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Kapitel 1
Reflexe und ihre Auswirkungen auf Erfolg oder Versagen in der Erziehung
ОглавлениеWenn ein Kind geboren wird, verlässt es das weiche, schützende Polster der Gebärmutter, um in eine Welt zu kommen, in der es von einer fast überwältigenden Masse an Sinnesreizen bestürmt wird. Es kann diese Gefühlsreize, die es umschließen, nicht interpretieren. Sind sie zu stark oder zu plötzlich, wird es auf sie reagieren, aber es ist nicht in der Lage, die eigene Reaktion zu verstehen. Es hat eine Welt des Gleichgewichts gegen eine Welt des Chaos eingetauscht; es hat die Wärme verlassen und findet Hitze und Kälte vor. Das Neugeborene wird nicht mehr automatisch mit Nahrung versorgt; es muss anfangen, bei der eigenen Nahrungsversorgung mitzuwirken. Es erhält auch nicht länger Sauerstoff aus dem Blut der Mutter, also muss es jetzt selbst atmen. Es muss beginnen, die Erfüllung seiner eigenen Bedürfnisse zu suchen und zu finden.
Um zu überleben, ist es mit einer Anzahl frühkindlicher Reflexe ausgestattet, die die unmittelbare Reaktion auf diese neue Umgebung und die sich verändernden Bedürfnisse sicherstellen sollen. Frühkindliche Reflexe sind automatische, stereotype Bewegungen, die vom Gehirnstamm gelenkt und ohne Beteiligung des Kortex ausgeführt werden.
Bewusstsein ist nur möglich, wenn der Kortex am Geschehen beteiligt ist.
Die Reflexe sind grundlegend für das Überleben des Babys in den ersten Lebenswochen und bilden ein rudimentäres Training für viele spätere willensgesteuerte Fertigkeiten. Allerdings sollten die frühkindlichen Reflexe nur eine begrenzte Lebensdauer haben; sobald sie ihre Aufgabe erfüllt haben und dem Baby geholfen haben, die ersten riskanten Lebensmonate zu überleben, sollten sie durch höhere Zentren des Gehirns gehemmt oder kontrolliert werden. Ausdruck dafür ist die Entwicklung höher entwickelter Nervenstrukturen, die dem Kleinkind dann die Kontrolle über willentliche Reaktionen ermöglichen.
Bleiben diese frühkindlichen Reflexe jedoch nach dem sechsten bis zwölften Lebensmonat aktiv, so werden sie als abweichend eingestuft; das Vorhandensein der Reflexe weist dann auf eine strukturelle Schwäche oder Unterentwicklung innerhalb des zentralen Nervensystems (ZNS) hin. Eine anhaltende Aktivität der frühkindlichen Reflexe kann ebenfalls die Entwicklung der nachfolgenden Halte- und Stellreflexe verhindern, die jetzt auftreten sollten, um dem sich entwickelnden Kind die erfolgreiche Interaktion mit seiner Umwelt zu ermöglichen. Frühkindliche Reflexe, die über das Lebensalter von sechs Monaten hinaus noch aktiv sind, können das Beibehalten unreifer Verhaltensmuster verursachen; es ist auch möglich, dass trotz des Erwerbs späterer Fertigkeiten unreife Systeme vorherrschend bleiben. Ein Elternteil beschrieb sein Kind so: „Da ist immer noch ein Kleinkind im Körper eines zehnjährigen Kindes aktiv.“
Je nachdem wie stark die Reflexaktivität von der normalen Entwicklung abweicht, kann diese schlechte Organisation der Nervenzellen eine oder alle Funktionsgebiete betreffen; nicht nur die grob- oder feinmotorische Koordination, sondern auch sensorische Wahrnehmung, Kognition und Ausdrucksvermögen.
Wahrnehmung ist das Registrieren sensorischer Information im Gehirn.
Kognition ist die Interpretation und das Verstehen dieser Information.
Die „Grundausstattung“, die für das Lernen unerlässlich ist, wird trotz adäquater intellektueller Fertigkeiten fehlerhaft oder ineffizient sein. Es ist, als ob spätere Fertigkeiten an eine frühere Entwicklungsstufe gebunden bleiben und, anstatt automatisiert zu werden, nur durch kontinuierliche bewusste Anstrengung ausgeführt werden können.
Die frühkindlichen Reflexe erscheinen bereits im Mutterleib, sind bei der Geburt vorhanden und sollten mit ungefähr 6 Monaten, spätestens aber im Alter von 12 Monaten gehemmt werden.
Die Hemmung eines Reflexes steht oft mit dem Erwerb einer neuen Fertigkeit in Beziehung; das Wissen über die Reflexchronologie und die normale kindliche Entwicklung sollte also kombiniert werden, damit vorausgesagt werden kann, welche spätere Fertigkeit vielleicht als direkte Folge eines beibehaltenen frühkindlichen Reflexes beeinträchtigt worden ist. So wie der oben zitierte Elternteil von dem Kleinkind berichtete, das noch immer im Körper des Schulkindes aktiv ist, können wir sagen, dass die abweichenden Reflexe uns Aufschlüsse über die Faktoren geben können, die spätere Fertigkeiten aktiv behindern.
Hemmung ist die Unterdrückung einer Funktion durch die Entwicklung einer anderen Funktion. Die erste Funktion wird in die zweite integriert.
Enthemmung tritt in der Folge von Traumata auf; auch im Verlauf der Alzheimerschen Krankheit, bei der Reflexe in umgekehrter chronologischer Reihenfolge auftauchen.
Ein Aufdecken abweichender frühkindlicher Reflexe kann so dazu beitragen, die Ursachen für das Problem eines Kindes derart zu isolieren, dass zusätzliche Förderung effektiver und zielgerichtet eingesetzt werden kann. Ist das Reflexprofil nur leicht abweichend, sind Unterrichtsstrategien allein normalerweise ausreichend. Kinder, die nur einen mäßigen Grad an Reflexanomalie zeigen, werden vielleicht von einer Kombination von speziellem Unterricht und Bewegungstraining, ausgerichtet auf Förderung von Gleichgewicht und Koordination, profitieren. Falls allerdings eine Häufung abweichender Reflexe vorliegt, sprechen wir von der Existenz einer neurophysiologischen Entwicklungsverzögerung. In solchen Fällen wird das Kind nur nach einem individuell zugeschnittenen Programm zur Reflexhemmung, mit dem die noch vorhandenen abweichenden Reflexe behandelt werden, in der Lage sein eine dauerhafte Verbesserung zu erzielen.
Ein Programm zur Stimulierung und Hemmung von Reflexen besteht aus spezifischen stereotypen Bewegungen, die über einen Zeitraum von neun bis zwölf Monaten etwa fünf bis zehn Minuten täglich in Form eines Trainingsprogramms durchgeführt werden. Basis dieses Bewegungsprogramms sind die detaillierte Kenntnis der Reflexchronologie und der normalen kindlichen Entwicklung. Thelan (1979) beobachtete, dass alle Babys während ihres ersten Lebensjahres eine Reihe stereotyper Bewegungen ausführen. Das Institute for Neuro-Physiological Psychology (Institut für neurophysiologische Psychologie, INPP) in Großbritannien und Schweden vertritt die Auffassung, dass spezifische Bewegungsmuster, die in den ersten Lebensmonaten auftreten, eine natürliche Reflexhemmung beinhalten; demnach bleiben diese Reflexe bei einem Kind, das diese Bewegungen niemals in der richtigen Abfolge ausgeführt hat, im Erwachsenenalter aktiv. Durch die Anwendung stilisierter, in einer bestimmten Reihenfolge angeordneter und täglich ausgeführter Bewegungen ist es möglich, dem Gehirn eine „zweite Chance“ zu geben, jene Reflex hemmenden Bewegungsmuster zu registrieren, wie es schon zu einem früheren, angemessenen Zeitpunkt in der Entwicklung hätte geschehen sollen. Sobald die abweichende Reflexaktivität korrigiert ist, werden viele der körperlichen, lernspezifischen und emotionalen Probleme des Kindes verschwinden.
Ein Reflex ist eine unwillkürliche Reaktion auf einen Reiz und auf den gesamten physiologischen Prozess, der ihn aktiviert.
Jeder Reflex spielt eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht spätere Funktionen vorzubereiten. Um zu verstehen, was falsch läuft, wenn Reflexe abweichend werden, ist es wichtig zu verstehen, welche Aufgabe die einzelnen Reflexe normalerweise erfüllen. Hierfür müssen wir zu den frühesten Lebenswochen des Embryos zurückkehren – gerade fünf Wochen nach der Empfängnis. Zu diesem Zeitpunkt beginnt der Embryo, Reaktionen auf äußere Reize zu zeigen. Ein sanftes Berühren der Oberlippe wird den Embryo veranlassen, sich in einer amöbenähnlichen Reaktion diesem Reiz sofort zu entziehen. Nur wenige Tage später wird sich diese sensible Zone ausgebreitet haben und wird nun auch die Handflächen und Fußsohlen einschließen, bis schließlich die gesamte Körperoberfläche empfindlich auf Berührungen reagiert. In diesem Stadium besteht die Reaktion jedoch immer in einem Rückzug von der Kontaktquelle; es ist eine Reaktion des ganzen Körpers. Während sich das taktile Bewusstsein entwickelt, nimmt das Sich-Zurückziehen bei Kontakt langsam ab.
Die Entwicklung des Nervensystems – nicht das chronologische Alter – bestimmt, in welchem Alter der jeweilige Reflex entsteht und zu welchem Zeitpunkt er gehemmt wird. Somit können das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von Reflexen in Schlüsselstadien der Entwicklung als diagnostische Zeichen der Reife des Zentralen Nervensystems (ZNS) dienen.
Wenn die Rückzugsreflexe langsam nachlassen – vermutlich in der neunten Schwangerschaftswoche – bildet sich der erste frühkindliche Reflex heraus. Der Moro-Reflex erscheint neun bis zwölf Wochen nach der Empfängnis und entwickelt sich kontinuierlich während der Schwangerschaft, so dass er zum Zeitpunkt der Geburt vollständig vorhanden ist. Im Folgenden werden die verschiedenen Reflexe im Überblick dargestellt.