Читать книгу 151 - Sam Rimola - Страница 13
33
Оглавление»Böse Kröte!«
Nur mit allergrößter Mühe gelang es mir, eines meiner schlafverklebten Augenlider einen winzigen Spalt zu öffnen.
»Du böse, böse Kröte!« Das war eindeutig Vickis Stimme. Angestrengt versuchte ich einen klaren Gedanken zu fassen und meinen Kopf in Richtung Vickis Gezeter zu drehen. Das Erste, was ich zu sehen bekam, war allerdings Benni. Er hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt und nuckelte selig schmatzend an seinem Daumen.
»Lass ihn doch los!«, schimpfte Vicki. Mit beiden Händen war sie dabei, irgendetwas, das sich offensichtlich heftig dagegen zu wehren wusste, aus Hannos Rucksack zu ziehen. Noch immer leicht benommen richtete ich mich schwerfällig auf und öffnete mein anderes Auge. Zähfließender Sirup verklebte meine Gehirngänge und ließ mich noch keinen klaren Gedanken fassen. Soweit ich es erkennen konnte, hatte sich der Wald während meiner geistigen Abwesenheit nicht verändert. Kraftlos legte ich meinen Kopf in den Nacken. Auch jetzt noch ragten über uns die Baumriesen wie eine Million brauner, fensterloser und kerzengerader Wolkenkratzer in die Höhe und verloren sich in einem dichten Dach aus dunkelgrünen Blättern. Anscheinend hatte ich nichts verpasst.
»Hah!« Vicki streckte triumphierend die Arme in die Luft. Auf ihrer Hand saß ein kleiner, hellgrüner Schmetterling. Ein Nachzügler, wie mir schien, denn von den anderen war weit und breit nichts mehr zu sehen.
»Der arme Kerl hat so verzweifelt um Hilfe geschrien, dass ich davon aufgewacht bin«, erklärte Vicki, nachdem sie bemerkt hatte, dass auch ich wieder bei Bewusstsein war.
»Ausgeschlafen?«, fragte sie und massierte ihre Schläfen.
»Isch schätsche schon«, meine Zunge fühlte sich beinahe so pelzig an wie Bennis Waden.
»Hast du gewusst, dass Schmetterlinge schreien können?«
»Nö.« gähnte ich und versuchte mir den Sirup aus dem Kopf zu schütteln.
»Doch! Laut und schrill, wie eine bremsende Straßenbahn.«
Ich riskierte noch einen Blick, um zu überprüfen, ob Vicki tatsächlich schon wach war. Sie war es – eindeutig – aber vielleicht machte ihr Verstand ja noch Pause.
»Ich habe so tief und fest gepennt«, erklärte ich. »Da hätte man neben meinem Kopf auch Jumbojet-Triebwerke hochfahren können, ohne mich dabei zu wecken.«
»Apropos Triebwerke«, sagte Vicki. »Hast du Hanno schon mal schnarchen hören? Zusammen mit deinem Zähneknirschen ergibt das eine Lärmbelästigung, bei der ein Hörschaden noch das kleinste Problem wäre. Weißt du nicht, wie schädlich das für dein Gebiss ist? Mal ganz abgesehen von den Schmatzgeräuschen, die Benni beim Daumennuckeln erzeugt. Wie abartig ist das denn?« Wieder massierte sie sich die Schläfen. »Wenn es das ist, was einer Frau später in der Ehe blüht, dann werde ich garantiert nie heiraten. Klappt ja sowieso alles nicht mit dem „Immer und Ewig“ oder dem „Bis dass der Tod euch scheidet“.
Schnarchen, Gebiss, Hörschaden, Ehe, Tod …? Häh?
Das war für mein verklebtes Hirn eindeutig zu viel Input auf einmal. Meine grauen Zellen versuchten mir auf Hochtouren einen dieser Punkte zu dolmetschen.
»So laut schnarcht er nun auch wieder nicht.«, versuchte ich es auf gut Glück und fuhr mir mit der Zunge unauffällig über die Zähne. Aber da war auch nur Pelz und zum Glück noch nichts am Bröseln.
»Bist du taub?« Vicki schüttelte energisch den Kopf. »Der sägt doch immer noch wie zehn Motorsägen.«
Ich sah zu Hanno hinüber, aber alles, was ich hören konnte, war schlimmstenfalls ein leises Schnaufen. Sollten jetzt auch noch meine Ohren verklebt sein? Verdammter Sirup! Begriffsstutzig wanderte mein Blick wieder zurück zu Vicki. Irgendetwas stimmte da doch nicht. Und dann entdeckte ich, was nicht in das Bild passte.
»Da, da …« Mit gestrecktem Finger deutete ich auf ihre Locken. »Hast du etwa schon weitergemacht?«
»Ja«, knirschte sie. »Aber passiert ist noch nichts. Was meinst du, kommt da noch was, oder soll ich Cedric wecken, damit er weitermachen kann?«
»Was stand denn in der Kugel geschrieben?«, hakte ich vorsichtig nach.
»Irgendwas mit „kannst du es fühlen“ oder so ähnlich. Leider bin ich zu schnell eingeschlafen, um es mir genauer anzusehen. Hast du einen ungefähren Schimmer, was das zu bedeuten hat?«
»Ich habe nicht nur einen ungefähren, ich habe sogar einen ganz konkreten Schimmer«, grinste ich. »Fasse dir mal vorsichtig in die Haare!«
»Oh nein«, schrie Vicki hysterisch. »Was ist mit meinen Haaren? Sind sie grün, blau … weg … sag schon!« Mit fahrigen Fingern fuhr sie sich durch die dichten Locken, doch noch bevor ich ihr antworten konnte, hatte sie die beiden Dinger schon entdeckt. »Ach du meine Fresse, was ist das denn?« Ihre Finger tasteten sich forschend an den Fremdkörpern nach oben.
»Also, wenn du mich fragst, sehen die wie überdimensionale Insektenfühler aus. Sind die richtig an deinem Kopf festgewachsen?«
Vicki zog vorsichtig an einem. »Aua, ja!«, quiekte sie. »Hilfe, ich bin ein Freak, ein Monster, ein Mutant. Sind mir auch noch Flügel gewachsen?« Hektisch drehte sie sich im Kreis herum, wie eine Katze, die ihren Schwanz jagte. Auf Grund der Tatsache, dass sie tatsächlich einen Katzenschwanz besaß, sah das so authentisch aus, dass ich mir ein schadenfrohes Lachen nicht verkneifen konnte.
»Das ist überhaupt nicht komisch. Vielleicht werde ich jetzt zum Schmetterling und meine Zunge verwandelt sich in einen aufgerollten Saugrüssel.« Sie streckte ihre Zunge heraus und versuchte nach unten zu schielen.
Nun war es vollends um meine Beherrschung geschehen. Gackernd ließ ich mich rückwärts ins Moos fallen.
»Hör auf zu lachen, Tim«, schnauzte mich Vicki an, aber der Teil meines Hirnes, der für Schadenfreude verantwortlich war, sah das komplett anders.
»Wo hast du denn deine Streifen gelassen, Maja?« kicherte ich.
»Vielen Dank für dein Mitgefühl, Willi.« Immerhin, ihren Humor hatte sie noch nicht verloren.
»Uuund diiiiese Biiiiene, die iiiich meine, nennt sich Majaaaaa …« Pünktlich zu dieser Steilvorlage war jetzt auch Tim2 aufgewacht.
»Pfappe!« Das war Benni. Mit halbgeöffneten Lidern war er hochgeschreckt, hatte aber vergessen, den Daumen aus dem Mund zu nehmen. Bewusst wurde ihm diese Peinlichkeit erst, als er unsere schadensfrohen Gesichter sah. Mit einem leisen Plopp zog er sich seinen Daumen aus der knallroten Visage.
»Kacke«, schlug er seinen gewohnten Tonfall ein. »Was hast du denn da für einen Dreck an der Rübe?«
»Sieht man doch«, pampte Vicki. »Hast wohl wieder in Bio geschlafen, als wir die Insekten durchgenommen haben, Wolfman.«
»Moin!« Nun war auch Hanno wieder aufgewacht. »Ach du heilige Gurke! Was hast denn du da an der Birne?«
Vicki rieb sich die Schläfen, während wir fröhlich weiterlachten.
»Könntet ihr drei Schießbudenfiguren mal aufhören, so einen Lärm zu machen? Mir platzt gleich der Schädel. Schadenfreude geht doch auch sicher in Zimmerlautstärke, oder?«
Verwirrt sahen wir Vicki an.
»Na, so laut waren wir nun auch wieder nicht«, versuchte sich Hanno herauszureden.
»Und das war schon wieder geschrien. Merkt ihr das denn nicht?« Vicki hielt sich die Ohren zu.
Wir drei tauschten einen „Typisch-Frauen“-Blick.
»Meinst du, deine übertriebene Lärmempfindlichkeit könnte eventuell ein kleines bisschen mit den Fühlern zusammenhängen?«, flüsterte ich. »Vielleicht wirken die ja wie eine Art Verstärker. Wie fühlt sich das überhaupt an, mit solchen Dingern?«
»Weiß nicht genau.« Vicki nahm die Hände von den Ohren und schloss die Augen. »Oh, erstaunlich! Das hätte ich jetzt aber nicht erwartet.«
»Nun sag schon!«, drängelte Hanno.
»Also, du Hanno, hast heute noch kein Deo benutzt und zum Frühstück gab es bei dir Vollkorntoast mit Butter – nein – mit Margarine und Honig, und zwar Rapshonig. Tim, du hast heute vergessen, frische Socken anzuziehen. Außerdem hat vor genau zwei Sekunden deine Armbanduhr aufgehört zu ticken. Und dir, mein lieber Benni, krabbelt gerade irgendetwas durchs Kniekehlenfell. War das jetzt auch übertrieben?«
Erschrocken riss sich Benni den Hosensaum über das Knie und nestelte sich einen winzigen Käfer aus dem Pelz, während Hanno und ich die Gelegenheit nutzten, unauffällig an uns hinab zu schnüffeln.
»Wie machst du das?«, staunte Benni und ließ den Käfer fliegen.
»Keine Ahnung, es geht einfach.« Vicki sah nicht so aus, als wäre sie glücklich über ihre brandneuen Superfähigkeiten.
»Ich will auch Fühler«, quengelte Hanno und ich überlegte mir ernsthaft, ob ich mir deswegen um seinen Geisteszustand Sorgen machen sollte.
»Wer ist denn jetzt eigentlich dran?«, wechselte Benni wieder ins Geschäftliche.
»Cedric«, erklärte Vicki. »Aber der schläft noch so fest. Soll ich ihn wecken?«
Unschlüssig betrachteten wir den kleinen Kerl. Zusammengerollt und mit einem friedlichen Lächeln auf den Lippen hatte er sich schutzsuchend an Tim2 gekuschelt.
»Was er wohl gerade Schönes träumt?«, sagte Hanno.
»Ein großer Plauderer ist er ja nicht grade. Wieso spricht er eigentlich so wenig?«, fragte Benni versonnen.
»Wenig? Seit einem Jahr spricht er überhaupt nicht mehr«, erklärte Vicki bitter.
Neugierig blickten wir sie an.
»Vor fast genau einem Jahr ist unsere Mutter nach Paris abgehauen. Klingt wie ein billiger Schicksalsroman, oder?« Wir antworteten nicht, also fuhr sie fort: »Auf einem Klassentreffen ist ihr ihre große Jugendliebe Jean Pierre über den Weg gelaufen. Eine Woche später hat sie schon ihre Sachen gepackt und ist mit ihm durchgebrannt. Einfach so, ohne uns zu fragen. Tolle Geschichte, oder? Seit dem hat Cedric aufgehört zu sprechen. Alles nur ihre Schuld.«
Hanno und ich blickten betreten zu Boden. Was sollte man auch dazu schon Geistreiches erwidern?
Benni hatte damit anscheinend weniger Probleme. »Mein Alter ist auch weg«, steuerte er bei. »Allerdings hat der immer nur vor der Glotze gehangen und Bier gesoffen. Da hat meine Mutter ihn vor die Tür gesetzt. Was soll’s – war sowieso nicht mein richtiger Vater.«
Benni und Vicki starrten sich an, als wollten sie eine Runde Armdrücken ausfechten.
»Also den Wettbewerb „Wer hat die erschütterndste Lebensgeschichte“ werdet ihr wohl auf später vertagen müssen«, grätschte ich dazwischen. »Ich denke, es wird höchste Zeit, dass wir uns wieder mit der Kugel beschäftigen. Immerhin sind wir erst bei der …«, Ich nahm die Kiste in die Hand. » … „33“. Das heißt, uns fehlen noch schlaaaaaappeeeee… vier Fünftel. Also, wie sieht’s aus?«