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KAPITEL 6

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Es war ein gutes Gefühl, die Stimme zu erheben und eins zu werden mit dem Chor der Mönche, der das Magnus Dei am Schluss der Sonntagsmesse anstimmte. Hier konnte Alban mit Inbrunst herausklingen lassen, was ihm ansonsten die Kehle zuschnürte. Nur zu gerne hätte er sich in diesen letzten Tagen einem Mitbruder anvertraut, um ihm sein Leid zu klagen, aber das war unmöglich. Für einen Sünder, wie er es war, gab es keine Erleichterung.

»Du hast eine schöne Stimme«, sagte einer der Novizen, als sie nach der Messe die Abteikirche verließen. Alban kam der Gedanke, dass er zumindest dies mit seinem Bruder gemeinsam hatte. Martins Stimme jedoch war ungeschliffen, wie alles an ihm, und es käme ihm nie in den Sinn, seine Stimme zu nutzen, um Gott zu preisen. Stattdessen vergeudete er sie in Wirtshäusern beim Lautenspiel.

Alban spürte ein Zupfen am Ärmel. »Dem ehrwürdigen Abt Rogatus geht es etwas besser«, sagte Prior Lukas leise, sodass nur er ihn hören konnte. »Er war kurz wach und rief nach dir. Ich führe dich zu ihm, folge mir.«

Diese Mitteilung erschreckte Alban. Bislang war Rogatus nicht zu Bewusstsein gelangt, und er fürchtete sich davor, seinem Herrn gegenüberzutreten. Schlimmer noch – es hätte ihn erleichtert, von seinem Tod zu erfahren, und diese Erkenntnis versetzte ihm einen Stich. Was war er nur für ein Mensch, so etwas zu denken? Sollte er nicht dankbar sein, dass der Herrgott bereit war, Gnade walten zu lassen und Rogatus zu retten? Zur Sünde des Lügens nun auch noch die der bösen Wünsche! Vielleicht sollte er um eine Geißel bitten, um sich der Selbstkasteiung zu unterwerfen.

Sie gelangten in einen abgelegenen Trakt, wo Lukas an die entlegenste Tür klopfte. Bruder Georg streckte den Kopf heraus, nickte ehrerbietig und trat beiseite. Das Gemach, in das man Rogatus verlegt hatte, war fürstlich. Zwei Spitzbogenfenster, mit Pergament verhängt, führten auf den Garten hinaus. Ein breites Bett beherrschte den Raum, von vier kunstvoll geschnitzten Bettpfosten umkränzt, die fast bis zur Decke reichten und einen goldbestickten Baldachin hielten. Hinter dem Bett hing ein mit Blattgold verziertes Kreuz, und auch die Truhen an den Wänden waren kostbar beschlagen. Am Fußende des Bettes verbreitete eine Kohlenpfanne angenehme Wärme.

»Hat hier der König gewohnt?«, fragte Alban.

»Nein, ein Kardinal aus der italienischen Delegation. Er ist vor kurzem gestorben. Abt Rogatus soll es haben, solange er es benötigt. Ich bedauere zutiefst, ihn in einer abgelegenen Zelle einquartiert zu haben, deren Tür sich nicht schließen ließ. Dieses Verbrechen wäre woanders vielleicht nicht geschehen. Ich warte draußen auf dich.«

Lukas ging hinaus, schloss die Tür hinter sich, und Alban blieb keine Wahl, als sich seinem Herrn zu stellen. Rogatus’ Oberkörper war mit Kissen abgestützt, er schien zu schlafen. Sein bleiches Gesicht sah angespannt aus. Zögernd trat Alban näher, da öffnete der Abt die Augen. Doch sein Blick war leer. War er wirklich wach?

»Die Blutung ist gestoppt.« Bedächtig richtete Bruder Georg das Laken, das den Unterleib des Abtes bedeckte. Unwillkürlich starrte Alban dorthin. Er fragte sich, wie man ohne männliches Glied urinieren konnte. Er hatte davon gehört, dass es in heidnischen Ländern, weit im Osten, Männer gab, die absichtlich entmannt wurden und sich mit einer Feder behalfen. Wie das vor sich gehen sollte, konnte er sich nicht vorstellen. Allein der Gedanke ekelte ihn. Alles an Rogatus ekelte ihn. Er glaubte, seine fordernden Hände am Leib zu spüren, die Daumen, die sich in seine Gesäßbacken bohrten, um sie auseinanderzuziehen. Mit einem würgenden Laut schlug er die Hand vor den Mund.

»Ist dir nicht gut? Das kann ich verstehen, man mag sich gar nicht vorstellen, was ihm passiert ist.« Georg ging zu einem Tisch gegenüber dem Bett und holte ein kleines Tiegelchen. »Dies fand ich in seiner Zelle, es lag auf dem Boden. Weißt du, was es damit auf sich hat?«

Das wusste Alban nur zu gut. Es enthielt Fett, in das die Spuren zweier Finger eingegraben waren. Hastig schlug er die Augen nieder. »Ich habe keine Ahnung«, sagte er heiser. Nachdenklich wog Georg es in den Händen und stellte es zurück. Wusste er wirklich nicht, wozu es diente? In jeder Abtei gab es Mönche, die der Sünde der Unzucht nachgingen und sich solche Tiegelchen besorgten.

»Was ist denn jetzt zu tun?«, fragte er betont ruhig, wenngleich alles in ihm danach drängte, das Gemach zu verlassen. »Wie wird er behandelt?«

»Der Wundverband muss regelmäßig gewechselt werden.« Georg hob eine Schale. »Eine Kräutertinktur wird auf die Wunde gepinselt. Zur Stärkung bekommt er Bilsenkraut. Und ein wenig Mohn und Weidenrindensud, um die Schmerzen zu lindern. Ansonsten bleiben nur die Fürbitte und das Vertrauen auf das Wirken des Herrn. Quia ipse vulnerat et medetur percutit et manus eius sanabunt.«

»Amen.«

Rogatus’ Finger bewegten sich. Gebannt sah Alban zu, wie er die Hand hob, langsam, schwerfällig, und sich über die Augen strich. Seine Lider zuckten, sein Blick glitt über den Baldachin, irrte im Zimmer umher und fiel schließlich auf Alban.

»Alban ...«, flüsterte er und ließ die Hand zurück auf das Laken sinken, mit der Handfläche nach oben. Ergeben legte Alban die Finger darauf, und Rogatus drückte schwach zu. »Bruder Georg, lass uns allein.«

Der Augustiner verließ den Raum. Leise klickte die Tür ins Schloss.

»Bitte gib mir etwas gegen die Schmerzen«, sagte Rogatus so leise, dass er kaum zu verstehen war. Alban ging zum Tisch. Eine Kanne mit Wasser stand darauf sowie zwei Schalen mit Mörsern. Dazwischen lagen zwei Lederbeutel. Er öffnete sie und roch daran. Mit Bilsenkraut musste man vorsichtig umgehen, denn die Wirkung war nur schwer einschätzbar. In einer kleinen Dose fand Alban einige Kügelchen Schlafmohn. Davon nahm er zwei, zerdrückte sie mit dem Mörser und verrührte sie mit ein wenig Wasser.

»Ist es so schlimm?«, fragte er, als er wieder am Bett stand und half, die Schale zu leeren. Rogatus hatte Mühe, den Kopf zu heben, und als er getrunken hatte, sank er erschöpft zurück ins Kissen.

»Es brennt. Es fühlt sich an, als habe man mir einen Schürhaken in den Leib getrieben. Was ist passiert?«

»Heißt das, Ihr wisst es nicht?«

Langsam schüttelte Rogatus den Kopf. »Nein. Das heißt, ich bin mir nicht sicher.«

Ergeben senkte Alban die Lider. Der Kelch, es erklären zu müssen, ging nicht an ihm vorüber. »Vater Abt, wir ... wir beide waren zusammen. Ihr habt ... habt ...«, stotterte er und schwieg. Ihr habt mich geschändet!, schrie er ihn in Gedanken an. Möget Ihr dafür auf ewig im Purgatorium schmoren!

Aber er konnte es nicht aussprechen. Rogatus griff nach seiner Hand. Wieder fühlte sich Alban vor Ekel geschüttelt, doch er zog sie nicht zurück. »Martin hat Euch verletzt«, presste er heraus.

»Martin? Von wem redest du?«

»Von Martin Thiersreuth, den Ihr als Trosswächter angeheuert habt. Ihr habt ihm den Sold verweigert, obwohl er seine Arbeit zufriedenstellend erledigte. Er hat den Angriff von Wegelagerern abgewehrt und uns den Weg in die Stadt verschafft, obwohl sie geschlossen war. Wisst Ihr das wirklich nicht mehr?«

Daraufhin schwieg Rogatus lange, während er an die Zimmerdecke starrte. Seine Hand, die immer noch Albans Finger umklammerte, war schweißnass. »Oh, ich erinnere mich. Dieser unverschämte Söldner. Jaja, jetzt weiß ich es wieder. Auf deine Empfehlung hin habe ich ihn beauftragt. Wie konnte ich nur so dumm sein? Ich habe doch gleich gemerkt, was für ein schrecklicher, unberechenbarer Mensch er ist.«

Alban atmete schwer, denn diese Begegnung strengte ihn an. »Ich gehe jetzt und sehe heute Abend noch einmal nach Euch«, sagte er matt.

»Ja. Ich verlange, dass du jeden Tag nach mir siehst. Du sollst es sein, der mir die Arzneien gibt. Du allein.«

Die Vorstellung, den Unterleib des Abtes zu entblößen, um seine Wunde mit der Tinktur zu behandeln, entsetzte ihn. Um keinen Preis der Welt wollte er diesen blutigen Krater, der sich unter dem Laken verbarg, sehen oder gar anfassen müssen. Doch er wusste, dass er gehorchen würde.

***

Draußen auf dem Flur wartete Lukas, der ihn fürsorglich am Arm fasste. »Bruder Alban, wir müssen reden. Lass uns einige Schritte gehen.« Mühsam an einem Kloß im Hals schluckend, starrte Alban auf den gebeugten Kopf des Alten. Der Haarkranz um die Tonsur war dünn und so hell wie Spinnweben, die Stirn von zahllosen Äderchen und Altersflecken überzogen. Doch sein Verstand war zweifellos sehr klar.

»Ich habe mich erkundigt, wer alles von dieser Sache mitbekommen hat«, begann Lukas, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand sie hörte. »Es sind gottlob nur wenige Mitbrüder. Ich will nicht, dass irgendetwas aus dem Kloster dringt. Allein der Gedanke ist entsetzlich! Natürlich ist bekannt, dass Abt Rogatus krank ist, aber zum Glück sind keine Einzelheiten nach außen gedrungen. Wir leiden ohnehin schon unter einem angeschlagenen Ruf, seit hier Konzilteilnehmer wohnen. Oh, nichts gegen die italienischen Kardinäle und ihr Gefolge, Gott möge sie schützen, aber ihre Söldner bringen eben gewisse lose Sitten mit sich. Überhaupt gilt ja die ganze Stadt derzeit als ein einziges Hurenhaus, und, bei Gott, wir alle hier können nur warten, dass das irgendwann ein Ende nimmt.« Der Prior hüstelte verlegen. »Hat sich Rogatus zu dieser schrecklichen Tat geäußert?«

Alban kaute auf der Unterlippe. Wieder musste er lügen; es nahm kein Ende, und er verabscheute es so sehr, dass er drauf und dran war, die Wahrheit zu sagen. »Nun, er ... er meint, das habe einer der Söldner getan. Wegen des Geldes.«

»Es ging um Geld?«

Ihm lag auf der Zunge, dass Rogatus und Martin andauernd gestritten hatten, aber damit hätte er seinen Abt entblößt. Es stand einem Mönch nicht an, schlecht über einen Mitbruder zu sprechen. »Ja, da gab es wohl Uneinigkeit.«

»Wie schändlich.« Lukas schüttelte das fast kahle Haupt. »Nun ja, wir müssen jedenfalls dafür sorgen, dass Rogatus es übersteht. Für seine Genesung soll alles getan werden. Er soll zwei zuverlässige Söldner aussuchen, sein Gemach zu bewachen. Es wäre ja möglich, dass der Mörder vollenden will, was er begonnen hat.«

In diesem Augenblick drang ein Schrei aus Rogatus’ Gemach, so markerschütternd, dass Lukas zusammenzuckte und eine Hand auf sein Herz legte. Alban hastete zur Tür und riss sie auf. Rogatus saß aufrecht im Bett, die Beine gespreizt, die Hände ins Bettlaken gekrallt. Ein Blutfleck hatte sich auf seiner Decke gebildet, und er starrte an sich hinab.

»Was ist das?«, schrie er, die Augen so weit aufgerissen, wie es nur möglich war. »Herrgott, was ist das? Warum blute ich da unten?«

Alban beugte sich über ihn, um ihn in die Kissen zurückzudrücken. Doch es gelang nicht, Rogatus schlug mit all seiner verbliebenen Kraft nach ihm. »O Herr im Himmel, steh mir bei! Alban, Alban!« Plötzlich zog er ihn an sich und fing erbärmlich an zu weinen. »Es ist nicht wahr. Bitte lass es nicht wahr sein! Bitte!«

Geduldig wartete Alban, bis Rogatus erschöpft zurücksank, dann sagte er: »Es ist wahr.«

»Nein.«

»Doch.« Alban warf einen Blick zurück zur Tür und bemerkte erleichtert, dass Lukas es vorzog, draußen zu warten. Leise zitierte er aus dem Evangelium nach Matthäus: »Et si dextera manus tua scandalizat te abscide eam et proice abs te expedit tibi ut pereat unum membrorum tuorum quam totum corpus tuum eat in gehennam.«

Rogatus warf den Kopf hin und her, schlug die Hände vors Gesicht und stieß heulende Laute aus. Nur allmählich beruhigte er sich. »Du bist schuld!«, raunte er durch seine Finger. »Warum habe ich nur auf dich gehört? Allein und zu Fuß hätte ich mich nach Konstanz aufmachen sollen, wie ein Pilger mich allein Gottes Schutz anvertrauend.«

»Es tut mir leid«, murmelte Alban leise.

Rogatus nahm die Hände herunter. Sein Gesicht war hassverzerrt. »Er wird bezahlen, das schwöre ich«, sagte er heiser und mit einer plötzlichen Ruhe, die Alban erschütterte. »Martin von Thiersreuth! Du wirst mir nicht entkommen, egal wohin du fliehst. Ich werde dir das Handwerk legen, und wenn es das Letzte ist, was ich auf Erden tue. Auf dem Rad will ich dich sehen; ich will dich um Gnade schreien hören. Wo ist der Verbrecher?«

»Er ist geflohen.«

»Ist er noch in der Stadt?«

»Das weiß ich nicht.«

Wer es verstand, durch ein geschlossenes Tor hereinzukommen, gelangte zweifellos auch wieder hinaus. Alban hoffte inbrünstig, dass es so war und Martin die Stadt längst verlassen hatte. Am besten nicht nur die Stadt, sondern auch sein Leben. Fort, einfach fort. Mochte er eine weitere Pilgerreise machen und verschollen gehen. Mochte Gott seiner getriebenen Seele gnädig sein – solange er nur verschwand und kein Lebenszeichen mehr von sich gab.

Das Zeichen des Ketzers

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