Читать книгу 151 - Sam Rimola - Страница 11
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ОглавлениеNoch während uns Benni weiterhin seinen wilden Indianertanz vorführte und dabei interessante Kostproben aus seinem umfangreichen Fäkalsprachen-Wortschatz präsentierte, brachten sich schon die nächsten Buchstaben in Position.
»Ausflug ins Grüne«, stand da. Im Vergleich zu dem muffigen Treppenhaus und dem tobenden Benni, klang das für mich sogar richtig verführerisch. Auch Hanno und Vicki sahen nicht so aus, als hätten sie ein Problem damit.
Ich begann mir bereits Gedanken zu machen, welchen Park wir für unseren Ausflug bevorzugen würden, da gewann Bennis Gezeter plötzlich an Intensität. Unglaublich, dass es da noch Steigerungsmöglichkeiten gab.
»Himmel, jetzt wird es auch noch grün«, rastete er regelrecht aus. Verwundert folgte ich seinem Blick.
Das Grün, von dem er gesprochen hatte, zeigte sich in Form von Moos, welches gerade weich und dick zwischen seinen Zehen hervorquoll. Und nicht nur dort. Der gesamte Treppenhausboden war inzwischen unter einer dicken Moosschicht verschwunden. Selbst von dem Fußabtreter vor der Nachbartür mit dem viel versprechenden Spruch „Tür zur Hölle“ waren nur noch die Umrisse zu erahnen. Schon hatte das Moos sämtliche Kindersandalen, Sporttreter und gammelige Springerstiefel überwuchert, als einzelne Moosflechten anfingen, die Wände hinaufzukriechen. Wie im Zeitraffer verschwanden Klingelknöpfe, Lichtschalter und alle Filzstiftgraffitis, mit denen ein rechtschreibschwacher und talentfreier Künstler versucht hatte, seine Ansichten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Jede auch nur zipfeligste Ecke war jetzt von dicken Moosflechten befallen, als handele es sich um eine besonders gefährliche Art grünen Schimmels. Unwillkürlich rückten wir alle ein wenig näher zusammen.
Sogar Benni hielt mit einem Mal die Klappe und ließ die Kinnlade unvorteilhaft hängen. Als nächstes verwandelten sich Teile der Wände in meterdicke Baumstämme. Unaufhaltsam wuchsen sie in die Höhe und rissen dabei die Treppenhausdecke mit sich. Wie aus Kanonen gefeuert schoss sie in den Himmel, bis wir sie aus den Augen verloren. Anschließend begann Efeu aus dem Boden zu sprießen. In langen Ranken kletterte es an einigen Baumriesen empor. Schon hatte der Raum sämtliche Konturen verloren. Nichts, absolut überhaupt nichts, erinnerte mehr an ein Treppenhaus. Immer mehr Bäume schossen aus dem Boden. Jeder schien dem anderen bis aufs letzte Blatt zu gleichen, als hätte man einen davon auf einen übergroßen Kopierer gelegt und bei Seitenzahlen ein „Unendlich“ eingegeben. Egal wohin wir blickten, soweit das Auge reichte, setzte sich der Wald fort und nahm kein Ende. Hoch über uns war mittlerweile ein dichtes Blätterdach zusammengewachsen und tauchte alles in ein grünliches Dämmerlicht. Nur ein paar wenige Sonnenstrahlen fanden einen Weg hindurch und warfen kleine, scharfkantige Lichtflecken in das Moos. Wo sie das Moos berührten, stiegen zarte Nebelschwaden auf, in denen Millionen kleiner Staubteilchen einen wilden Tanz veranstalteten.
All das war bisher völlig lautlos abgelaufen. Umso mehr zuckten wir zusammen, als plötzlich ein riesiger Knall die Stille durchbrach und unmittelbar darauf Millionen trockene Blätter, abgestorbene Äste und vermoderte Baumstämme vom Himmel stürzten und schließlich das Bild eines authentischen Waldes abrundeten.
»Jetzt fehlen nur noch Blu …«, setzte Hanno an, nachdem er die schützenden Hände vom Kopf genommen hatte. Da kamen sie auch schon in Begleitung einiger Pilzen aus dem Moos geschossen. Selbst an den typischen, feucht-modrigen Waldduft hatte man gedacht. Im Vergleich zum Treppenhaus-Potpourri aus Schweißfußaroma, Frittenfett, Schimmel und kaltem Qualm eine geradezu erfrischende Nasen-Wellness.
»Okay, kann mir das jetzt mal jemand bitte erklären?« Nach dem Abschluss der Waldbauarbeiten, war Benni der Erste unserer kleinen Ausflugstruppe, dem es gelang, seine Gedanken wieder in sinnvolle Worte zu fassen.
»So hatte ich mir den Ausflug ins Grüne aber nicht vorgestellt«, sagte ich.
»Dingdong, Erde an Idioten! Irgendjemand zu Hause? Huhu, ich habe da ein paar Fragen.« Benni wedelte mit seiner Pelzhand vor meiner Nase. Als keiner von uns reagierte, redete er einfach weiter. »Erstens: Wie, zum Teufel noch mal habt ihr das gemacht? Zweitens: Wo kommen dein hässlicher Klon und der Schlumpf-Ballon so plötzlich her? Und drittens: Was hat dieser beknackte Kasten mit der ‘21‘ damit zu tun?«
»Erstens«, sagte Vicki. »Das wüssten wir zum Teufel noch mal selbst gern. Zweitens: Der Schlumpf ist mein kleiner Bruder und der heißt Cedric und nicht Schlumpf. Und dass er jetzt da oben schwebt sowie das Auftauchen von Tims hässlichem Doppelgänger haben wir dieser Kiste zu verdanken. Und drittens: …wieso ‘21‘?«
Aber Benni hatte Recht. Auf der Kiste stand jetzt groß und deutlich eine ‘21‘ geschrieben.
»Jetzt wird mir unheimlich«, wimmerte Hanno.
»Glückwunsch!, sagte ich. »Mir ist schon seit dem Aufstehen dauerunheimlich. Zuerst war es zugegebenermaßen nur eine Vermutung, doch jetzt besteht wohl kein Zweifel mehr daran: Diese seltsame Kugel ist definitiv die Ursache allen Übels.«
»Dir hat die Kugel also deinen singenden Doppelgänger beschert, mir das Fell und was hat der Rest dieser Gurkentruppe abgekriegt?«, fragte Benni.
»Der Kleine hier geht sofort in die Luft, wenn er etwas zu viel davon einatmet, und ich muss jetzt immer eine fette, bücherfressende Kröte mit mir herumschleppen«, erklärte Hanno und hielt Benni den geöffneten Rucksack vor die Nase. Nachdem dieser einen kurzen Blick hineingeworfen hatte, taxierte er uns, als wären wir etwas Stinkendes, das man sich schnellstens zwischen den Zahnzwischenräumen herauspulen müsste.
»Und du?«, fragte er Vicki.
Vicki tat so, als hätte sie es nicht gehört und versuchte unauffällig den vor Aufregung hin- und herpeitschenden Schwanz hinter ihrem Rücken unter Kontrolle zu bringen. Doch Benni hatte ihn schon entdeckt.
»Ey Ficki, was haben wir denn da? Ich wusste ja gar nicht, dass du so einen schönen behaarten Schwanz hast«, feixte er.
»Genauso wenig, wie ich es von dir wusste, Benjamin.«
Das hatte gesessen.
»Du willst sicherlich wissen, warum wir ausgerechnet dich ausgewählt haben«, brachte ich mich wieder ins Spiel.
»Weil Ficki sich an mir für irgendetwas rächen wollte?«, schlug Benni nicht gerade konstruktiv vor.
»Falsch«, sagte ich. »Fick … äh … Vicki hat nichts damit zu tun. Es ist die Kugel, die sich uns ausgesucht hat. Sie macht immer erst dann weiter, wenn derjenige sie berührt, dessen Name sie zeigt. Nachdem Cedric dran war, hat da plötzlich Benjamin gestanden.«
»Davon gibt es viele. Warum habt ihr ausgerechnet mich genommen?«
»Weil du nun mal der einzige Benjamin bist, den wir kennen. Außerdem hat es ja funktioniert.«
Benni sah uns eine Weile voller Argwohn an, dann nahm er sich die Kiste und öffnete den Deckel. »Da steht nichts.«
Vicki riss sie ihm aus den Händen und legte mutig eine Hand auf die Kugel: »Gleich steht da was.«
Gebannt beobachteten wir, was jetzt kommen würde.
»War ja klar, hätte ich mir ja auch denken können», seufzte Hanno, denn es war sein Name, der jetzt in der Kugel auftauchte. Er nahm die Kiste an sich.
»Halt!«, schrie Benni. »Da mache ich nicht mehr mit. Seid ihr denn alle wahnsinnig geworden? Jedes Mal, wenn einer dieses Ding berührt hat, ist doch etwas passiert. Wieso habt ihr trotzdem damit weitergemacht? Bin ich denn nur von Deppen umgeben? Was ist, wenn jetzt etwas richtig Schreckliches geschieht? So ein Wald ist ja noch ganz nett, aber es kann auch viel schlimmer kommen. Wer sagt denn überhaupt, dass wir immer weitermachen müssen? Wir können uns doch hier einfach hinsetzen und abwarten, bis der Zauber vorbei ist. Oder wir wandern los und versuchen aus dem Wald herauszukommen.«
»Und in welche Richtung müssten wir dann deiner Ansicht nach gehen?«, fragte ich.
Wir drehten uns ratlos im Kreis. In keiner Richtung sah es so aus, als würde es irgendein Ende, geschweige denn einen Ausgang geben. Benni kratzte sich den Kopf.
»Und was ist mit deinem Fell? Willst du das behalten? Ich möchte jedenfalls nicht mein Leben lang mit einem Raubtierschwanz herumlaufen«, sagte Vicki.
»Ich will auch keine warzige Kröte mehr mit mir umherschleppen«, fügte Hanno unserer Pro-Weitermachen-Liste hinzu.
»Ich bin zwar auch nicht besonders scharf darauf zu erfahren, was uns sonst noch so alles blühen wird«, sagte ich, »aber ich bin mir fast sicher, dass wir keine andere Wahl haben.«
»Und wie kommt es zu dieser plötzlichen Erleuchtung?« Benni war immer noch nicht überzeugt.
»Instinkt!«
»Kinderkacke!«, sagte Benni, der anscheinend mit meiner raffinierten Taktik der Andeutung nichts anfangen konnte.
»Ich glaube, es hängt mit der „21“ zusammen«, sagte ich und jetzt hatte ich auch die volle Aufmerksamkeit der anderen.
»Hast du etwa herausgefunden, was das mit den Zahlen zu bedeuten hat?« Hanno sah mich an, als sei ich das erste Exemplar der menschlichen Spezies, der die Existenz einer fremden Lebensform beweisen könnte.
»Klar!«, sagte ich, ohne meinen Stolz über diese clevere Entdeckung zu verbergen. »Als ich gestern die Kugel zum ersten Mal berührte, erschien dort eine „3“ und bei Hanno war es dann eine „4“. Als der alte Schulze die Kiste Vickis Vater zum Schätzen mitgab, stand auf dem Deckel eine „7“, denn „3“ plus „4“ ergeben logischerweise „7“. Nachdem Vicki mit ihren Fingern an der Kugel war, wurde aus der „7“ eine „8“ und Cedric schaffte es wiederum, die „8“ in eine „11“ zu verwandeln. Du Benni, bist dann bis zur „17“ gekommen und meine Wenigkeit hat uns schließlich zur „21“ gebracht.«
»Ich verstehe aber trotzdem noch nicht, wieso wir deshalb weiter- machen müssen«, fragte Benni – zu Recht, denn ich war ja noch nicht fertig.
»Was ihr nicht wissen könnt«, fuhr ich fort, »ist, dass ursprünglich eine ganz andere Zahl auf dem Deckel gestanden hat, als Hanno und ich sie gestern im Trödelladen entdeckt haben.«
»Und welche war das? Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.« Vicki, Benni und Cedric hingen an meinen Lippen. Ich ließ sie noch ein wenig zappeln und genoss eine kurze, dramaturgische Pause.
»151«, krakelte Hanno und versaute mir damit meinen Auftritt.
»Und jetzt meinst du, dass wir alle so lange mit dem Quatsch hier weitermachen müssen, bis da wieder eine „151“ auf dem Deckel erscheint?« Benni sah mich an, als hätte ich ihm gerade erklärt, er solle mit Schwimmflossen den Mount Everest besteigen.
»Ja«, sagte ich selbstbewusst. »So ungefähr.«
»Und was ist, wenn du dich irrst?« Die Frage hing so schwer in der Luft wie eine dunkelschwarze Gewitterwolke.
»Das werden wir ja sehen, wenn wir da sind«, sagte Vicki nüchtern und lieferte damit indirekt den Beweis, dass sie mit meinem Vorschlag einverstanden war.
»Ich weiß ja nicht wieso ihr Erbsenhirne so einen Mist glauben wollt, aber für mich klingt das unlogisch.« Trotzig verschränkte Benni die Arme vor der Brust.
»Natürlich ist das unlogisch«, gab ich ihm Recht. »Aber ist das Universum logisch? Oder die Sache mit der Unendlichkeit? Trotzdem gibt es sie. Fakt ist doch, wir sind drin im Spiel. Von allein kommen wir nicht mehr heraus. Wir müssen mitspielen, ob wir wollen oder nicht.«
»Gefangen in einem bösartigen Spiel«, fasste Benni treffend zusammen. »Und welcher Preis lacht dem glücklichen Sieger?«
»Weiß nicht? Was wäre denn dein sehnlichster Wunsch?«
»Eure blöden Visagen nicht mehr sehen zu müssen!«
»Na, schau!«, rief ich. »Da hast du doch schon mal dein Ziel.«
»Komm schon, Benni!«, versuchte es Hanno auf die Kumpelart. »Das kann doch auch ganz lustig werden. Stell es dir einfach wie einen Abenteuerausflug vor! Wie bei den Pfadfindern.«
»Wer hat dir denn den Sonnenschein ins Hirn geblasen? Was für ein Abenteuer soll das sein? Ein Fass Gänseblümchen aufmachen und dazu Partytröten blasen? Nicht mit mir!«
Außerdem sind wir auch schon mittendrin. Da macht es doch gar keinen Sinn, schon aufzugeben«, sagte ich schnell.
»Ich bin zwar nicht die größte Leuchte in Mathe, aber dass „21“ nicht die Hälfte von „151“ ist, kann selbst ich im Kopf ausrechnen. Wir haben noch einen verdammt langen Weg vor uns und ich befürchte, dass wir unseren Entschluss schon bald bitter bereuen werden.«
Wie Recht Benni damit behalten würde, sollte sich leider schon sehr bald bewahrheiten, aber zunächst freuten wir uns, ihn zum Weitermachen überredet zu haben.