Читать книгу Let's Surf - Sandra-Maria Erdmann - Страница 6
4. Kapitel
ОглавлениеNach dem Mittagessen räumt Papa das Auto leer. Mein Skatebord lehnt bereits an der Veranda. »Ich geh kurz nachschauen, ob das Meer noch da ist«, rufe ich Richtung Terrasse. Schnell weg. Wer weiß, ob Maman mir Nico aufs Auge drückt. Den kann ich nicht gebrauchen, weil ich ein bisschen leiden muss. Und so etwas macht man am besten allein. In Gedanken bin ich an jenem Ort, an dem ich jetzt gern wäre. Köln. Ich, anstatt von Lisa und Tim mit Merle unterwegs. Nicht in der City, sondern im Freibad. Dort hätte ich Flori gesehen, ihn vielleicht sogar in ein Gespräch verwickelt. Hinterher hätte er mich auf ein Eis eingeladen und zum Abschied geküsst. Diese Tagträume sind extrem ... unrealistisch. Niemals hätte ich den Mut aufgebracht, Flori in ein Gespräch zu verwickeln. Wahrscheinlich hätte ich irgendwann angefangen, wirres Zeug zu labern. Hinterher hätte ich Merle beim Retten der Situation zugeschaut und mich über meine eigene Dummheit geärgert.
Ich steuere auf den Drogeriemarkt zu. Soll ich wirklich? In der hinterletzten Reihe stehen die Nagellackfläschchen. Daneben all die sonstigen Kosmetikartikel, die bei Merle auch herumstehen und für die man Abitur braucht, um zu verstehen, zu welchem Anlass welche Creme benutzt wird. Farbe an den Fußnägeln lasse ich mir gefallen. Meist probiere ich die Sorten, die Merle kauft, die ihr aber nach einem Probedurchlauf in der Schule nicht mehr zusagen. Knallrot. Türkis. Lichtgrün. Für die Füße reicht es. So viel Geld für Zeugs, das man sich irgendwo hinschmiert, pudert oder klebt, ist bei mir die absolute Verschwendung. Maman sähe zwar gern, dass ich mein Zimmer mit Kosmetikartikeln dekorieren würde, anstelle des ganzen Surfzubehörs. Sie will einfach nicht einsehen, dass die beste Schminke im Wasser nichts taugt und verlaufende Wimperntusche als Pandamaske echt unsexy wirkt. Dann lieber ungeschminkt.
Ich greife das Fläschchen mit dem schwarzen Nagellack, drehe es zwischen den Fingern hin und her, stelle es aber wieder zurück. Vielleicht sollte ich doch blau nehmen. Schnell kontrolliere ich Merles Bild. Azurblau oder was steht da? Wie Floris Augen. Nein! Ich will nicht permanent daran erinnert werden, dass ich Floris Augen in diesen Sommerferien nicht sehen werde. Also doch dieses grottige Ich-bin-gefrustet-Schwarz, um meine Traurigkeit zum Ausdruck zu bringen? Schwarze Fußnägel erwecken den Eindruck, einem wäre etwas mit voller Wucht auf die Zehen gefallen.
Ich scanne die einzelnen Farben ab. Rosa geht gar nicht. Alle Nuancen von Blau sind ausgeschlossen. Rot - zu extravagant und Grün sieht nach verfaulten Füßen aus. Ich greife das neonorangefarbene Fläschchen. Miese Stimmung lässt sich auch mit Orange vertreiben. Die Farbe schreit förmlich nach Protest. Mein erstes Nagellackfläschchen. Ich bin gespannt, was Merle dazu sagt.
Ich bezahle an der Kasse und steige dann grinsend aufs Skateboard. Im Slalom lasse ich mich von der Straße hinunter zum Strand treiben. Ich hätte meine Sonnenbrille mitnehmen sollen. Auf einer Bank mit Blick auf den Plage de Trestraou pinsle ich meine Fußnägel ein und knipse ein Bild für Merle.
Ich: Was sagst du?
Neonorange. Meine Sommerferien-Protestfarbe. Maman wird es leider lieben, weil es mich für einen kurzen Moment in die Tochter verwandelt, die sie gern hätte.
Merle: Die Farbe brauche ich auch.
Ich: Dann kauf sie dir doch. Was macht Tim?
Merle: Der hat gerade meinen Smoothie bezahlt.
Ich: Und? Seid ihr schon zusammen?
Merle: Quatsch! Wo denkst du hin. Tim ist anders.
Ich: Blind?
Er muss blind sein, sonst hätte er sich längst Hals über Kopf in sie verliebt, in ihre Lillifee-Locken, das süße Stupsnäschen und die hübschen mandelförmigen Augen. Dann hätte er ihr nicht nur den Smoothie ausgegeben, sondern die halbe Welt zu Füßen gelegt.
Merle: Er braucht vielleicht ein bisschen länger. Morgen gehen wir ins Freibad. Dann muss er sich in mich verlieben. Ich ziehe den rosafarbenen Bikini an.
Ich: Den Hauch von Nichts? Dann kann er wirklich nicht mehr anders. Wenn er danach nicht verliebt ist, ist er entweder wirklich blind oder schwul.
Merle: Niemals! Der ist garantiert nicht schwul!!!
Ich: Dann hast du Flori heute nicht gesehen?
Merle: Nein. Wenn er mir morgen über den Weg läuft, grüße ich ihn von dir. Hat er sich gemeldet?
Der Platz neben mir auf der Bank wird von einer Frau mit drei Strandtaschen in Beschlag genommen. Seufzend stellt sie ihre Last dicht neben mir ab. Ich rücke ein Stück von ihr weg.
Ich: Ich habe ihn noch nicht angeschrieben.
Merle: WAS???
Ich weiß, ich bin ein Feigling. Was, wenn er mich gar nicht mag? Wenn er mir seine Nummer nur gegeben hat, damit er sich über mich lustig machen kann? So wie Leon.
Merle: Schreib ihn auf jeden Fall an. Schicke ihm ein Bild vom Strand. Irgendwas. Sonst denkt er, du magst ihn nicht ...
Ich: Soll ich wirklich?
Merle: Auf jeden!
Merle hat gut reden. Sie ist hübsch und witzig und kein bisschen verklemmt. Sie ist genau das Gegenteil von mir. Treffe ich auf einen Jungen, den ich mag, fange ich an zu stottern und wirres Zeug zu labern.
Ich: Ich weiß nicht ...
Merle: Was soll ich bloß mit dir machen???? So kriegst du nie einen ab! Denk dran, du wolltest nicht ungeküsst sterben.
Danke auch! Der Sand auf den Stufen zum Strand hinunter knirscht unter meinen Schritten. Blasse Urlauber liegen auf bunten Tüchern, einige haben Sonnenschirme und hindern diese mit Steinen am Davonfliegen. Auf den Trampolinen vom Strandclub üben einzelne Jugendliche Saltos. Ich schlängle mich rechts an den Handtuchplätzen vorbei.
In der Nähe des Volleyballfelds lasse mich in den Sand plumpsen. Das sind doch Sylvie und Manon? Die Zwillinge spielen mit zwei braungebrannten Strandboys Volleyball. Die Jungs tragen neonorangefarbene Badehosen.
Ich muss kichern und schiele auf meine frisch lackierten Fußnägel. Ich habe die beiden im letzten Jahr kennengelernt. Sie haben auf dem Zeltplatz unweit vom Plage de Trestraou gecampt. Ab und zu bin ich bei ihnen gewesen, um meinem Bruder zu entkommen.
Die beiden haben mich noch nicht bemerkt. Manon spielt in einem Zweierteam zusammen mit einem blonden Typen, der Flori ähnelt. Ihr Blick verfolgt energisch den Ball, ihre Bewegungen sind katzenhaft und treffsicher. Ihre Schwester bildet das Team mit einem großen dunkelhaarigen Kerl, dessen Frisur an einen Hund erinnert. Vergeblich schiebt er die Haare aus dem Gesicht, die ihm der Wind immer wieder vor die Augen weht. Irgendwie ganz niedlich.
Sylvie trägt einen giftgrünen Bikini, bei dem ein einzelnes Wort zu viel der Beschreibung wäre. Sie kann so etwas tragen, ohne sich am Strand als Witzfigur zu blamieren. Leider hilft ihr das gute Aussehen nicht bei der Annahme des Schmetterballs, den der Blonde ihr um die Ohren schießt. Ich höre sie kichern, während sie über das Spielfeld tänzelt, mit ihrem knallgrünen Hinterteil wackelt und ihrem Spielpartner einen schmachtenden Blick zuwirft. Wie Merle. Ich muss grinsen. Ob sie Tim mittlerweile um den Finger gewickelt hat? Ich mache ein Foto von Sylvie und schicke es Merle.
Ich: Die Farbe würde dir auch stehen.
Merle: Grün? Spinnst du? Außerdem finde ich den Kerl daneben viel interessanter. Kannst du den nochmal heranzoomen?
Ich: Du bist ja witzig!
Der Kerl mit der Hundefrisur wirft Manon den Ball zu, den sie geschickt annimmt und zu ihm zurückspielt. Eigentlich juckt es mir in den Fingern. Zu gern würde ich eine Runde mitmachen und ganz tief in mir macht sich ein seltsames Gefühl breit. Ich habe die zwei echt ein wenig vermisst. Schnell verdränge ich diesen Augenblick der Schwäche, versuche ein mürrisches Gesicht aufzusetzen. Wenn man miese Stimmung verbreiten will, dann muss man mit dem entsprechenden Gesichtsausdruck beginnen. Mundwinkel runter und die Augen gelangweilt zusammengekniffen. Ich kontrolliere den Gesichtsausdruck mit der Selfie-Funktion meines Handys. Naja. Ein Anfang.
Manon bringt den Ball ins Spiel. Sylvie nimmt an, befördert ihn direkt ins gegnerische Feld. Oh man, wie blöd. Die Chance nutzt jetzt der Blonde, springt hoch, fängt den Ball in der Luft ab und schmettert ihn zurück auf Sylvie. Kreischend reißt sie die Arme hoch, lenkt den Ball ins ... aua, verdammt ... doch nicht auf mich! Verflixt, meine Nase. Meine Nase!
Rot läuft mir das Blut zwischen den Fingern hindurch und tropft in den Sand.
»Désolé.« Sylvie schlägt sich die Hand vor den Mund und fällt vor mir in den Sand. »Oh Caro, das tut mir so leid!« Hinter ihr taucht der Dunkelhaarige auf, dann sehe ich einen blonden Kopf und Manons rundes Gesicht.
»Das wollte ich nicht, mon amie«, jammert sie und umarmt mich hektisch.
Das Blut tropft auf meine nackten Oberschenkel.
»Ich brauche ein Taschentuch«, murmle ich. Mit dem Handrücken wische ich die rotbraunen Flecke über meine helle Haut. Die Frau auf dem Strandlaken neben uns reicht mir ein Stück Küchenpapier. Blitzartig färben es die Blutstropfen dunkelrot. Besser die Augen schließen.
»Warte, ich hole dir ein Kühlpack«, höre ich eine dunkle Jungenstimme und sehe den Kerl mit der Hundefrisur aus dem Augenwinkel im Slalom um die Strandbesucher herumrennen. Ich brauche sowas nicht, will ich ihm hinterherrufen, aber Sylvie drückt meinen Kopf wieder hinunter, bevor ich überhaupt zu Wort komme. »Unten lassen!«
Ich gehorche, während Sylvie unaufhörlich auf mich einredet und mir über den Kopf streichelt. Ich ziehe ihn weg, bin doch kein kleines Kind mehr. Kann ich jetzt wieder hochgucken? Als ich es versuche, drückt Sylvie mich wieder hinunter. Mit geschlossenen Augen zähle ich bis zwanzig.
»Hier, das wird dir helfen.« Im selben Moment spüre ich ein Kühlpack im Nacken. In der neonorangefarbenen Badehose stecken zwei braune Beine mit kräftigen Waden.
»Danke.« Schnell die Augen schließen. Hundefrisur und braune Beine - dieses Bild wird mich für immer verfolgen.
»Kannst es nachher im Strandclub abgeben«, sagt er.
Ich nicke und blinzle Sylvie von der Seite an. »Du kannst echt immer noch nicht Volleyball spielen.«
»Nicht so viel reden, Süße. Warte lieber, bis die Blutung aufgehört hat.«
Vorsichtig hebe ich den Kopf. Das Kühlpack rutscht mir den Rücken hinunter. »Und? Schlimm?«
Sylvie reißt die Augen auf, schürzt die Lippen, schüttelt dann aber den Kopf. »Könnte schlimmer aussehen.«
»Braucht ihr hier noch Hilfe?«, fragt die dunkle Jungenstimme, die zu den braunen Beinen in den orangefarbenen Shorts gehört.
»Nein. Geht schon mal weiterspielen. Wir kommen gleich nach«, antwortet Sylvie.
Die beiden Typen ziehen ab. Irre ich mich, oder hat sich der Dunkelhaarige gerade umgedreht und mir mitfühlend zugelächelt? Quatsch! Unter dem Schlag hat wahrscheinlich auch mein Urteilsvermögen gelitten.
»Die Nase ist jedenfalls gerade«, bemerkt Manon trocken.
»Vielen Dank für diese aufmunternden Worte.« Ich halte meine Hand auf. »Hast du noch ein Tuch?«
Sylvie legt das heruntergefallene Kühlpack zurück in meinen Nacken und schüttelt den Kopf. »Warum sitzt du hier eigentlich still und heimlich, statt zu uns rüberzukommen?« Dabei heben sich ihre geschwungenen Augenbrauen vorwurfsvoll.
Sie ist wirklich genau wie Merle! Ich muss schmunzeln. »Ich habe eure Volleyball-Künste beobachtet. Aber da ist noch viel Luft nach oben.«
Sie nimmt mich in den Arm. »Geht es denn? Hoffentlich wird das nicht blau. Wäre echt blöd ...« Ihr Blick wandert zu den beiden neonorangefarbenen Badehosen-Typen, die wieder auf dem Spielfeld stehen und sich den Ball gegenseitig zuspielen.
»Warum?«
Sie lacht auf. »Ach klar, ich habe ja ganz vergessen, dass du dich nur für dein Surfbrett interessierst. Ich würde mich mit einer blauen Nase nicht unter die Leute trauen.«
Manon, die bisher nur still neben mir gesessen hat, stupst mich an und zeigt auf ihre Zwillingsschwester. »Sie geht sogar geschminkt ins Bett, damit sich der Kerl in ihrem Traum nicht erschreckt.«
Manon hält mir eine Faust entgegen, die ich grinsend abchecke. »Geht aber wieder. Wird schon nicht so schlimm aussehen. Außerdem brauchst du dann keine Angst vor Konkurrenz zu haben.« Ich nicke in Richtung der beiden Badehosen-Jungs.
Sylvie drückt mich. »Dann verzeihst du mir?«
»Natürlich. Aber ich muss mir das Blut aus dem Gesicht waschen. Kommst du kontrollieren, ob hinterher alles weg ist?«
Sylvie zieht mich hoch und tänzelt voraus.
Die Sprungtürme stehen bis zur Hälfte im Wasser. Die Flut rollt mit kräftigen Wellen an und Kids mit Luftmatratzen und Body-Boards* lassen sich von ihnen ans Ufer tragen. Eigentlich die perfekte Zeit zum Surfen. Am unteren, unbewachten Strandabschnitt biegen sich zwei Fahnen im Wind, die den Surfschülern anzeigen, in welchem Bereich sie sich im Wasser aufhalten dürfen. Von hier aus kann ich nicht erkennen, ob Chris unter dem Strohhut steckt oder einer der anderen Surflehrer der Schule.
Ich tauche die Hände ins Wasser, schaufle es mir ins Gesicht und wische die rote klebrige Masse aus Mund und Nase. Blutgeschmack ist widerlich und ich unterdrücke den Würgereiz. »Wie sieht es aus?«
Sylvie hebt einen Daumen. »Mit ein bisschen Make-up sieht man bestimmt nichts. Hast du Lust eine Runde mitzuspielen?«
Kopfschüttelnd trockne ich die nassen Hände an den Shorts ab. »Ich wollte gleich mal rüber zur Surfschule, vielleicht ist mein Onkel da und hat Zeit für 'ne Runde. Nimmst du in diesem Jahr auch Stunden?«
Sylvie deutet auf die Jungs in den neonorangefarbenen Badehosen. »Vielleicht bekomme ich ja Privatunterricht von den beiden Hübschen da drüben.«
Ich schaue hinüber. Dieses Mal irre ich mich nicht: Der dunkelhaarige Badehosen-Typ hat mir tatsächlich zugelächelt.