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Geisterstunde

Den gestrigen freien Sonntag hatte ich genutzt, um die Halloween-Lesung für die Kinder vorzubereiten. Ich hatte mir die neusten Bände der Gänsehaut-Reihe genommen und eine passende Geschichte herausgesucht, die ich vorlesen wollte. Monster-Trinkbecher und kleine Geschenktütchen durften nicht fehlen, also hatte ich mich auch darum gekümmert.

Bevor ich den Laden öffnete, hatte ich die kleinen Snacks vorbereitet. Muffins, die wie Spinnen und Kürbisse aussahen, Würstchen-Mumien, Bananen-Geister, Mandarinen-Kürbisse und kleine Hexenbesen aus Salzstangen und Käse.

Ich musste nur noch Platz für die Leseecke und das kleine Buffet schaffen, dann war ich bereit für den heutigen Abend.

Der Vormittag war wieder sehr ruhig. Bis zu meiner Mittagspause verirrte sich nur eine ältere Dame in meinen Laden, die nach einem Gartenratgeber suchte, den ich allerdings bestellen musste. Glücklicherweise war das kein Problem für sie.

»Haben Sie Enkelkinder?«, fragte ich, bevor sie ging, und sie nickte.

»Ja, zwei Jungs, fünf und sieben, ganz bezaubernd, wenn auch ein bisschen wild.«

»Vielleicht möchten Sie den beiden eine Freude machen und sie zu meiner Halloween-Lesung begleiten? Es gibt Getränke, Snacks und Gruselgeschichten.«

Die Frau betrachtete meinen Flyer und lächelte mich schließlich an.

»Eine ausgezeichnete Idee, junge Frau. Ich werde die beiden fragen, ob sie Lust haben. Auf Wiedersehen.«

Ich nickte ihr zu und sie verließ das Geschäft.

In meiner Mittagspause durchsuchte ich das Lager nach Büchern, die sich für Halloween eigneten und die ich für ein Sonderangebot nutzen konnte. Zwei Bücher zum Preis von einem, so etwas lockte doch normalerweise jede Menge Leute an. Ich beschrieb meine Werbetafel neu und gestaltete einen Angebotstisch um. Zum Glück hatte ich ein bisschen Halloween-Deko übrig.

Am späten Nachmittag holte ich einige Decken und Sitzkissen aus dem Lager. Wofür Grams sie dort untergebracht hatte, wusste ich nicht, doch ich war froh, dass sie da waren. Ich räumte das Spielzeug in der Kinderecke zur Seite und schaffte noch ein bisschen mehr Platz. Anschließend verteilte ich die Decken und Kissen auf dem Boden, legte die Bücher und eine Taschenlampe bereit und schaltete die falschen Kerzen an.

Ich hatte ein gutes Gefühl für den Abend und hoffte, dass er ein Erfolg werden würde.

Gerade als ich überlegte, wo ich die Snacks hinstellen sollte, klingelte das Türglöckchen. Ich drehte mich um und ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus, als ich Jamie entdeckte.

»Hallo Gruselprinzessin«, grüßte er und umarmte mich.

»Hey, was machst du denn hier?«

Ich löste mich von ihm und sah ihn fragend an.

»Ich war gerade zufällig in der Nähe und dachte, ich schau mal bei dir vorbei. So wie es aussieht, hast du heute Abend etwas Großes vor.«

»Irgendetwas musste ich mir einfallen lassen, um Kunden in den Laden zu locken. Ich hoffe nur, es funktioniert und es kommen ein paar Leute.«

»Läuft es nicht gut?«

»Nein, leider nicht«, meinte ich niedergeschlagen und lächelte traurig. »Das tat es schon nicht, als meine Großmutter noch lebte. Mom und ich sind vor der Eröffnung die Zahlen durchgegangen. Grams hat seit Jahren keinen Gewinn mehr gemacht und so wie es aussieht, alles aus ihren privaten Anlagen genommen.«

»Und dabei dachte ich, lesen würden die Leute immer.«

Ich schüttelte den Kopf. »Natürlich lesen die Leute, aber wahrscheinlich ist es bequemer, alles im Internet zu bestellen. Ich bin in dem Punkt ein bisschen zwiegespalten.«

»Du wirst es hinbekommen, Mina, ich glaube an dich.«

Jamie wollte mich aufbauen, doch das gelang ihm nicht besonders gut. Auch wenn dieser Abend ein Erfolg werden würde, deckte er nicht die Summen, die ich diese Woche hätte einnehmen müssen, um den Laden zu halten.

»Was hältst du davon, wenn ich hierbleibe und dir helfe? Meine kleine Nichte Emma sagt immer, ich würde sehr gut vorlesen.«

»Jamie, das ist nicht nötig«, hielt ich sofort dagegen. Zeit mit ihm zu verbringen war Gift für mich, das hatte ich schon einmal feststellen müssen. Irgendetwas hatte er an sich, das mich jede Rationalität vergessen ließ. Dieser Abend sollte ein Erfolg werden und ich durfte mich auf keinen Fall ablenken lassen.

»Musst du mir eigentlich immer widersprechen? Los, sag schon, was ich machen kann.«

Ich verdrehte die Augen und atmete laut aus. Er würde ja doch keine Ruhe geben.

»Du könntest kurz auf den Laden aufpassen, dann hole ich die Snacks, die ich vorbereitet habe, aus der Wohnung.«

»Du wohnst hier?«, fragte Jamie und legte die Stirn in Falten.

»Ja, zum Laden gehört eine Zweiraumwohnung. Sie ist nicht sehr groß, aber sie reicht mir«, antwortete ich lächelnd und stieg die Treppe hinauf. Die Leckereien stellte ich anschließend in den Kühlschrank der kleinen Küche.

»Das sieht echt süß aus.« Jamie sah mir über die Schulter und schnappte sich in einem günstigen Moment einen Muffin. Gespielt empört sah ich ihn an, verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf.

»Echt jetzt?«, fragte ich. »Bist du aus dem Alter immer noch nicht raus?«

»Ich liebe Süßigkeiten und Kuchen«, brachte er zu seiner Verteidigung hervor und hob die Schultern. »Dafür töte ich und ... hm ... das sind verdammt gute Schokomuffins.«

Jamie schob sich das letzte Stück Muffin in den Mund und kaute genüsslich. Gott, was war nur mit dem Typen los? Selbst dabei sah er verboten sexy aus.

Schnell wandte ich mich ab, in der Hoffnung mich mit irgendetwas ablenken zu können. Doch Fehlanzeige, in Jamies Gegenwart hatte ich mich einfach nicht unter Kontrolle, da versagte selbst die beste Ablenkung.

Obwohl es anfangs so ausgesehen hatte, als würde sich niemand in mein kleines Gruselparadies verirren, füllte sich der Laden dann doch relativ schnell. Schon bevor das erste Wort vorgelesen wurde, fielen die Kinder über die kleinen Leckereien her und suchten sich schließlich mit ihren Eltern einen Platz in der Kuschelecke.

Jamie und ich betrachteten das bunte Treiben und ich ließ noch einen Blick durch meinen Laden schweifen. Ich hatte die Kronleuchter ausgeschaltet und die LED-Kerzen erhellten den Raum mit ihrem sanften Licht. Im Schaufenster leuchteten die roten Augen meiner Skelette und meine Kunstspinnen und Fledermäuse sahen in dem wenigen Licht täuschend echt aus. Und auch das Wetter spielte mir in die Hand. In den letzten Stunden war es stürmisch geworden. Der Wind brachte Regentropfen mit sich, die nun gespenstisch an die Scheibe trommelten.

Nachdem alle Platz genommen hatten, setzten auch wir uns zu den Kindern auf den Fußboden. Ich sah in die geschminkten und erwartungsvollen Gesichter der Kleinen und lächelte verschwörerisch.

»Wer von euch ist mutig?«, fragte ich mit leiser, kratziger Stimme und blickte unter meinem Hexenhut hervor, den ich mir zusammen mit der Dekoration besorgt hatte. Sofort schossen alle Hände in die Luft.

»Wer von euch hat keine Angst vor Spinnen und traut sich, meinem Haustier Hallo zu sagen?«

In den Händen hielt ich eine Plastikspinne, die ich noch vor den vielen neugierigen Augen versteckte. Ich tat so, als würde ich sie streicheln, und blickte schließlich in die Runde. Nur ein paar Jungen hoben zögerlich die Hände. Ich wählte einen Enkel der älteren Dame, die am Vormittag bei mir gewesen war.

»Du ... du sollst ihr Hallo sagen. Wie heißt du?«

»Marvin.«

Er rutschte mutig zu mir herüber und ich öffnete ganz langsam meine Hände, als würde ich sie ihm zeigen.

»Aber Vorsicht, Marvin!«, sagte ich plötzlich laut und die Kinder erschreckten sich allein davon. Ich lächelte stumm und verschloss meine Hände wieder. »Manchmal beißt meine Glitterbell. Aber wenn du es schaffst, während des gesamten Abends auf sie aufzupassen, bekommst du eine Belohnung.«

Marvin nickte zuversichtlich.

»Gut, dann streck mir deine Hände entgegen.«

Er tat es zögerlich und ich tauschte einen Blick mit Jamie, der sanft lächelte. Dann setzte ich Marvin meine Plastik-Glitterbell auf die Hände und er starrte sie einfach nur an.

»Die ist nicht echt«, sagte er plötzlich, doch darauf war ich vorbereitet.

»Aber das wird sie, wenn ich sie verzaubere, und dann bringt sie all ihre Schwestern mit. Wollen wir es ausprobieren?«

»Neeeeinnn!«, kreischten die Mädchen im Chor und Marvin rutschte mit der unechten Glitterbell auf seinen Platz.

Während der Junge brav auf die Spinne aufpasste, begann Jamie mit der Lesung. Er las sehr gut vor, erhob seine Stimme an den richtigen Stellen und gestaltete es sehr spannend für die Kinder. Er gab das Buch gar nicht mehr aus der Hand, doch das war nicht schlimm. Mit der Zeit begannen die Eltern sich im Laden umzusehen. Neben Kinderbüchern wanderten auch einige Romane meiner Rabatt-Aktion über den Ladentisch.

Ich lehnte mich auf meinen Kassentresen und betrachtete Jamie. Er hatte das Buch beiseitegelegt und erfand nun eine Geistergeschichte für die Kinder. Ich musste lächeln, denn es machte beinahe den Anschein, als hätte er nie etwas anderes getan.

Plötzlich hob er seinen Blick und seine blauen Augen fixierten mich. Ein sanftes Kribbeln breitete sich in meinem Inneren aus und ich wandte verlegen den Blick ab. In Jamies Nähe war alles so leicht und fühlte sich richtig an ... wie schon vor so vielen Jahren.

»Sind Sie ein Paar?«, fragte Marvins Großmutter plötzlich und legte zwei Kinderbücher auf den Tresen. Ich hatte nicht mitbekommen, dass sie sich mir genähert hatte.

»Nein, nur Freunde«, antwortete ich, dabei war ich mir nicht einmal sicher, ob wir wenigstens das waren.

»Das sollten Sie ändern, meine Liebe. Aber so wie er Sie immer wieder ansieht, dauert es ohnehin nicht mehr lange.« Sie zwinkerte mir zu und reichte mir das Geld, das sie mir schuldete.

Nach insgesamt drei Stunden voller Grusel und Spaß war mein kleiner Laden wieder leer.

»Ohne dich wäre der Abend nicht so grandios geworden«, sagte ich lächelnd an Jamie gewandt, der nach wie vor auf der Decke saß.

»Los, komm her«, grinste er mich an und deutete auf den Platz neben sich. »Du hast dir ein bisschen Entspannung verdient.«

Mit dem Rest der Halloween-Snacks ging ich zur Leseecke und ließ mich neben ihn auf den Boden sinken. Ich stellte die Platte mit dem Essen vor uns ab und schnappte mir einen Bananen-Geist.

»Du solltest öfter Themenabende für Kinder veranstalten«, sagte Jamie und nahm sich einen Muffin. »Die Kleinen waren begeistert.«

»Aber nur, wenn du wieder dabei bist«, grinste ich ihn frech an.

»Das bin ich definitiv. Du kannst mich als Inventar verbuchen.« Er zwinkerte und biss in den Muffin.

In meinem Inneren breitete sich ein wohliges Gefühl aus und ich seufzte kaum hörbar.

»Bei dem Angebot weiß ich nicht, ob ich dich je wieder gehen lassen werde«, flüsterte ich und sah ihn unsicher an. Sein Lächeln verschwand, doch sein Blick hatte etwas Sanftes.

»Dann tu es einfach nicht.«

In Jamies Augen lag so viel, das eigentlich nicht richtig war und dennoch fühlte es sich an, als wäre es genau das. Das Kribbeln in meinem Bauch wurde intensiver. Immer und immer wieder erinnerte ich mich daran, dass ich mich auf keinen Fall in ihn verlieben durfte. Aber wie sollte ich das meinen Gefühlen beibringen? Diese Biester machten seit Jahren, was sie wollten.

»Ich glaube, deine Freundin könnte etwas dagegen haben, wenn ich dich für immer behalte.«

Mir war bewusst, dass ich den Moment damit zerstörte, doch je weniger Hoffnungen ich mir selbst machte, umso geringer würde die Enttäuschung im Nachhinein sein.

»Manchmal frage ich mich wirklich, ob es Eleonore stören würde oder ob sie nicht vielleicht erleichtert wäre.«

Jamie löste seinen Blick von mir und starrte ins Leere. Er war unglücklich, das hätte sogar ein Blinder bemerkt. Aber irgendetwas musste ihn mit seiner Freundin verbinden, sonst hätte er längst einen Schlussstrich gezogen.

»Das findest du nur raus, indem du offen mit ihr darüber sprichst.«

Eine weitere Stunde später ging auch Jamie und ich schloss die Ladentür ab. Zuvor hatte ich kontrolliert, ob ich einen neuen Brief bekommen hatte. Leider fand ich keinen. Am Ende hatte mein geheimnisvoller Briefeschreiber meine Antwort nicht einmal bekommen, weil irgendjemand anderes den Umschlag aus den Blumen genommen hatte.

Es war zum Verzweifeln ...

In Liebe Mina

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