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ОглавлениеBarbara hatte das Mittagessen zubereitet. Die Tränen waren getrocknet, alle Spuren der vergangenen Emotionen im Gesicht beseitigt. Ilsa sollte nicht sehen, dass ihre Mutter geweint hatte.
In Anbetracht der Grillparty für Ilsa gab es heute nur Eierkuchen. Das Mädchen würde später genug essen können. Und auf den Rest der Familie wartete auch ein Extra-Abendbrot.
Viertel vor zwölf war Ilsa zurück. Aber wie …
Kaum durch die Tür, schaute sie sich ihre Familie genau an. Zu ihrer Befriedigung konnte sie feststellen, dass die Stimmung gelöster zu sein schien. Also sollte der Notstand nicht mehr so arg sein.
»Geht's euch gut?«, fragte sie.
Schon die Zweite heute, für die dieser Satz ungewöhnlich war. Barbara wurde misstrauisch.
»Warum sollte es uns nicht gut gehen?«
Ihre Tochter kam sich wieder so richtig verkohlt vor. Sie konterte: »Weil es euch die ganze letzte Zeit anscheinend richtig scheiße gegangen ist! Mann, ihr seid rumgelaufen wie Gespenster und habt pausenlos Mist erzählt – wenn ihr überhaupt was gesagt habt! Das muss doch dem letzten Blödkopp auffallen!«
Ihre Mutter zuckte zusammen. Das war Klartext im besten Gossenjargon. Sie konnte sich nicht erinnern, Ilsa einmal so mit ihr sprechen gehört zu haben.
»Würdest du bitte deinen Ton mäßigen! Wie redest du mit mir?«
Ilsa drängte: »Dann sagt mir, was los ist!«
Sie blickte fordernd von einem zum anderen.
Barbara sah Josie fragend an, die ihr kurz zunickte.
»Also gut. Aber hat es noch bis nach dem Essen Zeit?«
»Aber dann sicher?«
Ilsa war nicht gewillt, sich weiter vertrösten zu lassen. Das hörte auch ihre Mutter aus der Frage heraus.
»Sicher! Keine Tricks, kein Aufschub. Sobald der Tisch abgeräumt ist.«
»Na, dann ist's ja gut. Ich hab vielleicht einen Hunger.«
Kaum, dass der letzte Teller vom Tisch war, meldete sich Ilsa.
»Also, was ist jetzt?«
Sie konnte verdammt hartnäckig sein.
Barbara dirigierte: »Wohnzimmer!«, und alle folgten.
Als sie saßen, schaute sie Ilsa an.
»Eines im Voraus, meine Dame! Was ich dir jetzt sage, bleibt in der Familie. Wenn du also das Verlangen verspürst, mit Caro darüber zu sprechen, bevor ich es dir erlaube, dann kannst du gleich wieder gehen. Ist das klar?«
Die Worte waren glasklar gesprochen. Ilsa wusste, dass ihre Mutter es todernst meinte. Wenn sie jetzt etwas erfahren wollte, musste sie sich zurückhalten, selbst ihrer besten Freundin gegenüber.
»Klar«, sagte sie.
»Versprich es mir!« Und da Barbara die Ausreden ihrer Tochter kannte, forderte sie: »Hände auf den Tisch!«
Sie sah, dass Ilsa die bekannte Geste der gekreuzten Finger durchaus in Erwägung gezogen hatte.
»Okay!« Sie legte beide Hände flach auf den Tisch. »Ich versprech's.«
Barbara legte noch einmal nach.
»Es gibt keine Ausreden!«
Was war das hier? Das nahm sich schlimmer aus als eine Zeugenvernehmnug vor Gericht. Welches gewaltige Geheimnis sollte nun verkündet werden, dass hier fast mit Daumenschrauben bei Verrat gedroht wurde?
Barbara versuchte, die richtigen Worte zu finden, um die Nachricht kurz und prägnant herüberzubringen. Nach Streichung allen überflüssigen Textes blieb dieser eine Satz übrig.
»Ilsa, du hast eine Schwester bekommen!«
Ihre Tochter machte ein überraschtes Gesicht. Dann sah sie die Mutter mit großen Augen an und fragte: »Bist du schwanger?«
Barbara korrigierte: »Ich sagte nicht, dass du sie bekommen wirst. Du hast sie schon bekommen.«
Ilsa fand eine weitere Möglichkeit.
»Hat Papa ein Kind mit einer anderen?«
Fast musste Barbara lächeln. Ihre Tochter dachte wirklich an alles. Sie nahm ihr das nicht übel, zeugte es doch von ihrer Intelligenz.
»Auch nicht. Ilsa, mein Schatz, deine Schwester sitzt hier am Tisch.«
Ilsa blickte beide nacheinander an. Was sollte dieses Rätsel bedeuten? Mama bleibt Mama, daran ändert sich nichts. Und Daniel … sah seit Freitag so anders aus … so trübsinnig. Und ihre Mutter hatte oft mit ihm gesprochen und schaute danach auch nicht glücklich aus. Sie hatte das ganze Theater erst begonnen, denn ihr Bruder hatte bis auf den Ausraster kaum etwas gesagt. Und der klang so, als wollte er etwas sagen, bis Mama ihn zurückhielt.
»Was ist mit Daniel?«
Ilsas logischer Schluss fiel messerscharf aus.
Barbara nickte. Also war sie an der richtigen Adresse.
»Daniel fühlt sich als Mädchen.«
Fünf Wörter! Fünf Wörter können eine Welt verändern. Erst traf es Daniel, dann die Mutter, und heute war sie dran. Aber sie hatte es herausgefordert. ›Im Fußball nennt man das ›Eigentor‹‹, dachte sie bitter.
»Daniel … ist … ein … Mädchen?«
Jetzt wurde es kompliziert. Barbara legte sich die Worte gut zurecht, die sie aussprechen wollte.
»Rein vom Äußeren her natürlich nicht. Ich sagte, er fühlt sich als Mädchen. Es gibt Menschen, die sind sich irgendwann in ihrem Leben sicher, dass sie im falschen Körper stecken. Das gibt es bei Mädchen und bei Jungs. Und sie wollen so leben, wie sie sich tief in sich drinnen fühlen. Damit sie das können und nicht an ihrem Leid kaputtgehen, müssen die Familie, Freunde, Ärzte und viele andere Menschen ihnen helfen. Weil es aber einige gibt, die das nicht verstehen und diese Menschen dann beschimpfen oder sie sogar verletzen wollen, darfst du erst einmal mit niemandem, mit absolut niemandem darüber sprechen.«
Barbara hatte betont langsam und einfach gesprochen. Sie wollte, dass Ilsa jedes der Worte in sich aufnahm und nicht wieder vergaß.
»Und Daniel ist so ein Mensch?«, fragte Ilsa weiter.
Barbara nickte.
»Ja. Ich hab es vorgestern durch Zufall erfahren. Aber es ist sehr schwer, für beide Seiten. Diese Menschen haben oft Angst, es anderen mitzuteilen. Und die anderen haben Angst, es nicht verstehen zu können. Deshalb kann es sehr lange dauern, bis beide miteinander reden.«
»Wird er eines Tages auch äußerlich ein Mädchen sein?«
Barbara dankte heimlich Anka Richter, die ihr gestern Abend einen kurzen Abriss der Thematik verabreicht hatte. So konnte sie jetzt wenigstens einige grundsätzliche Fragen beantworten.
»Das kann später passieren. Manches geht ganz natürlich, wie bei dir. Bei anderen Sachen braucht es einen Arzt.«
Langsam dämmerte es in Ilsa, welch große Veränderung Daniel bevorstand. Und diese Veränderung würde Kreise ziehen und alle betreffen, die mit ihm zu tun hatten. Sie begann jetzt auch zu verstehen, weshalb ihre Mutter sie wegen des Versprechens so in die Mangel genommen hatte. Doch ihre Fragen wurden nicht weniger.
»Mama, ich weiß jetzt, dass ich darüber schweigen muss. Ich dachte, es wäre nur großes Getue, aber ich weiß, dass es wirklich wichtig ist.«
Barbara war gerührt von der Erkenntnis ihrer Tochter.
»Danke, mein Schatz.«
»Ich habe noch Fragen.«
»Dann stelle sie! Solange wir Zeit haben, werden ich oder Daniel versuchen, sie zu beantworten.«
Beide schauten auf die Uhr. Es war kurz nach eins.
Ilsa stellte fest. »Wir haben noch viel Zeit.«
»Aber in zwei Stunden sollst du bei Caro sein. Zur Grillparty?!«
»Mama, wenn das hier so wichtig ist, kann die Grillparty warten.«
Barbara war erstaunt, wie erwachsen sich Ilsa jetzt benahm. Sie schenkte ihr einen achtenden Blick dafür.
»Gut. Es ist deine Entscheidung. Dann ruf sie aber bitte an, damit Westphals nicht warten!«
Ilsa ging kurz in ihr Zimmer, wo das Handy lag.
Barbara nutzte den Augenblick, um mit ihrer großen Tochter zu sprechen.
»Ist das in Ordnung für dich, Josie?«
»Ja. Was ich in den letzten Tagen gelernt habe, ist, dass Ungewissheit und Angst viel kaputt machen können.«
Barbara nickte anerkennend. Auch Josie entwickelte sich weiter.
Ilsa kam zurück, ihr Notebook unterm Arm.
»Hier, Mama! Das wolltest du doch gestern haben.«
Sie legte es auf den Tisch.
»Und die Party?«
»Ich hab gesagt, dass etwas dazwischen gekommen ist.«
»Und was willst du sagen, wenn dich Caro danach fragt?«
»Mama, du kennst mich doch. Mir fällt schon was ein.«
Ja, Barbara kannte ihre Tochter. Sie war nicht auf den Mund gefallen und um keine Ausrede verlegen.
Ilsa setzte sich in Position, was bedeutete, dass sie weiterfragen wollte.
»Weiß Papa schon davon?«
»Nein. Ich werde zu ihm fahren und versuchen, es ihm langsam beizubringen. Das wird ein schweres Stück Arbeit werden. Aber er ist intelligent genug, es zu verstehen – denke ich jedenfalls.«
Das war jetzt Barbaras größte Angst. Denn sie wollte heute noch anrufen und Hendrik um dieses Treffen bitten.
Ilsa fuhr fort: »Aber Daniel kann doch nicht mehr Daniel heißen, wenn er ein Mädchen ist?«
Barbara pflichtete ihr bei: »Nein, das geht nicht. Daniel darf selbst bestimmen, wie er nun heißen möchte. Dafür gibt es ein Gesetz.«
»Und …?« Ilsa schaute ihre neue Schwester an.
»Ich möchte gern … Josie heißen. Ist das okay?« Die nachgesetzte Frage sollte Josies Unsicherheit überdecken.
»Josie … jaaa … Josie klingt gut.« Ilsa lachte. »Ist genehmigt, große Schwester.«
Jetzt mussten die anderen auch lachen. Barbara wurde jedoch gleich wieder ernst.
»Das ist jetzt vielleicht schwer für dich, mein Schatz, aber du musst aufpassen! Josie gibt es vorerst nur in der Wohnung. Draußen darfst du dich nicht versprechen. Tu uns die Liebe und gib acht!«
Ilsa nickte: »Ich werd mir Mühe geben, es nicht zu verbocken. Aber«, fuhr sie fort, »eines Tages muss er … äh, sie … doch auch mal raus aus der Wohnung. Was wird dann?«
Gut, dass Barbara vorbereitet war.
»Ja natürlich. Und zwar bald. Das nennt sich Alltagstest und ist am Anfang sicher sehr schwer für Josie. Sie muss nämlich draußen zeigen, dass sie ein Mädchen ist. Damit sie später auch wie ein richtiges Mädchen leben kann. Deshalb müssen wir auch bald beginnen, Mädchensachen für Josie zu kaufen.« Sie schaute die Große an. »Damit du mir nicht dauernd meinen Kleiderschrank plünderst.«
Josie lächelte.
»Das hab ich auch nicht vor. Nichts gegen dich, Mama, aber manche Sachen taugen für mein Alter nicht.«
Barbara zog einen Flunsch. War sie wirklich schon so weit weg von der Jugendmode? Ihr kam es immer vor, als läge die Teeniezeit gerade erst hinter ihr.
Der Nachmittag verging wie im Fluge.
Als Barbara Ilsa erschöpfend Antwort auf deren Fragen gegeben und ihre Tochter sich zurückgezogen hatte, bat sie Josie zu bleiben. Sie wollte noch einige Dinge klären, die ihr am Herzen lagen.
»Josie, ich möchte dir keine Vorschriften machen, aber als du dich vorhin über meine Kleider geäußert hast – was hast du mit ›mein Alter‹ gemeint? Was möchtest du gern tragen?«
Josie zuckte die Schultern.
»Da hab ich keine richtige Ahnung. Weiß nicht …«
»Sieh mal, zu Hause kannst du – theoretisch – anziehen, was du möchtest. Aber draußen, da musst du realistisch sein. Da kannst du nicht rumlaufen wie ein schriller Popstar.«
Barbara sah Josie eindringlich an. Die wusste keine Antwort und starrte auf ihre Schuhspitzen.
»Es gibt nämlich einen großen Unterschied, ob die Leute vor der Kamera stehen oder nur einkaufen gehen. Da kann es passieren, dass du sie einfach übersiehst. Also überleg dir, was dir stehen könnte. Schau dich draußen unter den Mädchen um. Und deine Schwester oder mich kannst du auch fragen. Ich bin schließlich schon eine halbe Ewigkeit Mädchen.«
Barbara vertraute hier schon auf ihre beruflichen Modekenntnisse.
»Es geht bei der Sache nämlich auch darum, wie du bei deinem Alltagstest bewertet wirst. Wenn du dich zu sehr aufdonnerst, zweifeln die Psychologen deine Ernsthaftigkeit an. Die halten dich dann für so eine Drag-Queen, aber nie für ein ganz normales Teenager-Mädchen.«
Josie sah auf.
»Okay, das hab ich verstanden. Keine überdrehten Kostüme. Ich werd mir's merken.«
Ihre Mutter stand auf, als Zeichen, dass die Unterredung beendet war.
Hendrik saß gerade an einigen Vorbereitungen für die nächste Woche. Es war die letzte vor den Semesterferien. Da passierte in den Hörsälen nicht mehr die Welt. Er wollte zum Beispiel einige interessante Experimente vorführen, deren Effekte die Studenten sicher zum Staunen bringen würden. Gerade beim ersten Studienjahr, wenn die ›Neuen‹ noch nicht so tief in der Materie steckten, kam so etwas immer an.
Die Uhr zeigte fast acht, als das Handy klingelte. Hendrik zog es von der Tischecke vor sich heran. Auf dem Display lächelte ihn seine Frau an.
»Hallo, mein Liebling! Oder darf ich das nicht sagen?«
Er hörte Barbaras vertraute Stimme, die er so mochte: »Wenn du es wirklich ernst meinst, darfst du. Wir lassen uns schließlich nicht scheiden.«
»Genau. Und ich hoffe, dass wir bald wieder zusammenfinden.«
»Hendrik, das ist jetzt nicht das Thema. Ich muss dich in einer äußerst wichtigen Angelegenheit möglichst bald sprechen. Persönlich!«
Ihr Mann schwankte noch: »Gut oder schlecht?«
»Eher sehr speziell – und es betrifft die ganze Familie. Ich komme zu dir. Wann passt es dir?«
Hendrik runzelte die Stirn.
»Geht es Dienstag nachmittags? So gegen fünf Uhr?«
Eine kurze Pause trat ein. Barbara schien zu überlegen, ob es irgendwelche Termine an diesem Tag gab.
»Geht. Ich bin um fünf bei dir. Tschüss.«
Der Lautsprecher verstummte.
Hendrik überlegte. Er trommelte mit dem Stift auf der Tischplatte. Was bedeutete das? Drei Worte bohrten sich in seinen Kopf. Bald – speziell – Familie! Als Physiker dachte er rational. ›Familie‹ – das konnte nur heißen, es hatte mit den Kindern zu tun. ›Bald‹ war klar: Die Sache duldete keinen Aufschub. Aber was sollte dieses ›speziell‹ andeuten. Hendrik konnte sich nicht erinnern, einmal wegen einer speziellen Angelegenheit angesprochen worden zu sein. Wenn es weder gut noch schlecht war, weder Geburt noch Todesfall, weder Gewinn oder Verlust – dann blieb doch nur etwas übrig, was je nach Sicht der Dinge beides sein konnte.
Er nahm sich wieder seine Unterlagen vor.
Im Fernsehen lief ein Spielfilm. Barbara schaute nur halb zu, aber sie wollte jetzt einfach mal auf andere Gedanken kommen. Da plötzlich registrierte sie das Wort ›Urlaub‹. Es gehörte zur Szene, doch Barbara fiel sofort Veronikas Angebot ein. Sie musste mit den Kindern darüber sprechen. Auch, wenn im Moment alles drunter und drüber ging – oder gerade deshalb – sollte der Platz im Landhäuschen angesprochen werden.
Sie schaltete den Ton ab und rief: »Kinder! Könnt ihr mal kommen? Beide!«
Josie und Ilsa schlichen herein.
»Gibt es noch etwas?«, begann Josie.
»Nein, es geht um etwas anderes. Setzt euch!«
Josie lümmelte sich in den Sessel, Ilsa setzte sich neben ihre Mutter auf die Couch.
Barbara ergriff das Wort.
»Was haltet ihr von einem kleinen Landhaus am Siedlersee?«
Josie horchte auf.
»Willst du dir jetzt ein Wassergrundstück zulegen?«, meinte sie ironisch.
»Nein, natürlich nicht. Ihr kennt doch meine Kollegin Veronika?« Die beiden nickten. »Sie hat mir am Freitag ein Angebot gemacht. Wir können nächsten Monat für ein oder zwei Wochen im Häuschen ihres Vaters Urlaub machen. Was haltet ihr davon?«
Die Kinder überlegten. Sie kannten Veronika schon seit einigen Jahren. Manchmal kam sie zu ihrer Mutter nach Hause, und dann ging es meist recht lustig zu.
Barbara nahm den Faden wieder auf.
»Kommt, es soll toll sein! Ihr könnt Boot fahren, und in der Nähe gibt es einen Reiterhof.«
Bei dem letzten Wort war für Ilsa die Entscheidung gefallen.
»Reiten? Prima!«
Josie fragte nach. »Kommt Veronika mit?« Sie – oder eigentlich Daniel – verstand sich sehr gut mit Mamas Freundin.
»Ich denke, ja. Jetzt, wo wir zu dritt sind, ist das doch kein Problem.«
Josie warf ein: »Und was wird mit mir? Ich meine, wie ich jetzt bin …«
Barbara verstand, worauf sie anspielte.
»Das ist eine prima Gelegenheit für deinen Alltagstest. Wir sind unter uns, aber in freier Natur. Und wenn dich jemand sieht, dann sind es Fremde, denen du wohl nie wieder begegnen wirst. Na, und mit Veronika kommst du doch klar.«
»Wenn sie mit mir klarkommt?«, sagte Josie leise.
»Ich denke, schon. Veronika ist eine aufgeschlossene moderne Frau. Die hat sicher keine Probleme damit.«
Josie sah das jetzt auch so.
»Na gut. Ich bin dabei.«
Barbara lächelte erleichtert.
»Dann sage ich morgen gleich Bescheid.«
Der Film war zu Ende. Im Film ist alles einfach. Der Autor schreibt ein Happy End, und die beiden unglücklich Verliebten kriegen sich doch. Barbara wünschte sich jemanden, der ein Happy End für ihre Familienprobleme schrieb.
Schreiben! – Barbara sah Ilsas Notebook auf dem Tisch. Richtig – sie wollte sich mal mit der Problematik beschäftigen. Anka Richter hatte ihr zwar ein paar Basics mitgegeben, aber sie brauchte mehr Informationen. Was kommt in den nächsten Wochen und Monaten auf sie zu? Mit wem muss sie, respektive Josie, Kontakt aufnehmen? Welche rechtlichen Wege sind zu beachten? Und, um das Ganze bis zum Ende zu denken: Was wird mit Josie passieren, damit sie auch amtlich ein Mädchen wird? Barbara hatte zwar darüber bisher noch kein Wort verloren, aber die Möglichkeit bestand – und war naheliegend. Sosehr sie bei der Vorstellung auch in Sorge geriet und irgendwie litt, würde sie es doch gern von Josie wissen wollen.
In Josies Zimmer, wo deren großer PC stand, befand sich auch ein Drucker. Hendrik hatte alle Geräte miteinander vernetzt. Das Notebook hing über WLAN in diesem Netzwerk.
Entschlossen klappte Barbara den Deckel auf. Sie loggte sich ins Internet ein und ging auf eine Suchmaschine. Bedächtig, fast sorgsam tippte sie das Wort ›Transgender‹ ein – und riss im nächsten Moment die Augen weit auf. Über einhundertfünfzig Millionen Treffer!
Mit einem Schlag wurden ihr zwei Fakten klar. Erstens würde sie in der Flut der Veröffentlichungen mit absoluter Sicherheit den Überblick verlieren, ohne ihn je erhalten zu haben. Zweitens war die Thematik anscheinend so komplex, dass sie ein Schritt-für-Schritt-Programm brauchte, was alles zu tun sei.
»Josie, mein Mädchen«, sagte sie leise vor sich hin, »ich liebe dich, aber was tust du mir hier an?«
Barbara zog ernsthaft in Erwägung, einige Tage freizunehmen.
Bevor sie sich spät am Abend schlafen legte, stellte sie einen Küchenstuhl neben Josies Tür und legte das Kleid mit den blauen Blumen darauf.