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3. Kapitel

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Es regnet, als Papa mitten in der Nacht das Auto mit den restlichen Taschen belädt. Merle hat beschlossen, die ganze Nacht mit mir wachzubleiben, um mich bei den elf Stunden Autofahrt mental zu unterstützen. Kurz hinter Lille antwortet sie nicht mehr, dabei liegen noch mehr als acht Stunden Fahrt vor uns.

Mit Kopfhörern auf den Ohren zappe ich durch meine Depri-Playlist und denke an Flori. Er ist zwei Stufen über mir, kommt nach den Ferien in die zwölfte Klasse, hat einen Motorroller und die schönsten blauen Augen, in die ich jemals schauen durfte. Beim Schulfest vor einigen Tagen haben wir zusammen am Cocktailstand bedient. Er hat mir Sirup übers T-Shirt gekippt. Ein himmelblauer Unfall. Nachdem er sich tausendmal entschuldigt hat, wollte er es sogar waschen. Aber das wäre wirklich zu weit gegangen. Und dann hat er mir heute seine Telefonnummer zugesteckt. Es kribbelt in der Bauchmitte, sobald ich daran denke.

Nach dem Kofferpacken habe ich Floris Nummer ins Handy gespeichert und den Zettel in meiner Flori-Gedenkbox eingelagert. Soll ich ihm schreiben? Vielleicht wartet er morgen im Schwimmbad auf mich? Und wenn ich dann nicht komme, wird er ... Nein! Wie sieht das denn aus, wenn ich ihm sofort zurückschreibe? Den Fehler habe ich einmal gemacht. Leons Kumpels lachen immer noch über mich, wenn ich den Schulflur entlangkomme. Und die Aktion ist fast ein Jahr her. Diesmal muss ich es richtig machen. Ich schließe die Augen und beschwöre Floris Gesicht herauf: Die wunderbar leuchtend blauen Augen und sein Grübchen am Kinn, das sich verstärkt, sobald er lacht. Ich stelle mir vor, wie wir Hand in Hand im Freibad liegen und schlafe glücklich lächelnd ein.

In Caen wechselt Papa mit Maman den Platz am Steuer. Wir haben mehr als die Hälfte der Strecke hinter uns gebracht und vor uns geht die Sonne langsam auf. Einzelne Nebelschwaden hüllen uns ein, versperren die Sicht auf die endlosen Weiten der Normandie. Papa schaltet das Radio ein, sucht seinen Lieblingssender und brummt leise vor sich hin. Die ersten französischen Klänge switchen in meinem Hirn die Sprache um, so als wäre ich nie weg gewesen. Neben mir schnarcht Nico. Der Kopf ist ihm auf die Brust gesunken und ich versuche ihn vorsichtig zurück aufs Kissen zu drücken. Vergebens. Immer wieder sackt er nach vorn. Dann bleib halt so.

Zwei Stunden später erreichen wir unseren Lieblingsrastplatz mit Blick auf den Mont-Saint-Michel. Papa streckt sich, hält die Nase in die Luft und atmet tief durch. »Voilà! Wir haben es fast geschafft.«

Ich ziehe die Strickjacke fester um die Schultern. Der Wind fegt kühl über die angrenzenden Salzwiesen. Maman wirft Nico einen Fußball zu, den er sofort über den Rastplatz dribbelt und mit voller Absicht in meine Richtung schießt. Ich halte die Hände schützend vors Gesicht. Der Ball landet im Gebüsch.

»Kannst du nicht aufpassen?«

»Tschuldigung.« Er streckt mir die Zunge raus und steuert auf die Kletterweide am anderen Ende des Rastplatzes zu. Den Ball lässt er im Gebüsch liegen.

Siebenjährige Brüder sind nerviger als jede Hustenbazille!

Ich nehme Papa den Frühstückskorb ab. »Müssen wir auf der Fahrt eigentlich immer diesen Rentner-Sender France bleu hören? Davon fallen mir die Ohren ab.«

Papa lacht. »Sei froh, dass deine Mutter das Radioprogramm nicht bestimmt, ma puce, sonst müssten wir uns wahrscheinlich irgendein Violinkonzert anhören.«

»Okay, France bleu ist toll«, pflichte ich ihm grinsend bei. Mamans Vorliebe für Klassik wäre während einer elfstündigen Autofahrt nicht auszuhalten.

»Ich wusste, wir verstehen uns. Jetzt hol deinen Bruder vom Baum runter, damit wir frühstücken können.«

Gegen Mittag erreichen wir Perros-Guirec, oder Perros, wie die Einheimischen die idyllische Küstenstadt an der rosa Granitküste liebevoll nennen. Papa lässt die Fensterscheiben hinunter und die warme Sommerluft hinein. Das Glitzern des Wassers, der salzige Geruch des Meeres, das Kreischen der Möwen - alles ist so vertraut. In den Sommermonaten bevölkern Touristen die Cafés am Straßenrand, der Miniaturhafen mit den Tretbooten wimmelt von Besuchern und ein Spaziergänger huscht mit einem Baguette unterm Arm vor unserem Auto quer über die Straße. Im Sommer lässt sich nicht ausmachen, wer zu den wenigen Einwohnern der Stadt gehört und wer hier Urlaub macht. Gleich hinter dem Kreisverkehr schlängelt sich die Küstenstraße den Felsenberg hinauf, bieten einen traumhaften Blick über das azurblaue Meer. Eingerahmt von duftenden Hortensienhecken reihen sich historischen Villen aus rosa Granitsteinen aneinander. Und am Horizont schaukeln Fischerboote vor der Pirateninsel, wie Nico die unbewohnte Île Tomé nennt, die in der Bucht vor Perros aus dem Wasser ragt. Sie ist unter der Wasseroberfläche fast vollständig von Felsen umgeben, so wie der komplette Küstenstreifen an der Côte de Granit Rose.

In der Nähe vom Plage de Trestraou, dem längsten und wohl schönsten Sandstrand in Perros, lebt Omili, die Mutter meines Vaters. Sie vermietet Ferienwohnungen, einige mit Blick aufs Meer. Als Kind hat Maman hier im Urlaub mit ihren Eltern gewohnt und später dann Omilis Sohn geheiratet. Praktisch für die jährliche Urlaubsplanung.

Omili steht an der Straße und winkt. Sie trägt ein knielanges, ärmelloses Kleid, ihre dunklen Haare werden vom Wind zerzaust. Ich umarme sie bei der Begrüßung länger als gewöhnlich. Sie riecht vertraut nach Marmelade und salziger Meeresluft.

»Du bist wieder gewachsen. Eine richtige Dame ist aus dir geworden.« Sie streichelt meine Wange. »Deine Frisur ist hübsch.«

»Findest du?«

Omili umarmt mich ein weiteres Mal. »Ja. In diesem Sommer werden wir auf dich aufpassen müssen.«

Ich schweige. Warum soll ich ihr anvertrauen, dass bisher noch keinem aufgefallen ist, dass ich hübsch bin? Keinem, außer Flori. Vielleicht. Aber der ist nicht hier und ich bin nicht bei ihm und am Ende der Ferien wird sich zeigen, ob er mich immer noch mag. Doch das Ende der Ferien liegt in hoffnungslos weiter Ferne. Je länger ich darüber nachdenke, desto schwerer wird mein Herz. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich in Perros jemals Heimweh nach Köln hatte.

Mein Handy vibriert.

Merle: Bin mit Tim und Lisa in der City. Der schicke Berliner soll doch unsere Stadt lieben lernen.

Ich: Und dich.

Der arme Tim. Kurz vor den Sommerferien ist er von Berlin nach Köln umgezogen und Merle hat die Jagd auf sein Herz eröffnet. Mit all ihren weiblichen Waffen. Nur Tim scheint davon unbeeindruckt.

Merle: Warum auch nicht? Er ist doch zuckersüß!!!

Ich: Sowas von ... gar nicht! Niemand kommt an Flori dran!

Merle: Aber von dem muss ich die Finger lassen, also bleibt mir nur die Chance mich an Tim ranzuschmeißen.

Ich: Weiß er das schon?

Merle: Ich glaube nicht ... hihi ... aber, ich werde ihn schon rumkriegen. Gehen gleich zum Dom.

Ich: Hoch?

Merle: Klar!

Ich: Hast du die passenden Schuhe an? Oder läufst du die fünfhundertdreiunddreißig Stufen in Pumps hinauf?

Merle schickt ein Selfie. Kurzer Jeansrock, Top, darüber die Jeansjacke, die wir vor den Ferien in einem Secondhand-Shop gekauft haben, und die rosafarbenen Glitzer-Ballerinas, von denen Merle beim letzten Einkaufsbummel zwei fette blutige Blasen bekommen hat.

Ich: Dann viel Erfolg.

Ich schüttle den Kopf. Mit Turnschuhen wäre der Weg auf den Turm bestimmt angenehmer. Aber Merle ist eben Merle. Und sie fehlt mir jetzt schon.

Merle: Hier schau mal. An was erinnert dich die Farbe?

Merle hat blauen Nagellack gekauft und vom Fläschchen ein Bild geschickt.

Ich: An das Meer?

Merle: Du spinnst. Die Farbe erinnert an Floris Augen und du ziehst jetzt los und kaufst dir auch ein Fläschchen blauen Nagellack, damit du an ihn denken kannst.

Merle ist so süß! Moment. Floris Augen?

Ich: Warum hast DU dir den Nagellack dann gekauft?

Merle: Warum wohl? Tim hat mindestens genauso schöne blaue Augen wie dein Prinz.

Klar. Was sonst? Merle hat eine neue Nummer eins gefunden. Hoffentlich merkt Tim bald, dass Merles Liebes-Rangliste sehr instabil ist und er schneller im Abseits landen kann, als ihm lieb ist.

Aber Merle hat recht. Vielleicht gehe ich auch gleich in die Stadt und hole mir ein Nagellackfläschchen. Am besten in schwarz. Das passt zu diesem quälenden Heimwehgefühl.

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