Читать книгу 151 - Sam Rimola - Страница 4
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Оглавление»Hey, du Idiot, willst du erwischt werden? Nimm die Finger da weg!«
»Warum das denn?«
»Weil das auf dem Schild dort steht.«
»Was für ein Schild?«
»Das da, mit der durchgestrichenen Hand!« Oh Mann, hätte ich mich bloß nicht wieder breitschlagen lassen, mit Hanno herzukommen. Ich hatte schon den ganzen Tag das komische Gefühl, als würde ich diesen Entschluss noch bitter bereuen müssen.
»Nun mach dir mal nicht ins Hemd, Tim. Seit wann bist du denn plötzlich so ein Feigling?«
»Ich bin kein Feigling, ich habe nur keine Lust, erwischt zu werden.«
»Wir sind hier doch noch nie erwischt worden.«
»Kann ja noch kommen. Außerdem langweile ich mich. Können wir jetzt endlich gehen?«
»Das ist doch lustig hier.«
»Ja, genauso lustig wie Lateinvokabeln lernen und sogar noch staubiger.«
Mit dem Wort „staubig“ brachte man es übrigens auf den Punkt. Von den unzähligen Kuriositäten, die Schulze hier in seinem Trödelladen beherbergte, war neben Millionen von Spinnweben der Staub definitiv das hervorstechendste Merkmal. Den zentimeterdicken Schichten nach zu schließen, hatte hier vermutlich seit dem letzten Urknall kein Großputz mehr stattgefunden. Ich befürchtete manchmal sogar, dass Hausstauballergiker schon beim Betreten des Ladens eines sicheren Erstickungstodes sterben müssten. Doch erlebt hatte ich derlei Dramatik allerdings noch nicht.
Zum Glück – oder leider, denn eigentlich hatte ich mir insgeheim schon immer gewünscht, mal jemandem das Leben zu retten. Ich meine, wie cool wäre das denn, wenn hier dieser Jemand plötzlich zusammenbricht, ich mich daraufhin selbstlos auf ihn stürze, ihn mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassagen wiederbelebe und gleichzeitig ein Notarztteam Kommandos zubrülle? »Sein Zustand ist kritisch. Schnell, er ist systolisch auf 90 gefallen, zyanotisch und bradykard. Ich brauche ein großes Blutbild, eine Thoraxaufnahme, sterile Kompressen, einen Defibrillator und ein Intubationsset. Wo, verdammt noch mal, bleibt der Internist? Muss ich denn hier alles allein machen? Bringt mir zwei Konserven Null negativ und ein OP-Besteck, aber zack zack!«
Okay, dieses Wiederbelebungs-Gedöns sollte ich mir nochmal vorher zeigen lassen, aber wenn ich mir vorstelle, was für einen enormen Imagegewinn so eine Lebensrettung bringt …, aber ich schweife ab.
Schulze verdient sein Geld mit dem Restaurieren alter Möbel. Ein Grund, weswegen er sich fast ausschließlich in seiner Werkstatt aufhält, sodass Hanno und ich uns so oft unbemerkt zum Stöbern in den Laden direkt vor der Werkstatt schmuggeln können. Eine Zeit lang fanden wir es superspannend und arbeiteten uns mit Eifer durch das Gerümpel, mit denen die altersschwachen Regale zugemüllt waren. Es gab nichts Schöneres für uns, als uns spannende Geschichten zu den einzelnen Fundstücken auszudenken, immer mit der Bedrohung im Nacken, jederzeit erwischt zu werden, und der Hoffnung, einmal einen wahren Schatz auszugraben. Doch irgendwann konnten wir nichts Neues und Aufregendes mehr entdecken und das Abenteuer verlor allmählich seinen Reiz.
Heute war es das erste Mal seit Monaten, dass wir uns wieder hereingeschlichen hatten. Wie schon beinahe erwartet, hatte sich zwischenzeitlich so gut wie nichts verändert, mit Ausnahme der spärlichen Deckenbeleuchtung. Hier hatte eine der beiden Glühbirnen offensichtlich das Zeitliche gesegnet, sodass das funzelige Licht des ohnehin schon schummerigen Verkaufsraumes nun noch gespenstischer wirkte. Geisterhafte Schatten krochen uns über den ausgetretenen Holzboden entgegen, färbten den Rest des Ladens in eine unheimliche Dämmerstimmung und ließen mich zum ersten Mal inständig hoffen, unter den Staubschichten nicht doch noch auf einen erstickten Hausstauballergiker zu stoßen.
»Los jetzt, lass uns hier verschwinden, der alte Schulze kann jeden Moment wieder aufkreuzen.« Alles in mir schrie förmlich nach Flucht. Leider schien umgekehrt kein Bisschen in Hanno danach zu schreien. Im Gegenteil. »Wow! Die Regale sind ja noch voller geworden. Schau mal, hier drüben! Die ist garantiert neu.« Er nahm eine kleine Beethovenbüste in die Hand und versuchte den grimmigen Gesichtsausdruck zu kopieren.
»Hanno!«, zischte ich warnend und drehte schnell das ausgestopfte Frettchen herum, um es daran zu hindern, mich weiterhin aus seinen staubstumpfen Augen bösartig anzuglotzen.
»Boah, guck mal, dieser alte verrostete Schlüssel! Vielleicht gehört der ja zu einer geheimen Schatztruhe und kein menschliches Wesen, außer uns natürlich, weiß bisher davon. Komm Tim, lass uns bitte-bitte auf Schatzsuche gehen!«, flehte er und sah mich dabei mit Bettel-Welpen-Blick an.
»Komm Hanno, lass uns bitte-bitte abhauen gehen!«, äffte ich ihn nach. »Und dich am besten gleich im Kindergarten abgeben«, fügte ich leise hinzu.
»Da ist sie ja!«, quiekte Hanno, dem mein Sarkasmus – wie üblich – entgangen war. »Komm zu Hannolein, du kleine süße Schatzkiste!«
Er reckte sich und zog eine fünfeckige Holzschachtel aus dem Regal hervor. »Guck mal, die ist jetzt aber wirklich neu!«, hustete er, nachdem er sie von einer dicken Staubschicht befreit hatte.
»Die hat kein Schlüsselloch – und jetzt komm endlich!«
»Natürlich hat sie das nicht. Sei doch nicht so fantasielos, Tim! Hast du noch nie „Galileo Mystery“ gesehen? Der Legende nach ist sie nur alle tausend Jahre für eine Minute sichtbar, denn dies hier ist die geweihte Holzschatulle für den magischsten aller Hinweise.«
»Eher wohl für 151 Hinweise«, wand ich ein, denn den Deckel zierte eine großgeschwungene 151. »Und außerdem gucke ich lieber Kriegsdokus, und hier riecht es gleich verdammt nach Blitzangriffen und Vergeltungsschlägen.« Aber auch diese Drohung versickerte in Hannos Gehörgängen.
»Hundert – ein – und – fünf – zig.« Die Zahl ließ er sich wie ein Stück Milchschokolade auf der Zunge zergehen. Verdammt, hätte ich ihn bloß nicht darauf hingewiesen.
»Das ist der sagenumwobene „Da-Hanno-Code“! Halte dich bereit, Tim! Die Geschichte der Menschheit kann ab sofort neu geschrieben werden.«
Halt, stopp! Oberflächlich gesehen müsstet ihr spätestens jetzt zu dem Schluss gekommen sein, dass Hanno wahrscheinlich an einer mittelschweren Vollmeise leidet, oder? Dann lasst euch von einem leidgeprüften Fachmann sagen, dass sich diese Einschätzung auch bei gründlicher Betrachtung bestätigen wird. Aber seht selbst!
»Achtung, Schulze kommt!«, zischte ich und zupfte an seinem Ärmel, doch Hanno fiel nicht auf meinen Bluff herein und spielte lieber weiter den „großartigen und unübertrefflichen Merlin“.
»Der Schlüssel zum Ursprung der Menschheit. Der heilige Gral unter den Holzschatullen, der ...«
»Hanno, wenn du das Ding jetzt nicht sofort zurückstellst, ticke ich gleich so was von aus.« Das war definitiv das aller-allerletzte Mal, dass ich mich mit diesem durchgeknallten Spinner verabredet habe.
Hanno und ich kennen uns schon seit dem Kindergarten, also fast unser ganzes Leben lang und solange hatte sich bei ihm schon immer alles um Fantasy, Mystery und Science-Fiction gedreht. In seinem Kinderbett schlummerten keine Teddys oder Kuschelhasen, sondern Actionfiguren, Laserschwerter und das komplette Jedi-Team aus Star Wars Episode 1. Alles, was nur im Entferntesten nach Magiern, Superhelden und fernen Galaxien roch, wurde geradewegs inhaliert, mit einer kräftigen Prise Hanno-Schwachsinn angereichert und im Anschluss unzensiert in die Umlaufbahn geschossen. Und nun ratet mal, wer dabei seine Lieblingsumlaufbahn war!
»Ich habe echt keinen Bock mehr, deine Umlaufbahn … äh, ich meine mit dir hier noch länger in diesem Trödelladen abzuhängen.«
»Lass mich nur noch einmal nachsehen, welches Geheimnis die Schachtel in ihrem Inneren verbirgt.« Feierlich hob er den Deckel. Unüberhörbar war das schon seit Langem nicht mehr geschehen, denn der Ton, den die kleinen Scharniere von sich gaben, hätte auch wunderbar als Geräuschkulisse für besonders blutige Horrorstreifen herhalten können. In meinem Hirn spielte sich prompt eine Parade unschöner Szenen ab, in denen alle Requisiten aus Grufttüren und Holzsärgen bestanden. Eiskalte Schauer veranstalteten Staffelläufe über meinen Rücken.
»Die verschollene magische Zauberkugel«, hauchte Hanno voller Ehrfurcht.
»Hör doch mal endlich mit deinem albernen Magisch-Kinderkram auf!« Langsam hatte ich die Faxen dicke. »Und wenn überhaupt, ist das nur eine halbe Kristallkugel.«
»Nimm diese halbe Kugel an dich, du Ungläubiger, und finde ihre zweite Hälfte! Nur so wirst du den steilen Weg der Erkenntnis erklimmen«, verkündete Hanno bedeutungsschwer und fuchtelte mit der Kiste vor meiner Nase herum.
»Lass das!«, zischte ich und schubste das Ding von mir weg.
»Was hast du getan?« Hanno deutete auf die Kugel, die urplötzlich zu leuchten begonnen hatte.
»Gar nichts«, versuchte ich mich herauszureden. »Ich habe sie nur weggeschoben. Was hältst du sie mir auch so dicht unter die Nase?«
»Du musst an irgendeinen Schalter gekommen sein.« Er sah mich voller Vorwurf an und vergaß dabei prompt sein Merlin-Getue.
»Na und, dann kann man das Ding auch sicher wieder ausschalten.«
Forschend drehte Hanno die Kiste herum.
»Ich habe nur das Glas berührt«, verteidigte ich mich und drückte zur Demonstration nochmal auf die Kugel. Zusätzlich zu dem Licht begann sich jetzt im Inneren der Kugel irgendetwas spiralartig in Bewegung zu setzen.
»Ah, das ist so was wie eine Schneekugel«, meinte Hanno zu erkennen. »Ist ja krass! Schau mal, sieht aus wie ein kleiner Miniblizzard!«
Ich strengte meine Augen an. «Nee, nach Schnee sieht das nicht aus, eher wie ein kleiner Sandsturm, ein Tornado ... oder so. Nein warte, das sind keine Sandkörner, guck mal, das sind kleine Zahlen.«
»Ja stimmt, und Buchstaben«, ergänzte Hanno. »Wie abgefahren ist das denn?«
»Ja, ganz toll! Und nun lass uns hier endlich verschwinden!«
»Drei!«, hauchte Merlin-Hanno.
Bitte sehr, er will hier allein zurückbleiben – kann er haben. Ich hatte mich schon abgewandt, drehte mich aber trotzdem noch einmal zurück, als Hanno aufgeregt rief: »Da stand eben eine ganz große Drei.«
»Super! Du bist ein Held«, sagte ich, verstummte aber sofort, als ich feststellte, dass ein paar weitere Zahlen und Buchstaben plötzlich zu wachsen begannen. Langsam blubberten sie nach oben und stellten sich in einer Linie auf.
»2SWUD1ARI«, las Hanno vor. »Das ist er, der Geheimcode! Wir müssen ihn nur noch knacken und die Welt gehört uns.«
Gerade wollte ich eine geniale Verbindung zwischen ‚knacken‘ und ‚beknackt‘ herstellen, da sah ich, dass einige Buchstaben begonnen hatten, ihre Plätze miteinander zu vertauschen. »Ich glaube, dein Code knackt sich gerade von ganz allein.« Gefesselt starrten wir in die Kugel.
»AUS 1 WIRD 2«, las Hanno wieder vor. »Ist das aufregend. Und jetzt bin ich dran.«
Ehe ich die Gelegenheit fand, einen Einwand loszuwerden, hatte er mir die Kiste aus den Händen gerupft und fing an, sie kräftig durchzuschütteln.
»Nein, nicht so», erklärte ich. »Du musst nur die Kugel berühren.«
Behutsam strich Hanno über das Glas und nochmal spielte sich das gleiche Schauspiel ab.
»4«, las er vor und anschließend: »Ein Tier für dir«
»Jetzt ich wieder!« Mit dem Finger stupste ich an das Glas.
Diesmal wurde das Licht etwas schwächer und das Wort »Viktoria« flimmerte auf.
»Haha!«, lachte Hanno schadenfroh. Keine Zahl, du hast verloren.
Schnell strich er wieder über das Glas, aber nichts veränderte sich.
»Haha!«, lachte ich mindestens genauso schadenfroh. »Nein, du hast verloren. Viktoria heißt nämlich Sieg und das stand bei mir, also bin ich der Sieger und du der Loser.«
»Aber bei dir wurde das Licht schwächer, also zählt das nicht.«
»Loser, Lo …«
»Ist da wer?«, krächzte es plötzlich aus dem hinteren Teil des Ladens, in dem sich der Durchgang zu Schulzes Werkstatt befand.
Von da an ging alles blitzschnell. Hanno klappte die Kiste zu, warf sie zurück ins Regal und wir flüchteten so schnell aus dem Laden wie sonst nur Bankräuber vor der Polizei.
Erst zwei Straßenecken weiter blieben wir schwer schnaufend stehen. Das heißt, eigentlich war es nur Hanno, der so schwer wie eine altersschwache Espressomaschine schnaufte. Ein Wunder, dass er es bei dem vielen Schwabbelfett überhaupt geschafft hatte, so weit zu laufen.
»Denn mach‘s mal gut, Alter! Ich muss los.«
»Wieso das denn?«, keuchte Hanno. »Wir waren … für den ganzen Nachmittag … verabredet. Du wolltest doch noch … puh … mit … zu mir kommen. Meine Mama hat uns extra Pizza zum Mittag … gebacken.«
»Ach, habe ich etwa vergessen, dir zu sagen, dass ich nur bis … äh …« Ich warf einen Alibiblick auf meine Armbanduhr, »… bis genau jetzt kann?«, log ich nicht gerade glaubwürdig, aber noch mehr Zeit mit ihm zu verbringen, hätte ich nicht ertragen. Hannos peinliches Kleinkinder-Nachmittags-Programm – nein danke. Langweilen kann ich mich auch zu Hause.
»Tja, denn mal bis morgen!«, sagte ich und ließ Hanno einfach stehen.