wo er die Stadt betreten hatte, als Anführer eines Söldnertrupps.

Er erkannte sie nicht und wandte sich von ihr ab.

Susanna stemmte die Hände in den Schlick, stieß sich hoch und rannte weiter. Hier liefen ein paar Menschen herum, aber noch einmal jemanden bitten, nur um abgewiesen zu werden, wollte sie nicht. Doch weit und breit war kein Stadtknecht zu sehen, das rettende Tor noch weit. Wieder stolperte sie. Eine der Trippen steckte so fest im Schlamm, dass sie innehalten musste, um die Riemen zu lösen. Da baute der Schwarzäugige sich über ihr auf.

»Mach deinen hübschen Arsch doch nicht so dreckig.« Er und seine beiden Kumpane umringten sie. »Wo war noch gleich die Hütte?«

Sie wollte sich wehren, flehen, weinen. Aber sie war wie versteinert. Riesige Hände senkten sich herab, um sie zu greifen.

»Wladyslaw Korsz!«

Sie wichen zurück. In einigen Schritten Entfernung stand der blonde Söldner, die Arme immer noch verschränkt. Der Angesprochene richtete sich auf. »Du ...«, zischte er.

»Ja, ich.«

»Thiersreuth? Wahrhaftig, Martin Thiersreuth! Ich habe geglaubt, du liegst immer noch in deinem Wohnturm irgendwo in der Wildnis und beweinst deine Schmach. Stattdessen bist du hier?« Er warf seine dunklen Haare zurück und lachte lauthals. Seine Kumpane stimmten nur verhalten ein, als könnten sie mit diesen Worten so wenig anfangen wie Susanna. Sie wollte vor Erleichterung aufheulen. Martin? Er erschien ihr in diesem Moment wie der heilige Martin von Tours. Gleich würde er seinen Mantel abwerfen und sein Schwert ziehen.

Nichts dergleichen tat er, lediglich die Arme nahm er herunter und offenbarte eine verstümmelte Hand. »Lauf schon weg«, rief er ihr zu, immer noch mit diesem abweisenden Gesichtsausdruck. Aber sie vermochte sich nicht zu rühren.

»Sie will mich anscheinend doch.« Mit einer drohenden Geste schlug der Schwarzäugige seinen Umhang zurück. »Du störst uns.«

Unter dem Umhang wurde ein Schwertgehänge sichtbar. Der andere hatte keines, so viel begriff Susanna; er hatte es am Stadttor abgegeben, wie es verlangt wurde. Es kümmerte den Schwarzäugigen nicht, dass er von jedermann gesehen werden konnte, als er das Schwert zog. Doch die Zuschauer bemerkten nichts; ihre Aufmerksamkeit war vom nächsten Lanzengang gefesselt. Korsz näherte sich dem Blonden, der nach wie vor dastand, als ginge ihn das alles nichts an. Seine Schwertspitze berührte dessen Kehle, sank nach unten und hob den rechten Mantelärmel.

»Die sind ja immer noch nicht nachgewachsen«, höhnte er und ließ die Klinge in die Mitte wandern. »Wie sieht’s mit deinem Gemächt aus? Ich frage nur, weil das ja inzwischen auch weg sein könnte. Und dann würde sich der Kampf um eine Frau nicht lohnen, findest du nicht auch?«

Die Schwertspitze glitt wieder hinauf. Jäh schwand die Gleichgültigkeit. Mit einem heiseren Aufschrei, aus dem lange unterdrückter Zorn sprach, schlug der Blonde die Klinge beiseite. Im nächsten Augenblick traf seine Faust das Gesicht des anderen.

Korsz taumelte zurück, stolperte und verlor sein Schwert. Martin Thiersreuth nahm es an sich. Jetzt waren seine Bewegungen fließend. Die anderen zwei Kerle wichen zu ihrem Kameraden zurück, doch der schüttelte ihre helfenden Hände ab. Gekrümmt stand er da und rieb sich das Kinn. »Na schön, lassen wir das. Ich gönne es dir, dich von ihr trösten zu lassen. Falls sie sich nicht vor deiner Hand ekelt.«

»Vor dir ekle ich mich.« Susanna spuckte in seine Richtung. Martin Thiersreuth schleuderte das Schwert in den Stadtgraben, was sein Gegner mit einem lauten Fluch zur Kenntnis nahm, und griff nach ihrer Hand.

»Komm«, er zog sie hoch. Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Er drehte sie wie eine Puppe um und schob sie vorwärts. Am Graben entlang leitete er sie zum Tor, und erst im Schutz des Torturms ließ er sie los. Ihre Trippen waren fort, die Schuhe ruiniert. Ihr Herz schlug wild. Fahrig hob sie den Saum des Umhangs, um sich den Schweiß abzuwischen, doch dann presste sie ihn auf ihr Gesicht, um ein Aufschluchzen zu verbergen.

»Pass besser auf dich auf, Mädchen«, hörte sie ihren Retter sagen. Sie ließ ihre Hände wieder sinken. Ihr lag die Frage auf den Lippen, woher er den Mann kannte und ob er ihr nur deshalb zu Hilfe gekommen war. Aber war das nicht gleichgültig? Sie öffnete den Mund, um sich zu bedanken. Danach würde er seines Weges ziehen und sie ihn nie wiedersehen.

»Heiliger Konrad, Euer Arm!«

»Was soll damit ...«, begann er und stutzte. Bei seinem Befreiungsschlag hatte er die Schwertschneide erwischt, ohne es zu merken. Der Stoff des Mantels und des darunterliegenden Hemdes war aufgeschlitzt und mit Blut getränkt. »Hölle und Teufel! Das kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Was soll’s, es wird schon aufhören.«

Fluchen konnte er! »Da hört gar nichts auf!«, widersprach sie. »Ganz in der Nähe ist das Haus Zur Roten Kanne, dort kann ich Euch die Wunde verbinden, immerhin habt Ihr sie meinetwegen.«

»Du schuldest mir nichts.« Er war störrisch. Unschlüssig hielt er den Arm hoch und bewegte ihn. Als das Blut zu Boden zu tropfen begann, nickte er.

Das Zeichen des Ketzers

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