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Die Gutenbergstraße lag nicht weit von der Wohnung der Wegeners entfernt. Barbara hatte das Fahrrad genommen und nur fünf Minuten gebraucht.

Sanierte Altbauten bestimmten hier das Bild, die meisten drei, maximal vier Etagen hoch. Barbara drückte auf die Klingel neben dem Namen »Richter«.

In der zweiten Etage öffnete sich ein Fenster. Eine junge Frau steckte den Kopf heraus und sagte einladend: »Kommen Sie herein! Die Tür ist noch offen. Zweiter Stock links.«

Barbara betrat den Hausflur. Während sie nach oben stieg, konstatierte sie: ›Hätte gar nicht geglaubt, dass die Vertrauenslehrerin noch so jung ist. Sie kann maximal Ende dreißig sein, wie ich.‹

Oben wartete Frau Richter schon an der geöffneten Tür.

»Anka Richter«, stellte sie sich vor.

»Barbara Wegener. Guten Abend, Frau Richter.«

Die Lehrerin bat ihren Gast herein. Sie ging ins Wohnzimmer vor und bot ihr einen Sessel an.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

»Ja, danke. Wenn Sie ein Glas Wasser hätten.«

Die Gastgeberin brachte eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser. Sie schenkte ein, dann nahm sie selbst auf der Couch Platz.

Barbara dachte: ›Sie ist noch jünger, als ich vermutete. Höchstens Mitte dreißig.‹ Ihr bordeauxrotes Haar war zu einem flotten Kurzhaarschnitt frisiert. Auch sonst machte sie einen durchaus sportlichen Eindruck.

»Sie haben ein ernsthaftes Problem mit Ihrem Sohn?«, nahm Frau Richter den Faden wieder auf.

»Ja. Seit gestern.«

»Bitte erzählen Sie!« Und als Barbara noch etwas zögerte, verstand die Lehrerin.

»Oh, entschuldigen Sie«, warf sie ein. »Ich möchte Ihnen erst etwas über mich berichten. Ich bin zwar schon fast zehn Jahre am Morgenstern-Gymnasium, aber erst seit zwei Jahren Vertrauenslehrerin. Ich unterrichte Kunst und Latein. Also – damit Sie sich keine Sorgen machen: Alles, was hier besprochen wird, bleibt unter uns. Ich bin nur dafür zuständig, zu beraten oder helfend zur Seite zu stehen. Auch das Lehrerkollegium wird nichts erfahren, solange Sie nicht Ihre Zustimmung geben.«

»Aber Sie sind doch noch so jung?«, erwiderte Barbara.

»Ich bin vierunddreißig. Wissen Sie, das Problem bei Vertrauenslehrern ist, dass die älteren Kollegen im Normalfall als Autoritäts- und Respektsperson gesehen werden. Und der große Altersunterschied zu den Schülern kann zu Hemmungen führen, sich ihnen anzuvertrauen. In mir sehen sie eher noch so etwas wie eine ›Freundin‹.«

Barbara verstand. Sie hatte auch nicht an der Kompetenz ihrer Gastgeberin gezweifelt. Es war eigentlich nur reines Erstaunen über den Widerspruch zu ihrem Bild einer solchen Person.

Da Frau Richter nun schwieg, galt das als Zeichen, selbst das Wort zu ergreifen. In gedrängter Form schilderte sie die Ereignisse seit gestern Nachmittag. Sie gab auch einen Überblick über ihre familiären Verhältnisse, damit sich die Lehrerin ein Bild von der häuslichen Situation machen konnte.

»Gut. Ich habe die Fakten«, fasste Frau Richter zusammen. »Daniel zieht, wahrscheinlich schon mehrfach, Ihre Kleider an. Er hat Ihnen selbst gesagt, dass er sich als Mädchen fühlt, ein Mädchen sein möchte. Ihre Tochter hat wohl eine vage Ahnung, die aber noch nicht bestätigt wurde. Ihr Mann, der getrennt von Ihnen lebt, weiß bis jetzt gar nichts. Sie wissen nicht, wie es weitergehen soll. Richtig?«

»Ja, das beschreibt die Lage so ziemlich genau. Frau Richter …«

Sie wurde unterbrochen.

»Sagen Sie Anka, das vereinfacht das Gespräch.« Die Lehrerin lächelte ermutigend.

»Danke – Barbara. Wissen Sie, Anka, ich habe versucht, Daniel Zeit zu lassen, sich mir anzuvertrauen. Ich bin einen Schritt auf ihn zugegangen und habe gewartet, dass er das gleiche tut. Soweit waren wir heute schon. Aber dann ist wieder alles in ihm zusammengebrochen.«

»Barbara, eine Gewissensfrage. Akzeptieren Sie das, was da gerade passiert?«

Barbara nahm einen Schluck vom Mineralwasser.

»Natürlich war es erst einmal ein … ein Schock, als ich ihn so sah. Aber dann dachte ich: ›Was soll ich machen? Ich kann es doch nicht aus ihm herausprügeln – bildlich. Daniel ist doch mein Kind.‹ Ich habe mir die letzten Stunden nicht leicht gemacht. Aber mein Kind soll doch glücklich sein. Und wenn es das nur als Mädchen kann …«

Ein Kloß drückte auf ihren Hals und erstickte ihre Stimme.

Anka fühlte mit der Frau.

»Ich verstehe Sie gut. Ich habe zwar noch keine eigenen Kinder, aber ich kenne aus meiner Tätigkeit die Gefühle der Mütter. Sie haben für sich genau das entschieden, was Ihnen Ihr Herz sagt. Mehr konnten Sie bis jetzt einfach nicht tun.«

Sie sah Barbara in die Augen, und die erkannte, dass Anka ihre Entscheidung achtete.

»Danke, dass sie mir den Rücken stärken. Doch was mache ich mit meiner Tochter? Ich kann sie doch nicht länger belügen. Daniel war vorhin schon soweit, irgendetwas Unüberlegtes zu tun. Ich glaube, er hatte in diesem Moment einfach genug von dem Versteckspiel – ohne an Konsequenzen zu denken. Ich konnte ihn gerade noch auf morgen vertrösten.«

Anka nickte verständnisvoll.

»Gerade deshalb müssen Sie es Ihrer Tochter sagen. Damit der häusliche Frieden nicht zerbricht. Ihre Tochter ist dreizehn, wie sie erwähnten. Ein dreizehnjähriges Mädchen kann das verstehen. Was sie daraus macht, ist allerdings ein anderes Kapitel. Versuchen Sie, ihr nahezulegen, was es für Daniel bedeutet! Ich denke, sie möchte auch das Beste für ihren Bruder.«

Barbara seufzte. Das Leben forderte sie wirklich heraus.

Die Lehrerin fuhr fort: »Und Ihrem Mann dürfen Sie es auch nicht vorenthalten. Erstens ist es der Vater von Daniel, und zweitens ergeben sich für die Zukunft Situationen, in denen auch sein Einverständnis nötig ist. Daniel ist ja noch minderjährig.«

›Auch das noch‹, dachte Barbara. ›Wenn das Schicksal zuschlägt, dann richtig.‹

Es war nach neun, als Barbara wieder nach Hause kam. Die Unterredung mit der Vertrauenslehrerin war sehr hilfreich gewesen. Sie wusste, was sie jetzt zu tun hatte. Und ihr war auch klar, dass sie diese Hilfe noch einige Male brauchen würde.

Für heute war es zu spät für weiteren Trubel. Nur ihren Sohn wollte sie noch informieren, wie das Treffen ausgegangen war. Sie klopfte an seine Tür.

»Daniel, darf ich?«

»Ja, komm rein!«

Daniel saß an seinem Tisch. Der Computer war an, ein Textprogramm geöffnet.

»Arbeitest du an etwas?«, fragte seine Mutter mit einem Nicken zum Bildschirm hin.

»Ja. Ich versuch, meine Gedanken etwas zu ordnen. So eine Art Tagebuch der Grausamkeiten.«

Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.

Barbara setzte sich auf den angestammten Platz auf der Liege.

»Finde ich gut. Aber nenn es lieber ›Tagebuch einer neuen Zeit‹ oder so. Denn nichts, was mit dir geschieht, ist grausam. Es ist nur neu und ungewohnt. Und du wirst eine Menge lernen müssen. Auch wirklich schlimme Erfahrungen können da vorkommen. Doch wenn du dir sicher bist, überwindest du die.«

»Warst du bei Frau Richter?«

»Ja, und ich bin erleichtert, dass ich das getan habe. Deine Vertrauenslehrerin wird uns helfen, alles richtig zu machen. Du kannst ruhig zu ihr gehen, wenn du mal nicht weiter weißt. Sie behält alles für sich.«

Barbara bemerkte, dass auch Daniels Anspannung etwas nachließ. Sie konnte sich vorstellen, dass da einige Mauern einstürzten, die ihn gefangen gehalten hatten.

»Und was wird mit Ilsa? Das heute hat einfach nur genervt.«

»Tja, Frau Richter meint, wir müssen es ihr sagen, und zwar möglichst bald.«

Daniel zuckte zusammen.

»Dann sagt sie es Caro, und wenn das so weitergeht, kann ich gleich einen Aushang machen.«

Seine Mutter wusste, was jetzt kommen musste.

»Ich kann das verstehen. Aber schau mal – du willst doch nicht die ganze Zeit in deinem Zimmer hocken bleiben. Und was wird im neuen Schuljahr? Wenn du dich für diesen Weg entscheidest, dann musst du ihn auch draußen, in der ›bösen Welt‹ vertreten. Alle, die das verstehen, werden dir helfen – gegen jene, die das nicht verstehen wollen. Und ich denke, mit der Zeit werden die ersteren immer mehr werden.«

Daniel seufzte laut.

»Es wird eine schwere Zeit werden, nicht wahr, Mama?«

»Ja, aber es wird auch eine schöne Zeit sein, weil du endlich, Stück für Stück, der Mensch wirst, der du wohl schon lange sein wolltest.«

»Schon sehr lange. Und ich glaube, ich habe mich fast entschieden. Danke. Hab dich lieb, Mama.«

Barbara stand langsam auf. Sie war froh, dass Daniel aus seinen düsteren Gedanken heraus gefunden hatte. Sie hatte ihm die Hand gereicht, und er hatte zugegriffen.

Als sie dann allein im Wohnzimmer saß, dachte Barbara nach. Loslassen konnte so wehtun. Sie musste ihren Sohn gehen lassen, um ihre zweite Tochter zu empfangen. So etwas passiert einem nicht alle Tage. Den meisten Menschen passierte so etwas überhaupt nicht. Deshalb konnten sich Unbeteiligte wohl auch kein Bild davon machen, was sie jetzt fühlte. Sie selbst kannte ja auch nur den Moment. Über die nächste Zeit musste sie sich erst Klarheit verschaffen. Vielleicht war Daniels Idee von einem Tagebuch gar nicht so schlecht. Sie sollte selbst ihre Gedanken niederschreiben, um einmal später nachlesen zu können, wie mühsam dieser Weg gewesen war. Und um zu erfahren, wie sie alle ihn gemeistert hatten.

Der Sommer mit Josie

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