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Doppel-Tim und Hanno-Kröte
ОглавлениеEs war Freitagmorgen sieben Uhr und im Radio schmetterte irgendein sadistischer Moderator: »Ich hab ’ne Tante aus Marokko.«
Das Radioprogramm wird auch immer bekloppter, dachte ich matt, zog mir die Bettdecke über den Kopf und versuchte mir angestrengt einzureden, es sei Sonntag, aber da klopfte schon meine Mutter an die Tür: »Tim, aufstehen, du musst zur Schule!«
Der Moderator sang unbeirrt weiter. Wie viele Strophen hatte diese Tante aus Marokko eigentlich? Aber halt mal, schoss es mir plötzlich durch den Kopf: Seit wann habe ich eigentlich einen Radiowecker? Und was mich noch viel brennender interessierte: Seit wann steht der Radiowecker, den ich ja nicht habe, auf dieser Seite des Bettes?
Ganz langsam drehte ich mich zur Wand und blickte am anderen Ende meines Kopfkissens in mein eigenes Gesicht.
»Guten Morgen!«, sagte mein Gesicht in schönster Sonntagslaune.
In Sekundenschnelle war ich hochgeschossen und stolperte, noch fest in meine Bettdecke verkrallt, rückwärts aus dem Bett.
Das Gesicht, war nicht nur mein Gesicht, es hing auch noch der Rest von mir unten dran. Sogar den gleichen Schlafanzug trug das Etwas, also das Untendran.
»Gut geschlafen?«, fragte es mit meiner Stimme.
»Ja danke«, antwortete ich aus Reflex. »W… w… wer bist du?«, stammelte ich. »U… und was machst du in meinem Bett?«, lautete die natürliche Anschlussfrage.
»Du bist ja drollig«, lachte das Es. »Weißt du nicht mal, wie du aussiehst? Ich bin Tim und in dem Bett habe ich geschlafen. Sogar hervorragend, wenn ich das sagen darf.«
»Tim?« Meine Zimmertür öffnete sich und meine Mutter steckte ihren Kopf herein. Blitzschnell warf ich die Bettdecke über meinen Doppelgänger.
»Ach gut, du bist schon aufgestanden«, flötete sie. »Ich muss jetzt aus dem Haus.«
Ich sah sie an, als hätte sie bei mir gerade eine Currywurst mit frischen Erdbeeren und Rasierschaumhäubchen bestellt.
»Hallo Tim, schläfst du noch? Du musst dich beeilen! Heute ist Freitag, die Schule fängt gleich an und denke diesmal bitte daran, die Wohnungstür ordentlich abzuschließen! Bis später.« Zum Abschied schmatzte Mama noch einen Kuss in die Luft und verließ dann das Zimmer. Gerade noch rechtzeitig, denn kaum war sie raus, schleuderte es … oder er (na, Ihr wisst schon wer) meine Decke von sich.
»Puh, ist das hier stickig!« Der andere Tim hüpfte aus dem Bett und öffnete meinen Kleiderschrank. »Was wollen wir denn heute mal anziehen?«
»Wir?«, quiekte ich. »Du hast doch schon etwas von mir an. Das sollte ja wohl erst mal genügen.«
»Aber mit einem Schlafanzug kann ich doch unmöglich zur Schule gehen«, amüsierte er sich.
»Halt, halt, mein Lieber!«, sagte ich. »Nicht du wirst zur Schule gehen, sondern ich gehe. Du wirst schön in meinem Zimmer bleiben und dich ganz ruhig verhalten, bis ich wieder zurück bin. Und dann werden wir uns damit befassen müssen, wie wir dieses Schlamassel hier wieder aus der Welt schaffen.«
Ein Blick auf meine Uhr, signalisierte, dass es jetzt allerhöchste Eisenbahn war, mich auf den Weg zu machen.
»Nö, das geht nicht«, sagte mein zweites Ich gelassen und betrachtete eingehend seine Fingernägel.
»Was heißt hier NÖ?«
»Das heißt, dass du mich mitnehmen musst«, sagte er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.
»Ich muss gar nichts«, blaffte ich ihn an und warf mir schnell ein paar Klamotten über, schnappte mir meine Schultasche und spurtete aus der Wohnung. Erst als ich den Schlüssel zweimal im Schloss herumgedreht hatte, atmete ich erleichtert auf.
»Was für ein irrer Tag!», seufzte ich.
»Finde ich auch«, stimmte mir jemand fröhlich zu.
Erschrocken fuhr ich herum. Mit verschränkten Armen lehnte er lässig am Treppengeländer.
»Nein!«, schrie ich ihn an, öffnete noch einmal die Tür, schubste ihn in die Wohnung hinein und schloss hinter ihm sorgfältig ab.
»Hab ich dir doch gesagt, dass das nicht funktioniert«, ertönte es hinter mir. »Wir bleiben jetzt für immer zusammen. Ist das nicht supi?«
» Ich hab ’ne Tante aus Marokko und die kommt, hippeldihopp …«
»Kannst du nur für einen Moment mal ruhig sein?« Ich war genervt.
»Wieso? Magst du keine Musik?«
»Ich liebe Musik, aber was du da von dir gibst, ist Ohrenfolter.«
»Haha«, lachte er fröhlich. »Das war doch die Tante aus Marokko und nicht Folter. Klingt meine Stimme nicht wunderschön?«
»Ja, und zwar genauso, als würde jemand den ganzen Tag mit Fingernägeln auf einer Tafel herumkratzen.«
»Tinki Winki, Dipsi, Lala, P…«
»Mann, halt doch endlich mal deine Klappe! Ich kann so nicht nachdenken.«
»Muss man etwa vor der Schule auch schon denken?«
»Ja, stell dir mal vor!«
»Und was denkst du jetzt Schönes?«
»Ich grüble zum Beispiel darüber nach, woher ich jetzt schnellstens eine wenigstens halbwegs plausible Erklärung für deine Anwesenheit herzaubern kann!«
»Na, das ist doch ganz einfach. Du sagst deinem Lehrer, dass du dich in der letzten Nacht verdoppelt hast. Ich bin jetzt der zweite Tim oder Tim2, oder Tim Zwo, oder Timzo, oder Zwomt, oder Womzt, oder … oder noch besser, nenn mich doch bitte Godzilla.«
»Ich soll die Wahrheit sagen? Du spinnst wohl! Dann kann ich mich auch gleich selber in die Klapsmühle einweisen lassen.«
»Es klappert die Mühle am rauschenden Bach. Klipp …«
»Jetzt hab ich’s!«, rief ich. »Ich gebe dich einfach als meinen bekloppten Zwilling aus, der für ein paar Tage aus der Anstalt durfte, um seinen Bruder zu besuchen.«
Das klang doch irgendwie realistisch, fand ich jedenfalls. Das könnte sogar klappen. (Vielleicht sollte ich an dieser Stelle zu meiner Entschuldigung nochmal betonen, dass ich immer noch unter Schock stand. Normalerweise sind meine Ideen nämlich nicht ganz so grottig). Doch für den Moment war ich zufrieden mit mir. Für die Schule sollte das vorerst genügen und in ein paar Tagen würde ich sicherlich schon herausgefunden haben, wie ich ihn mir vom Hals schaffe. Jetzt fehlte nur noch eine passende Strategie für meine Eltern. Aber das musste vorläufig warten. Immer eines nach dem anderen und jetzt war erst mal die Schule dran.
Es war aber auch wie verhext, dieser zweite Tim ließ sich einfach nicht abschütteln. Und denkt nicht, dass ich es nicht immer wieder versucht hätte, doch jedes Mal, wenn ich ihn erfolgreich abgehängt hatte, war er spätestens an der nächsten Ecke wieder aufgetaucht, frech grinsend und hoch erfreut über das lustige Spiel. Es war offensichtlich, ich würde ihn vorerst nicht mehr loswerden, also musste ich ihn wohl oder übel mit zur Schule nehmen.
Ich konnte mir schon lebhaft Hannos Reaktion vorstellen. Das war genau die Art von Geschichten auf die er so abfährt. Ein gefundenes Fressen. Wetten, er wird dahinter wieder irgendeinen Zauber vermuten? Einen faulen Zauber, wenn man mich fragt. Wie gut, dass er bisher noch nicht wissen konnte, was für ein Überraschungsgeschenk ich ihm heute noch präsentieren würde. Vor Aufregung hätte er dann bestimmt die ganze Nacht nicht mehr geschlafen.
»Also hör mal«, begann ich zu erklären. »Wenn wir jetzt den Klassenraum betreten, wirst du dich schön unauffällig und ruhig verhalten. Das heißt, du sprichst absolut kein Wort. Nur wenn ich dich jemandem vorstelle, sagst du entweder „angenehm“ oder „freut mich“. Und komm nicht auf die Idee, noch irgendetwas zu …«
»Freude schöner Götterfunken … la la la la laaaa lala …«
»… zu singen! Ist das klar?«
Boah, ist der peinlich! Dass der bekloppt ist, muss ich gar nicht erst groß erklären, dachte ich dunkel.
»Na toll, deinetwegen sind wir jetzt auch noch zu spät gekommen!«
Die Klassentür war bereits geschlossen.
»Vielleicht können wir uns noch heimlich hineinschleichen. Manchmal klappt das. Bleib ganz dicht hinter mir und verhalte
dich …«
»Ui, bist du auch so aufgeregt?«
»Pscht! Ruhe!« zischte ich ihn an, doch als ich mich wieder zur Tür wandte, war sie bereits geöffnet und Dr. Röttgers stand vor mir.
»Hast du uns nichts zu sagen?«, fragte er streng.
»Äh … natürlich«, stammelte ich. »Also das da ist der bekloppte Godzilla, der mich … der mich für ein paar Zwillinge besucht. Äh Tage …«
Verhaltenes Kichern plätscherte durchs Klassenzimmer.
»Sollte das jetzt so eine Art Entschuldigungsversuch für dein zu spätes Erscheinen darstellen?«, fragte Dr. Röttgers und hob eine Augenbraue.
»Tim 2!«, schoss ich hinterher. »Oder Timzwo, Zwom …Woms…?«
Jetzt grölte die Klasse.
»Glückwunsch Tim!« Auch Dr. Röttgers schien ich mit meinem wirren Wortsalat erheitert zu haben. »Auf meiner geheimen Rangliste der kreativen Ausreden ist dein Spruch gerade ganz oben gelandet. Und jetzt würde ich es begrüßen, wenn du dich unverzüglich auf deinen Platz begibst und dann dein Geschichtsbuch auf Seite 77 aufschlägst.«
»Aber wollen sie denn gar nicht wissen, wer …«, versuchte ich es noch einmal.
»Wir haben jetzt schon genug Zeit verplempert. Das Einzige, was ich von dir möchte«, schnitt mir Dr. Röttgers das Wort ab, »ist, dass du dich jetzt auf deinen Stuhl setzt!« Sein Blick verriet, dass jeder weitere Einwand einem Selbstmordkommando gleichkommen würde.
»Freut mich!« Tim 2 war mit ausgestreckter Hand vor Dr. Röttgers stehen geblieben, aber seine Hand wurde ignoriert.
»Pscht, komm jetzt!«, zischte ich ihm zu.
»Angenehm?« Als aber auch dieser Gruß unerwidert blieb, folgte er mir schmollend.
Hanno hatte bereits einen dritten Stuhl an unseren Tisch gezogen und im Gegensatz zu allen anderen lachte er auch nicht über mich. Allerdings vermied er jeglichen Blickkontakt. Wahrscheinlich war er noch beleidigt, wegen des letzten Nachmittags.
»Dein Lehrer ist aber unhöflich«, nölte Tim 2.
Ich ging lieber nicht darauf ein, sondern wühlte das Buch aus der Tasche.
»Seite siebenundsiehiiiibziiiig!«, flötete er.
»Das weiß ich selber, du Klugscheißer«, fauchte ich und knallte das Buch auf den Tisch. Als ich aufblickte, glotzten mich alle an.
»Sind wir jetzt soweit?« Dr. Röttgers Geduld hatte ein bedenkliches Level erreicht.
Ich nickte und dann richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit endlich auf die Punischen Kriege.
Fünf Minuten lief alles prima, dann begann Tim 2 sich zu langweilen. Zunächst trommelte er nur mit den Fingern der rechten Hand auf der Tischplatte. Nach einer Weile folgte die linke Hand mit rhythmischem Schnippen. »Klopf-Klopf-Schnipp, Klopf-Klopf-Schnipp, Klopf-Klopf-Schnipp …« Als ihm auch das nicht mehr ausreichend erschien, begann er die Schlagzeugstimme mit leisen Gesangseinlagen zu bereichern.
Unauffällig warf ich ihm einen flehenden Blick zu, den er allerdings total missinterpretierte und prompt ein paar Dezibel aufdrehte.
»Pssssst!«, zischte ich, aber da fuhren schon wieder die ersten Köpfe zu mir herum. Alle sahen mich an, als hätte man mich gerade zu Unrecht aus der Klinik entlassen. Ich hob entschuldigend die Schultern und drehte mit dem Zeigefinger ein paar Kreise vor meiner Schläfe, um zu verdeutlichen, dass es sich bei diesem Typ um einen Bekloppten handelte, was Tim 2 natürlich postwendend mit einer weiteren Hörprobe übersetzte: »We will – we will – rock you …«
»Klappe!«, flüsterte ich, was er wiederum mit einem satten Crescendo quittierte.
»Das darf doch nicht wahr sein. Was ist denn an KLAPPE so schwer zu verstehen? Dabei kann doch keiner mehr dem Unterricht folgen.«
»Hey, mach mal halblang, Tim!«, schnauzte mich Tobi von hinten an. »Der Einzige, der hier wirklich stört, bist du.«
»… ROCK YOU …«
»Ey, ich bin das doch gar nicht!«, schnauzte ich zurück. »Das macht alles dieser bekloppte Idiot hier neben mir.«
»Nenn mich noch einmal bekloppt und ich semmle dir eine!«, bellte Niko, der genau neben Tim 2 saß.
»… we will, we will …«
»Du doch nicht«, rief ich verzweifelt und versetzte Tim 2 einen Seitenhieb mit dem Ellenbogen.
»… ROCK AUA!« Tim 2 sprang auf und schubste mich mit einem gezielten Stoß vom Stuhl.
Auch Niko war hochgeschossen und wollte auf mich losgehen, aber da wälzte ich mich schon am Boden.
»Was ist denn nun schon wieder los?«, polterte Dr. Röttgers.
»Ich war das nicht.« Tobi hob zum Beweis beide Hände in die Luft. »Der ist da irgendwie von allein umgekippt.«
»Stimmt das, Hanno?«, fragte Dr. Röttgers, aber anstatt mir beizustehen, nickte er nur mit verkniffener Miene.
In zwei Schritten war Dr. Röttgers an meinem Tisch und zog mich am Ohr in die Senkrechte.
»Ich glaube, es wird für uns und die Punischen Kriege das Beste sein, wenn du jetzt den Rest der Stunde vor der Klassentür verbringst.«
»Alle Leut, alle Leut geh‘n jetzt nach Haus …«
Ich konnte mir gerade noch ein „Pscht“ verkneifen, da fiel mir auf, wo sich Dr. Röttgers eigentlich befand. Ungläubig kniff ich die Augen auf und zu, denn er stand genau dort, wo Tim 2 saß – nein, er steckte so ziemlich genau volle Kapelle in Tim mittendrin.
»Wie geht das denn?«, fragte ich begriffsstutzig.
»Nun, das kann ich dir sofort demonstrieren«, schrie Dr. Röttgers und ich konnte riechen, dass es bei ihm reichlich Knoblauchsalami zum Frühstück gegeben hatte. Dann zog er mich am Ohr aus dem Raum. Mit einem lauten „Krawumm“ knallte die Tür hinter mir ins Schloss.
Okay, fasste ich zusammen, nachdem ich eine Weile die Tür angeglotzt hatte. Wenn ich das hier nicht alles zufällig geträumt haben sollte – wovon ich nicht ausgehen kann – habe ich jetzt wohl einen nervigen Doppelgänger. Also eine Doppelgänger-Nervensäge. Sogar die Doppelgänger-Nervensäge mit dem schlechtesten Musikgeschmack des Jahrhunderts. Und diese Doppelgänger-Nervensäge konnte anscheinend nur mir allein auf die Nerven gehen, denn für alle anderen blieb sie offensichtlich völlig unsichtbar. Mit anderen Worten: Ich war mit der größten anzunehmenden Wahrscheinlichkeit über Nacht verrückt geworden. Bekloppt, schwachsinnig, geisteskrank, wahnsinnig, gestört, meschugge, plemplem, von allen guten Geistern verlassen, nicht mehr ganz richtig im Kopf und wer weiß sonst noch was. …Oder? Ich kniff mir kräftig in den Arm mit der Hoffnung, aus diesem Albtraum zu erwachen, denn diese Interpretation meiner Lage wäre mir immer noch die Liebste gewesen. Aber nichts geschah. Also doch bekloppt. Mistdreck!
Das musste man erst mal verdauen.
Zum Glück blieb mir nun bis zum Ende der Geschichtsstunde noch etwas Zeit, mich wieder in den Griff zu bekommen und ungestört darüber nachzugrübeln.
»… Ich hab ’ne Tante aus Marokko und die kommt, hippeldihopp …«
»Ich kann dir das erklären«, schleuderte ich Hanno entgegen, als er unmittelbar nach dem Erklingen der Pausenglocke aus dem Klassenraum geschossen kam. Sein Blick hätte Eisbären zum Erfrieren bringen können. Anscheinen nahm er mir mein gestriges Verhalten noch immer schwer übel. »Du wirst es nicht glauben. Das ist so abgefahren«, schickte ich verunsichert hinterher.
»Zu den Mülleimern!», befahl er knapp.
Widerstandslos folgte ich ihm, während Tim2 fröhlich meine Schultern packte und die „Polonäse von Blankenese“ schmetterte.
Ich konnte mir nicht helfen, aber in meinem Kopf spielten sich Bilder ab, in denen ich, ein Holzknüppel und Tim2s Rübe gerade so etwas wie Baseball spielten.
„Als du heute Morgen vor der Klassentür gestanden hast», begann Hanno gleich zu sprechen, nachdem wir unser geheimes Versteck erreicht hatten, »dachte ich noch, du hättest mal wieder mehr Schwein gehabt als ich. Nach dieser peinlichen Vorstellung, die du da eben hingelegt hast, bin ich mir allerdings nicht mehr so sicher.« Sein Kopf leuchtete dazu karminrot, was bei ihm so viel heißt wie „höchste Alarmstufe“. Hannos wechselnde Gesichtsfärbungen sind übrigens ein hoch interessantes, aber bisher auch noch gänzlich unerforschtes Gebiet. Wir beide vermuteten, dass wahrscheinlich die Firma Pelikan dahinter stecken könnte. Denn dass die spezifischen Farben um die es hier geht, alle in ihren Schultuschkästen zu finden sind, kann kein purer Zufall sein. Hannos persönliches Farbspektrum erstreckt sich von dem bereits erwähnten Karminrot (Pelikanfarbe 34) über Magentarot (43), Zinnoberrot (54), Orange (59b), Violett (109), Gebrannte Siena (190) bis hin zum Französisch Grün (135a). Wobei letztere Farbe ein wenig aus dem Rahmen fällt, da sie in der Regel kein Indiz für einen Aufregungszustand darstellt.
»Mensch Alter, hast du es immer noch nicht geschnallt, dass dein fröhlicher Zwilling für andere unsichtbar ist?«, riss er mich aus meinem gedanklichen Tuschkasten.
»Ach, und woher willst du das wissen?«, fragte ich begriffsstutzig.
»Rate mal!«
»Ey, wir sind hier nicht bei „Wer wird Millionär“.«
»Aus 1 wird 2«, setzte Hanno seine Rätselstunde fort.
»Ich habe keine Lust auf solchen Blödsinn.« Allmählich verlor ich die Geduld. »Kannst du jetzt bitte mal Klartext re… Ach du dickes Ei! Die Kiste!« Ich sackte zu Boden. »Meinst du es hängt damit zusammen?«
»Nun, es würde jedenfalls einen Sinn ergeben: Aus einem Tim werden zwei Tims«, übersetzte Hanno.
Okay, es ergab einen Sinn – keinen, den ich verstand, aber es war wenigstens eine Erklärung.
»Und wieso ist das nur mir passiert?«, fragte ich.
»Wer sagt denn das?«
Verwirrt sah ich mich um. »Kann es sein, dass du mir etwas verheimlichst?«
»Erinnerst du dich noch an meinen Spruch?«, antwortete Hanno mit einer Gegenfrage.
»Abgesehen davon, dass er eine originelle Grammatik hatte, nicht.«
»Ein Tier für dir«, half mir Hanno auf die Sprünge.
»Und?«, fragte ich neugierig.
Zur Antwort hielt Hanno mir seinen geöffneten Rucksack vor die Nase.
»Igitt, was ist denn das?« Vor Schreck war ich einen Schritt zurückgesprungen.
»Quahahahk», machte es aus dem Sack und Hanno sah mich mit der gequälten Verzweiflung eines Fallschirmspringers an, der kopfüber in der weit und breit einzigen Freilufttoilette gelandet war.
Ich wagte noch einen vorsichtigen Blick. »Ist das so was, wie …,
wie …, ‘ne …?«
»… Kröte«, vollendete Hanno. »Ich glaube schon.«
»Wow, ich wusste gar nicht, dass Kröten Tränensäcke und rote Augen haben können. Was ist das eigentlich für eine seltsame Farbe? Sieht aus wie irgendetwas Ausgekotztes.«
»Dann muss er heute Mellanie Wiedmayer zum Frühstück vertilgt haben«, sagte Hanno und wir mussten beide kichern. »Allerdings hat die Kröte sich bisher mehr für Schulliteratur, als für dicke Mädchen in lila Strickkleidern, interessiert. Als ich heute Morgen meine Schultasche packen wollte, hatte sie nämlich schon drei meiner Hefte und einen Teil des Geschichtsbuches verputzt. Das gesamte frühe Mittelalter ist jetzt praktisch ausgelöscht.«
»War ja auch eine brutale Epoche, mit den Kreuzrittern, der Inquisition und so«, versuchte ich etwas Humor einzuflechten.
»Ich finde das gar nicht witzig, Tim. Wenn das rauskommt, muss ich am Ende des Schuljahres das Buch ersetzen und dann kann ich mir den Todesstern endgültig abschminken. Weißt du, wie lange ich schon darauf spare?«
»Wenn das alles ist? Ich würde mir mal lieber Gedanken darüber machen, wie wir diesen Kistenzauber wieder loswerden können.«
»Gar nicht«, mischte sich Tim2 ein. »Wir werden jetzt für immer zusammen bleiben. Freust du dich?«
»Jaja, wie verrückt«, sagte ich, natürlich ohne es zu meinen. Tim2 wäre bei der Lösung dieses Problems jedenfalls keine Hilfe, dachte ich bitter.
»Der Ursprung ist zweifelsfrei bei der Kiste zu finden, da ist es doch nur logisch, wenn wir auch dort nach der Lösung suchen würden«, schlug Hanno vor.
»Ja, und bei unserem Glück gibt es mich dann plötzlich dreimal, deine Kröte hat sich verdoppelt und dein Rucksack beherbergt in Kürze eine komplette Krötendynastie, nachdem sich die Zwei darin fleißig fortgepflanzt haben.« Positives Denken gehörte nicht zu meinen Stärken. Hatte ich es schon erwähnt?
»Hast du eine bessere Idee?«, fragte Hanno genervt.
Hatte ich natürlich nicht, also machten wir uns gleich nach der Schule auf den Weg zu Schulzes Trödelladen.