Читать книгу In Liebe Mina - Sabrina Heilmann - Страница 9

Оглавление

Grams kleines Reich

Als ich am Buchladen ankam, blieb ich einige Sekunden vor dem Schaufenster stehen und betrachtete mein Spiegelbild. Meine orangeblonden Haare leuchteten, ebenso wie meine außergewöhnlichen, hellbraunen Augen, die ich von meiner Großmutter geerbt hatte. Mein Gesicht war schmal, etwas schmaler, seit ich von ihrem Tod erfahren hatte. Ich hatte viele Tränen vergossen, kaum gegessen und mich durch die Tage geschleppt, in der Hoffnung, der Schmerz würde nachlassen. Dabei hatte ich mich selbst aus den Augen verloren. Ich hatte abgenommen, wirkte mit meinen gerade einmal Eins fünfundsechzig noch zierlicher. Das dunkelblaue Kleid, das ich trug, saß, ebenso wie die schwarze Leggins und mein heller Trenchcoat, viel zu locker.

Nach zwei Monaten war der Schmerz zwar nicht verschwunden, doch ich erreichte einen Punkt, an dem ich wusste, dass ich so nicht weitermachen konnte. Grams war nun an einem Ort, an dem es ihr besser ging. Sie würde nicht wollen, dass ich mich wegen ihr so gehen ließ.

Seufzend zog ich den Ladenschlüssel aus meiner Jackentasche und öffnete die Tür. Das kleine Glöckchen schellte und erwärmte mein Herz. Sofort schlug mir der typische Büchergeruch in die Nase, den ich liebte, seit ich denken konnte.

Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, zog ich meinen Trenchcoat aus und schaltete das Licht ein.

Großmutters Buchladen machte einen düsteren Eindruck mit den fast schwarzen Regalen, die sich aneinanderreihten, den dunklen Tischen und dem alten Kassentresen aus Massivholz. Unwohl fühlte ich mich deswegen jedoch nicht. Das wärmende Licht der zarten Lampen gab mir ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit.

Trotz alledem war der Laden nach Großmutters Tod eingestaubt. Ich konnte in den letzten Monaten nicht herkommen und weitermachen. Alles verband ich mit ihr, jedes einzelne Buch rief eine Erinnerung hervor, gegen die ich niemals hätte ankämpfen können. Grams würde für immer ein Teil dieses kleinen Reiches sein, selbst dann noch, wenn ich einmal alt wäre.

»Es ist Zeit für einen Tee, oder was meinst du, Grams?«, sagte ich in die Stille hinein und hoffte, sie würde mich da, wo sie jetzt war, hören.

Mit einem Lächeln auf den Lippen zog ich mich in die kleine Küche zurück und setzte Teewasser auf. Grams hatte nichts von neumodischem Schnickschnack gehalten, also füllte ich das Wasser in den traditionellen Teekessel. Ein Erbstück meiner Ururgroßmutter, wie Grams mir stolz berichtet hatte.

Während das Wasser auf dem Ofen erhitzt wurde, ging ich die unterschiedlichen Teesorten durch. Letztendlich entschied ich mich wie immer für Pfirsich. Gedankenverloren sog ich sein Aroma ein und füllte ihn in den leeren Teebeutel. Grams hatte nur losen Tee gekauft und nie die fertig abgepackten Päckchen. Sie hatte darauf geschworen, dass das Getränk so viel intensiver schmeckte, und sie behielt recht.

Das Pfeifen des Teekessels riss mich aus meinen Gedanken und ich goss das heiße Wasser in die Tasse. Ich gab den Teebeutel hinein und trat zurück in den Verkaufsraum. Nachdem ich die Teetasse auf dem Tresen abgestellt hatte, lehnte ich mich darauf und blickte erneut durch den Raum.

Das sollte nun also mein kleines Paradies sein, der Ort, an dem ich die meiste Zeit des Tages verbringen und Großmutters Traum wahr werden lassen würde.

Lautes Prasseln schreckte mich auf und ich blickte aus dem großen Schaufenster nach draußen. Bereits in der Nacht hatte es gestürmt, nun waren auch noch schwere Wolken aufgezogen, die Regen brachten. Es war ein typischer Oktobertag im grauen London. Doch das Wetter störte mich nicht. Ich war schon immer eher der Herbsttyp gewesen. An Tagen wie diesen konnte man sich ohne Reue mit einem Buch ins Bett legen und die Ruhe genießen, die das Wetter mit sich brachte. Diese Jahreszeit würde mir immer die liebste sein.

Auch jetzt überlegte ich, mir ein Buch zu nehmen und es mir in einer der Leseecken bequem zu machen. Langsam richtete ich mich auf und spazierte in die Liebesromanecke. Meine Augen suchten das Regal nach einem Schatz ab, den ich bisher nicht kannte – was wirklich schwierig war.

Ich liebte Liebesromane, gut durchdachte Bücher mit sympathischen Hauptpersonen. Nicht diese Macho-Typen, die eine Million nach der nächsten verprassten und sich ein unscheinbares Püppchen suchten, das ihnen nicht die Stirn bot.

Vertieft in den Klappentext eines Romans bemerkte ich nicht, dass das kleine Glöckchen an der Tür erneut schellte und einen Besucher ankündigte. Erst als ich das leise Tropfen wahrnahm, das der Regen verursachte, der von seiner Jacke abperlte, drehte ich mich erschrocken um. Vor mir stand ein junger Mann, der etwa in meinem Alter sein musste. Seine längeren, dunkelbraunen Haare hingen strähnig vom Regen herab. Er trug einen Dreitagebart, der sein kantiges Gesicht einrahmte, und seine schmalen Lippen zeigten ein freundliches Lächeln. Offenbar hatte ihm das schlechte Wetter nicht die Laune verhagelt. Ich sah ihm in die Augen und hielt für einen kurzen Moment den Atem an. Wunderschön und tiefblau strahlten sie mich an und warteten nur darauf, dass ich mich in sie verliebte ... wie damals.

Ein vertrautes Gefühl durchzog mich. Doch bevor ich herausfand, wodurch es ausgelöst wurde, ermahnte ich mich, mich zusammenzureißen. Blinzelnd riss ich meinen Blick von ihm los und dachte daran, dass ich etwas sagen musste.

»Eigentlich ist der Laden geschlossen«, stammelte ich und lächelte unsicher. Ich benahm mich so albern wie die weiblichen Hauptpersonen in den Kitschromanen, wenn sie ihrer großen Liebe zum ersten Mal begegneten.

»Entschuldige. Ich dachte, es wäre geöffnet, weil Licht brennt.« Er schien in diesem Moment mindestens genauso unsicher wie ich. »Dann gehe ich wohl besser wieder.«

»Auf keinen Fall. Wenn du schon einmal hier bist, kannst du mir auch sagen, was du suchst.«

Abwartend sah ich ihn an und er wirkte plötzlich erleichtert.

»Zum Glück, meine Freundin hätte mir die Hölle heißgemacht, wenn ich ohne das Buch zurückgekommen wäre. Leider habe ich vergessen, wie es heißt.« Verlegen fuhr er mit der Hand durch seine Haare und sah mich entschuldigend an, während ich noch mit der Information kämpfte, dass er eine Freundin hatte. Dann war das also doch nicht mein persönlicher Liebesromananfang. Schade, diese blauen Augen hätten mir tatsächlich den Verstand rauben können.

»Natürlich hast du das«, grinste ich frech und fing mich schnell wieder. »Es wäre auch wirklich zu einfach gewesen, hättest du dich an den Buchtitel erinnert. Also, wie sieht es aus, hast du irgendwelche Anhaltspunkte für mich?«

Sein Blick wurde hilfloser. »Ich weiß, dass es ein Liebesroman ist.«

»Hey, dann stehen wir immerhin schon richtig«, scherzte ich überschwänglich und deutete auf das Regal hinter mir. »Hast du eine Idee, wie das Cover aussieht?«

»Ja, darauf war eine junge Frau, die ein Buch in der Hand hält. Meine Freundin hat es mir auf dem Handy gezeigt.«

Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus. Diese Information reichte mir schon. Ich drehte mich zum Regal, suchte die Reihen mit meinen Augen ab und blieb schließlich am Debütroman von Julie Renouard, einer jungen französischen Autorin, hängen. Zielsicher zog ich das Buch aus der Reihe und zeigte es dem jungen Mann.

»Ja, genau das ist es. Meine Freundin meinte, man würde das Buch verfilmen und deswegen müsste sie es dringend haben.«

»Ja, davon habe ich gehört. Wenn du deiner Freundin eine Freude machen willst, solltest du das Buch Ein Winter in Paris auch mitnehmen. Das hat die Großmutter der Autorin, Aurélie Roche, geschrieben. Die beiden Bücher gehören indirekt zusammen.«

Er verdrehte die Augen und atmete lange aus. Hatte ich etwas Falsches gesagt?

»Entschuldige, ich wollte dir nichts aufschwatzen.«

Ich ging zum Kassentresen und legte das Buch darauf. Aus einem Fach darunter zog ich eine kleine Tüte hervor und packte es zusammen mit einem Lesezeichen ein. Meine Lippen waren zu einem Stich verzogen und meine Mimik ausdruckslos, als ich sie ihm reichte.

»Oh Gott, entschuldige, du hast das auf dich bezogen. So war es keinesfalls gemeint. Meine Freundin will das Buch nur haben, weil im Moment jeder darüber spricht. Eleonore hat mit Büchern nichts am Hut, außer sie haben ein hübsches Cover und machen sich gut im Regal.«

Er nahm die Tüte entgegen.

»Was bekommst du von mir?«

Ich machte eine abwinkende Handbewegung. »Lass gut sein. Heute ist ein verrückter Tag und ich habe gute Laune.«

»Danke schön.« Er schenkte mir noch ein Lächeln und wollte sich gerade zum Gehen abwenden, als meine innere Stimme begann, mich anzuschreien.

Bist du total bescheuert? Du kannst den Typen doch nicht einfach so gehen lassen! Los, sag etwas, Mina!

»Hey, wenn deine Freundin das Buch doch liest, lass mich wissen, was sie darüber denkt«, rief ich, als er gerade die Tür öffnete und der Lärm des prasselnden Regens hereindrang. Ich hätte mich ohrfeigen können, etwas Geistreicheres war mir wirklich nicht eingefallen. Trotzdem drehte er sich noch einmal zu mir um.

»Vielleicht komme ich jetzt öfter«, erwiderte er und zwinkerte mir zu.

»Ich würde mich freuen.«

Er schloss die Tür hinter sich und hob zum Abschied noch einmal die Hand, bevor er verschwand. Ich kniff die Lippen aufeinander und betrachte die Tür noch einen Moment.

Herzlichen Glückwunsch, Mina, du hast mit einem vergebenen Typen geflirtet.

Meine innere Stimme hielt mich zum Narren. Ich hätte mich maßlos über mich selbst geärgert, wäre mir dieser Umstand neu gewesen. Doch das war er nicht. Ich hatte einfach kein Geschick im Umgang mit Männern. Das hatte ich nie und würde ich wohl nie haben.

Ich schüttelte über mich selbst den Kopf, während ich mich daran erinnerte, dass ich erst einem erfolgreichen Anwalt einen Korb gegeben und schließlich einen für mich unerreichbaren Typen angeschmachtet hatte.

»Eine Katastrophe, ich sag es ja«, murmelte ich in den leeren Raum hinein und griff nach meiner Teetasse. »Grams, ich werde als einsame Jungfer im Buchladen sterben. Vielleicht habe ich eine Katze ... oder gleich zehn.«

Das waren wirklich rosige Aussichten.

In Liebe Mina

Подняться наверх