Читать книгу Der Sommer mit Josie - Sandy Lee - Страница 10
7
ОглавлениеAls Barbara am Montagmorgen den kurzen Weg zur Boutique ging, hatte sie immer noch keinen Plan, wie es weitergehen sollte. Es waren verschiedene Ansätze vorhanden. Die Vertrauenslehrerin würde jederzeit helfen, die Kinder hatten Ferien, so dass Josie sich erst einmal zu Hause in ihre neue Rolle hineinleben konnte, morgen würde sie mit Hendrik darüber sprechen. Aber ihr schienen das Tropfen in einem Meer an Fragen zu sein. Im Augenblick fiel ihr nur eines ein. Auf Veronika konnte sie sich hundertprozentig verlassen, wenn sie die Freundin in ihre Sorgen einweihen würde. Sie sah jetzt keine andere Möglichkeit. Allein wurde sie mit der Sache nie fertig. Und wenn der Urlaubstrip klarging, wusste die es in drei Wochen sowieso.
Barbara öffnete die Tür des Geschäftes. Ein elektronischer Gong ertönte – drei Töne. Veronika kam von hinten, zupfte noch an ihrer Bluse.
»Hallo Babs! Sag mal …« Sie schaute genauer hin. »Du siehst müde aus. Hast du dich nicht erholt? Es war doch ein wunderbares Wochenende.«
»Hallo Vroni! Wem sagst du das, bitte? Ich fühle mich erschöpft, gerädert – nenn es, wie du willst.«
»Was war los? Bist du krank?«
»Noch nicht«, winkte Barbara ab. »Aber wenn das so weitergeht, dauert's nicht mehr lange.«
Veronika legte eine besorgte Miene auf.
»Was fehlt dir denn? Sag schon, wir kennen uns doch!«
Barbara entgegnete, etwas gereizt: »Was mir fehlt? Drei Dinge! Nerven wie Stricke, ein paar freie Tage und – Hilfe.«
Sie schaute ihre Freundin an. Hatte sie eine Wahl?
»Vroni, du musst mir helfen!«
Das glaubte Veronika auch.
»Ich rufe Marion an. Vielleicht kann sie hier mal übernehmen.«
Marion hatte früher im Geschäft gearbeitet. Jetzt war sie im Vorruhestand. Doch ab und zu schaute sie vorbei, packte hier mit an, half da mal aus. Sie war eine gute Seele, und sie würde die beiden nicht im Stich lassen, wenn sie gebraucht wurde.
Während Barbara hinten Kaffee aufsetzte, telefonierte Veronika mit der alten Kollegin. Nach kurzer Zeit kam sie zu ihrer Freundin.
»In zehn Minuten ist sie hier.«
Barbara bedankte sich.
»Du bist echt ein Schatz.«
Veronika lächelte verlegen, goss von dem aromatisch duftenden Getränk ein und sagte. »Und nun erzähle! Wobei soll ich dir helfen?«
»Ich weiß nicht einmal, ob du mir selbst helfen kannst. Aber vielleicht weißt du, wer mir helfen könnte.«
»Mach's nicht so spannend!«
Barbara legte ihre Hand auf Veronikas Unterarm.
»Es ist ein verdammt heikles Thema, und ich bin auf deine absolute Verschwiegenheit angewiesen. Sonst gibt es unter Umständen eine Katastrophe.«
Die Freundin guckte erschrocken. Sie nahm einen Schluck vom dampfenden Kaffee.
»Du machst mir ja Angst mit deinen Andeutungen! Aber sag, wie lange kennen wir uns? Vierzehn Jahre, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht. Wenn du mir vertraust, dann tust du das doch aus Überzeugung, oder?«
Da hatte Veronika recht. Eigentlich gehörte sie fast zur Familie, so eng war ihre Freundschaft. Barbara wischte alle Zweifel weg.
Vorn ertönte der Gong. Durch den offenen Vorhang sahen die beiden, dass Marion soeben gekommen war. Barbara wollte aufstehen. Veronika drückte sie zurück.
»Lass mal, ich regle das schon.«
Während sie vorn mit der ehemaligen Kollegin alles besprach, dachte Barbara: ›Es ist doch schön, wenn man jemanden hat, auf den man sich in jeder Situation verlassen kann.‹ Und sie fragte sich, wie sie nur eine Sekunde hatte zögern können, ihre beste Freundin ins Vertrauen zu ziehen.
Die kam gerade zurück.
»Für die nächste Stunde haben wir Zeit, etwas gegen deine ›Katastrophe‹ zu tun.«
»Gehen wir zu dir?«
Veronikas Wohnung lag etwa so weit von der Boutique entfernt wie Barbaras, jedoch in der anderen Richtung. Als sie ins Wohnzimmer kamen, ließ die Freundin als erstes die Jalousie herunter, denn die Sommersonne schien direkt durch das Fenster in den Raum.
Veronika verschwand kurz in die Küche und kam mit einer angebrochenen Flasche Rotwein und zwei Gläsern zurück.
»Ich denke, unter gegebenen Umständen können wir uns das erlauben.«
Sie setzten sich in die bequemen Sessel.
»So, nun berichte!«
Barbaras Stimme wurde brüchig, während sie sprach.
»Es geht um meinen Jungen.«
»Daniel? Hat er was verbockt? Oder ein Mädchen?«
Barbara seufzte.
»Das wäre nichts gegen das, was ich am Wochenende durchgemacht habe. Aber du hast schon den Finger drauf.«
Barbara trank von der roten Verführung.
Sie senkte die Stimme, nicht wegen des brisanten Satzes, sondern, weil es sie Mühe kostete.
»Daniel lebt in der Vorstellung, ein Mädchen zu sein.«
Veronika hustete. Sie hatte sich am Wein verschluckt.
»Er glaubt … er sei … ein Mädchen?«
Barbara hörte den Zweifel heraus und stellte richtig: »Er ist sich ziemlich sicher, im falschen Körper zu stecken. Verstehst du? Transgender!«
Ihre Freundin nickte.
»Ich hab schon davon gehört. Aber ich hätte nie geglaubt, dass das je so nah passiert.« Sie trank erneut. »Wie bist du draufgekommen?«
Barbara erzählte kurz vom Freitagnachmittag. Sie beschrieb die Stimmung so emotional, dass sich Veronika nicht enthalten konnte zu sagen: »Oh Gott! Der Arme … ihr … Was machst du jetzt, Babs?«
Barbara zuckte die Schultern.
»Ich hab vorgestern mit der Vertrauenslehrerin von Daniels Schule gesprochen. Ilsa weiß inzwischen auch Bescheid. Morgen Nachmittag werde ich zu Hendrik fahren.«
»Und wie hat Ilsa darauf reagiert?«
»Oh, sie war stinkesauer, weil ich es ihr nicht sagen wollte. Aber als sie's dann erfahren hatte, war sie eigentlich ganz gelassen …«
Barbara holte sich die Bilder vom Vortag zurück.
»… ganz gelassen. Ja, sie hat eine Menge Fragen gestellt. Du, ich glaube, die Jugendlichen heute sind mit solchen Situationen mehr vertraut, als wir denken. Wenn ich mir da morgen Hendrik vorstelle.«
Veronika goss in Barbaras Glas nach.
»Das kommt mir schon logisch vor. Erinnere dich, wie verknöchert die Sitten früher waren! Da durften sich zwei junge Leute nicht mal allein treffen! Und so, wie heute viele keine Probleme mit ihren Klassenkameraden mit Migrationshintergrund haben, sehen sie möglicherweise auch die Spielarten menschlicher Sexualität viel normaler. Viele, aber eben nicht alle.«
Ob es nun der Wein war, oder ob Veronikas Worte die Spannung in Barbara tatsächlich gelöst hatten, lässt sich nicht sagen. Sie schaute die Freundin an und sagte mit herzlicher Stimme: »Vroni, du bist ein Schatz.«
Veronika prostete ihr zu. »Ich weiß, Babs.«
Es herrschte eine Weile Stille. Draußen konnte man hören, wie sich die Spatzen stritten. Tiere und Menschen gleichen sich oft. Nur wissen das die Tiere nicht.
Barbara unterbrach das Schweigen.
»Du meinst also, ich mache mir mehr Gedanken als nötig über Daniels Zukunft? Weil ich es aus der Perspektive unserer Generation sehe? Wolltest du das damit sagen?«
»Zumindest zum Teil wird es so sein. Was den Weg sicher nicht viel einfacher macht. Aber der Junge muss Ängste abbauen, wenn er als Mädchen leben will. Er darf nicht in jedem einen potenziellen Feind sehen.«
Barbara nickte: »Ich werd's ihm zu erklären versuchen.«
»Und, Babs …« Veronika stand auf, trat hinter sie und legte die Hände auf ihre Schultern. Sie beugte sich zu ihr herab, so dass Barbara im Augenwinkel die rote Strähne erkennen konnte, dann fuhr sie fort: »bleib ein paar Tage zu Hause! Ich rede mit der Chefin. Ich werd schon einen Grund finden. Du musst dich jetzt um so viel kümmern. Du brauchst jede Minute, die du kriegen kannst …«
Sie drückte ihre Wange gegen Barbaras.
»… auch für dich.«
Barbara genoss diese Zuwendung. Sie versuchte immer, ihren Kindern Wärme und Geborgenheit zu geben, und vergaß darüber oft, dass sie die genauso nötig hatte. Seit Hendrik weg war, fehlte ein wichtiger Teil in ihrem Leben. Manchmal stellte sie sich die Frage, ob die Zeit ohne ihren Mann wirklich die bessere Alternative sei.
Veronika löste sich von ihrer Freundin.
»Und, was habt ihr wegen des Urlaubs beschlossen? – Um mal das Thema zu wechseln.«
Barbara wendete ihr den Kopf zu.
»Sie machen mit. Ilsa war sofort dabei, als ich die Pferde erwähnte. Und Daniel habe ich gekriegt, als ich ihm einen leichteren Einstieg in den Alltagstest in Aussicht stellte. Sie freuen sich schon auf dich.«
»Ähm …« Veronika wippte mit dem ausgestreckten Zeigefinger in Barbaras Richtung. »was mir gerade einfällt: Wie soll ich Daniel jetzt eigentlich ansprechen? Habt ihr darüber schon geredet? Also«, sie verdrehte die Augen, »es wäre schon irgendwie abwegig, wenn ich mir deinen Sohn im Kleid vorstelle und Daniel zu ihm sage.«
Barbaras Gesicht begann zu leuchten, weil sie sich gerade noch einmal die gestrige Offenbarungsszene vorstellte.
»Er hat's mir durch die Schallplatte gesagt. Josie möchte er heißen.«
Veronika kannte natürlich auch die Geschichte um das Lied.
»Nein! Ach, wie süß von ihm. Er hat euer Lied gespielt, und … und er hat sich Josie als Name ausgesucht? Babs, du solltest der glücklichste Mensch auf der Welt sein! Er hat bei so einer wichtigen Entscheidung an dich … an euch gedacht.«
Sie hatte neu angesetzt, um auch Hendrik in die Situation einzubeziehen.
Barbara war in diesem Moment tatsächlich unsagbar glücklich.
Barbara hatte Veronikas Rat angenommen und ihre Freundin gebeten, bei der Chefin eine Woche unbezahlten Urlaub auszuhandeln. Dieses Opfer musste sie bringen, Josies und ihrer selbst wegen.
Als sie vorhin auf die Straße getreten war, hatte sie festgestellt, dass Veronikas Wein nicht ganz unschuldig an der entkrampften Stimmung gewesen sein dürfte. Doch auf dem Fußweg nach Hause pustete ein laues Lüftchen den Hauch von Schwips hinweg.
Das Erste, was Barbara bemerkte, als sie die Wohnung betrat, war, dass sich Stuhl und Kleid nicht mehr vor Josies Tür befanden. Sie schaute in die Küche, wo sich alle vier Stühle in Eintracht um den Tisch gruppierten. Leise öffnete sie die Schlafzimmertür. In diesem Augenblick konnte sie ihre Neugier nicht mehr bezähmen. Keine Spur von dem Kleid, weder draußen, noch im Schrank. Im Vorübergehen hatte sie einen Blick durch die offene Wohnzimmertür riskiert und dort auch alles beim alten gefunden. Hatte Josie den Wink verstanden?
»Josie?«
Ganz leise hatte es Barbara gesagt, fast so, als hätte sie in diesem Moment Angst davor.
Die Tür öffnete sich langsam. Und, etwas verschämt, schob sich Josie durch den Spalt. Sie sah genauso aus wie am Freitag, vielleicht sogar noch eine Spur zerbrechlicher, weil unsicher. Ihr Haar trug sie wieder offen, ihr Blick sagte alles. Es war das erste Mal, dass sie sich freiwillig so zeigte.
Barbara trat zu ihr, zupfte hier und da am Kleid, schob ihr eine herabhängende Strähne aus dem Gesicht.
»Das steht dir wunderbar, Josie. Es passt wirklich gut zu dir.«
Josie lächelte verlegen, dann deutete sie mit einem Blick auf ihre Füße. Sie war barfuß.
Ihre Mutter schmunzelte: »Das kriegen wir auch noch hin. Passende Schuhe habe ich leider nicht. Vielleicht ziehst du erst einmal die weißen Stoffturnschuhe an. Nicht ganz Haute Couture, aber damit kommst du über den Tag.«
Josie folgte ihrem Vorschlag. Ja, das ging schon. Sie würde heute ja nur in der Wohnung so auftreten, versuchen, Sicherheit zu gewinnen.
Barbara half nach.
»Wenn du soweit bist, dass du dich wie in deinen Jungssachen fühlst, dann kommt der nächste Schritt. Wir tasten uns langsam vor. Du denkst jetzt noch nicht an morgen oder übermorgen, sondern konzentrierst dich ganz auf heute!«
Noch in die Betrachtung ihrer Tochter vertieft, kam ihr plötzlich eine Idee.
»Josie, weißt du was?«
»Was denn, Mama?«
»Dir gefällt doch dieses Kleid. Du hast es dir ja selbst ausgesucht.«
»Ja, es ist schön.«
»Dann darfst du es behalten, als Grundstock für deine neue Garderobe.«
Josie war ergriffen.
»Du bist so lieb.«
Bei all der Liebe bemerkte Barbara die etwas unbeholfenen Bewegungen ihres Kindes.
»Ich werde dir in nächster Zeit eine Menge beibringen. Du musst ja auch lernen, dich wie eine junge Dame zu bewegen und zu verhalten.«
Josie umarmte ihre Mutter.
»Danke Mama. Schön, das du so für mich da bist. Aber geht das denn überhaupt?«
»Da mach dir mal keine Gedanken. Ich habe mir diese Woche frei genommen, um nur für dich da zu sein … na ja, fast. Deinem Vater muss ich ja die Situation auch noch beibringen.«
»Muss das sein?«
»Schatz, es geht nicht anders. Er hat ein Recht darauf, es zu wissen. Sieh mal, wir sind deine Eltern und müssen allem, was in Zukunft mit dir geschehen soll, zustimmen. Beide – weil du noch nicht volljährig bist. Schon deshalb muss er es wissen, bald wissen. Denn du willst doch bereit sein, wenn die Schule wieder beginnt.«
Josie wusste, dass ihre Mutter trotz deren Unerfahrenheit in der neuen Situation den richtigen Blick für das Wesentliche hatte. Und dafür achtete sie sie.
Ilsa hatte sich wieder mit Caro verabredet. Sie saßen beide auf dem Rand des alten Brunnens, der mitten auf dem Marktplatz stand. Mit der Hand fuhr sie durch das kühle Wasser, dessen Oberfläche in der Sonne so stark reflektierte, dass sie die Augen zusammenkneifen musste.
Caro schubste sie an.
»Nun erzähle mir mal, warum du gestern nicht kommen konntest!«
»Ach wir hatten was zu besprechen, wegen Papa.«
Caro kannte die Verhältnisse bei Wegeners.
»Will sich deine Mama etwa nun doch scheiden lassen?«
»Nee, es ging um den Urlaub.«
»Und? Dir muss man auch jedes Wort aus der Nase ziehen!«, grummelte Ilsas Freundin.
»Und du bist neugierig wie ein Waschweib.«
Caro stutzte bei diesem Satz.
»Was ist'n das?«, fragte sie unverständig.
Ilsa grinste sie an.
»Den Spruch hat Mama mal gebraucht, als ich sie mit Fragen gelöchert habe. Genau wie du jetzt.«
»Ach so. Und was wird nun mit dem Urlaub?«
»Wir fahren zusammen mit Mamas Freundin aufs Land. In ein Ferienhaus bei einem Reiterhof.«
Geschickt brachte Ilsa das zweite Gesprächsthema von gestern ins Spiel.
»Und das musstet ihr gestern Nachmittag besprechen?«
Caro ließ nicht locker. Manchmal war sie eine richtige Nervensäge.
»Mama hatte es verschwitzt, dass sie heute Bescheid geben musste. Und wir waren gerade alle da.«
Das Mädchen konnte lügen, ohne rot zu werden.
»Was ist'n nun mit deinem Bruder?«
»Ach der …« Ilsa zögerte, weil sie eine glaubhafte Erklärung brauchte. »der hat Probleme mit 'nem Mädchen.«
Die Antwort war genial. Denn sie stimmte. Nur wusste Caro nicht, dass das Mädchen er selbst war.
Die entgegnete prompt: »Hab ich dir doch gesagt. Meiner spielt sich auch so auf, wenn mit seiner Freundin was nicht stimmt!«
Barbara hatte sich an den Couchtisch gesetzt. Vor ihr lag ein Schreibblock. Sie grübelte.
Josie hatte nur ihr Taschengeld und einiges auf dem Sparbuch. Damit war sie nicht in der Lage, sich vollständig neu einzukleiden. Also musste sie ihrer großen Tochter unter die Arme greifen.
Als Frau hatte sie einen guten Überblick, was Josie alles benötigen würde. Sie wollte ihre Vorstellungen niederschreiben und dann mit ihr abstimmen. Also …
Die Seite füllte sich rasch mit verschiedenen Artikeln. Barbara hatte sie in Kategorien unterteilt: Sommerkleidung, die Josie sofort brauchte, Übergangs- und Winterkleidung, Unterwäsche, Accessoires, Kosmetik und Make-up, Schuhe.
Sie stöhnte. Da kam etwas auf sie zu. Wenn sie Ilsa hernahm: Die hatte ihre Sachen Stück für Stück bekommen, so wie sie gebraucht wurden. Aber hier war fast alles auf einmal notwendig.
Barbara ging zu Josies Zimmer, klopfte an. Josie öffnete selbst.
»Was gibt es, Mama?«
»Hast du mal etwas Zeit. Es geht um deine neue Kleidung.«
Josie folgte ihrer Mutter ins Wohnzimmer. Da lag die Liste.
»Wir müssen einen Kompromiss finden«, begann sie.
Das Mädchen nickte.
»Ich seh schon, ist einiges zusammengekommen.«
Barbara setzte sich wieder. Sie tippte mit dem Stift auf die verschiedenen Einträge und sagte: »Das ist das Problem. Theoretisch brauchst du eine Komplettausstattung.«
Josie riet: »Zu teuer?«
»Für den Moment – ja.«
»Dann muss ich wohl …«
»Nein, musst du nicht!«, unterbrach sie ihre Mutter. »Was unbedingt notwendig ist, wird gekauft. Heute gibt es das Internet, da finden sich sicher auch preisgünstige Angebote. Worum es mir geht: Wäre es eine große Zumutung für dich, wenn du einige Sachen von dir behältst? Ich meine – schau dir doch die Mädchen an. Viele tragen genau das gleiche wie Jungs. T-Shirts, Jeans, Turnschuhe – das muss man doch nicht alles entsorgen. Tu etwas mit weiblicher Note dazu, und du hast den perfekten Look.«
Josie überlegte. Barbara versuchte, ihre Gedanken in Worte zu fassen.
»Wenn du natürlich mit den Kleidungsstücken dein Leben als Daniel verbindest und sie deswegen nicht mehr tragen möchtest, kann ich das verstehen. Wie denkst du darüber?«
Josie folgte dem Gedankengang ihrer Mutter und hörte in sich hinein. Das Kleid, welches sie jetzt trug, war zu einhundert Prozent weiblich. Mit Jeans und T-Shirt war sie bis vor kurzem fast jeden Tag rumgelaufen. Sie fürchtete, die Sachen würden sie wieder zu Daniel machen. Sie hatte am Wochenende die Entscheidung gefällt, Daniel hinter sich zu lassen.
»Mama, es ist so schwer. In den Klamotten steckt so viel Daniel drin. Versteh mich, bitte! Ich glaube, ich kann das nicht – nicht jetzt. Können wir die Sachen nicht erst einmal in Kartons packen und zur Seite stellen? Vielleicht, dass ich später einmal …«
Oh ja, Barbara verstand ihre Tochter sehr gut. Kannte sie doch aus ihrer Boutique Frauen, denen es unangenehm war, zwei Tage die gleiche Kleidung zu tragen. Genau so eine Hemmschwelle musste sich in Josie aufbauen, wenn sie die alten Teile anziehen sollte.
»Also gut, Kompromiss auf unbestimmte Zeit vertagt.«
»Danke, Mama.«
»Wenn du dich für jede Aktion bedankst, wirst du bald nichts anderes mehr sagen. Denn da kommt noch eine Menge auf uns zu. Verstehst du – auf uns!« Sie lachte. »Also, das war das Dankeschön für die nächsten zehn guten Taten von mir, klar?«
»Klar.«
»Übrigens, Josie. Kontrollier mal deine Beine, wenn du dich setzt! Sonst guckt dir dein Gegenüber am Tisch bis zum Höschen. Schlag sie übereinander, und beim Hinsetzen streichst du das Kleid hinten mit der Hand nach unten. Übe das mal ein bisschen. – Lektion eins.«
Josie wollte sich gerade wieder bedanken, dachte jedoch noch rechtzeitig an die Worte ihrer Mutter.
»Gut. Ich probiers.«
Sie stand auf, setzte sich wieder und versuchte, es so einzurichten, wie ihr gesagt wurde.
»So etwa?«
»Ja. Es wirkt noch ein bisschen eckig, aber das lernst du schnell. Wenn wir mit Veronika wegfahren, hast du's schon drauf.«
Barbara hatte gerade den Zettel mit Josies ›Erstausstattung‹ fertig, da meldete sich das Telefon. Sie nahm das schnurlose Gerät ans Ohr.
»Anka Richter. Guten Abend, Barbara.«
»Guten Abend. Schön, dass Sie anrufen, Anka.«
»Ich wollte nach Neuigkeiten fragen und Ihnen eine mitteilen. Wer spricht zuerst?«
»Wir haben es gestern meiner kleinen Tochter gesagt. Erstaunlicherweise hat sie es recht ruhig aufgenommen, ja, sie war danach echt wissbegierig. Wir hatten ein ausgiebiges Gespräch.«
»Das freut mich zu hören.«
»Ja, und heute habe ich mich meiner Kollegin und sehr guten Freundin anvertraut. Bei ihr kann ich mich auf ihre Verschwiegenheit verlassen. Sie hat mich wieder etwas aufgebaut und mir einige freie Tage verschafft«
»Sie haben genau das Richtige getan. Jetzt brauchen Sie nichts überstürzen. Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie haben.«
Barbara war über diesen Zuspruch erleichtert.
»Ich war gerade dabei, eine Liste für die neue Garderobe meines Kindes aufzustellen. Sie braucht doch jetzt neue Kleidung.«
»Sicher. Das ist wohl jetzt das Naheliegende. Hat sie schon etwas?«
»Ich habe ihr ein Kleid von mir geschenkt. Wir haben etwa die gleiche Kleidergröße. – Anka, was ich Sie bei der Gelegenheit fragen wollte: Ist es normal, dass sich bei meiner Tochter gerade eine Abwehrhaltung gegen alle Kleidung aufbaut, die sie als Junge getragen hat?«
»Damit war zu rechnen, Barbara. Ihre Tochter war auf einem Weg und hat im Moment Ihrer Entdeckung verharrt. Sie haben sie ermutigt, diesen Weg weiterzugehen. Damit war für das Mädchen das Leben als Junge beendet.«
»Aber das wird ganz schön ins Geld gehen.«
»Ich kenne da einen Kleidermarkt. Warten Sie …«
Barbara hörte im Hintergrund das Rascheln von Papier. Dann war die Lehrerin wieder am Telefon.
»Ja, hier. In der Stadt gibt es einen Gebrauchtmarkt. In der Fischerstraße. Dort bekommen Sie sehr schöne und gepflegte Second-Hand-Kleidung. Viele Sachen sind sogar eigentlich neu. Kunden-Retouren von Versandhändlern oder B-Ware. Schauen Sie doch dort mal vorbei!«
»Danke, Anka. Sie helfen mir da wirklich weiter. Was haben Sie mir denn Neues zu berichten?«
»Es ist so. Unsere Schule in der Kleinstadt hat keinen eigenen Schulpsychologen. Aber einmal in der Woche kommt eine Psychologin von einem der städtischen Gymnasien zu uns, für einen Nachmittag. Sie beide sollten sie aufsuchen. Ich habe sie kontaktiert und ohne genauere Auskünfte erklärt, dass wir hier wohl einen Fall von Transgender haben. Sie hat sicher bedeutend mehr Erfahrung auf dem Gebiet und kann Ihnen bestimmt weiterhelfen. Mittwochs ist sie an unserem Gymnasium, auch in den Ferien. Nur Anfang August gibt es eine Vertretung. Was halten Sie davon?«
Barbara war über diese Nachricht so erleichtert, dass sie einen Scherz wagte.
»In dieser Situation greife ich nach jedem Strohhalm, den man mir zuwirft. Anka, ich möchte Ihnen danken, dass Sie sich so für uns einsetzen. Ich habe versucht, im Internet nachzulesen, konnte aber bei der Menge an Seiten keinen wirklichen Ansatzpunkt finden.«
»Ja, es wird immer schwieriger, sich dort kompetent zu informieren. Das Netz ist voll von Foren und persönlichen Auftritten, so dass man lange nach Seiten mit grundsätzlichen Inhalten suchen muss. Als ich mit der Psychologin, Dr. Petra Gerlach, sprach, sollte ich von ihr ausrichten, dass sie Material mitbringt. Sie brauchen sich also nicht mehr selbst zu bemühen.«
»Mir fällt ein Stein vom Herzen. Wie Sie das alles so regeln.«
»Es ist mein Job. Und ich tue es gern.«
»Danke, Anka. Gute Nacht.«
»Nichts zu danken. Gute Nacht, Barbara.«