Читать книгу Der Sommer mit Josie - Sandy Lee - Страница 5

2

Оглавление

Es war erst kurz nach zwei Uhr, als Barbara, bepackt mit ihren Einkäufen, das Haus betrat. Sie stieg die Stufen zur Wohnung hinauf, setzte die Beutel ab und fischte den Schlüssel aus ihrer Tasche. Die Tür öffnete sich fast lautlos. Barbara nahm die schweren Beutel wieder auf und trat in den Flur. Mit einem kleinen Stoß des Ellenbogens klappte die Tür zu. – Bumm!

Der Stoß war etwas zu heftig gewesen, so dass die Tür laut ins Schloss fiel. Für einen Moment glaubte Barbara, allein in der Wohnung zu sein. Ilsa trödelte wahrscheinlich mit Caro, wieder einmal, und Daniel …

Die Tür des Bades öffnete sich. Daniel war also doch zu Hause. Aber was …

Ein dumpfes Poltern, ein Klirren folgte. Barbara waren die Beutel aus der Hand gefallen. Die Milchflasche hatte den Aufprall nicht überlebt. Barbara stand für einen Augenblick wie erstarrt.

War das Daniel, ihr Sohn? Ja, natürlich … aber andererseits war er es auch nicht. Er trug eines von Barbaras Sommerkleidern, das helle mit dem blauen Blütenmuster. Und er hatte Rundungen, wo kein Mann welche aufweisen kann, wenn er Daniels Statur besitzt. Die Haare waren offen, glatt fielen sie auf seine Schultern herab. Und da er seiner Mutter in diesem Moment genau ins Gesicht sah, bemerkte sie auch den Lidschatten und den Lippenstift.

»Mama … lass dir erklären …«, setzte er an, um das Schweigen zu brechen.

Barbara hatte sich aus ihrer Starre gelöst.

»Stopp!«, brach sie seinen Satz ab. »Lass mir fünf Minuten Zeit!«

Sie ging ins Wohnzimmer und hockte sich mit angezogenen Beinen auf einen der Sessel. Ihr Blick fiel auf die Schrankwand. In einem Fach stand ein Bilderrahmen. Ein Foto der Familie. Hendrik, sie, Ilsa und Daniel. Das Bild war vom letzten Sommer. Daniel …

Draußen hörte sie, wie der Junge die Beutel aufhob und in die Küche trug. Dann verschwand er in seinem Zimmer – nicht, ohne einen Blick vom Flur durch die offene Wohnzimmertür zu werfen.

Barbaras Gedanken wirbelten durcheinander. Sie glaubte, ihre Kinder gut zu kennen. Hatte sie etwas übersehen? Noch nie war ihr auch der Funke einer Idee gekommen, die zu dem eben Gesehenen passte.

Sie schaute zum Fenster. Draußen schien die Sonne; bis eben war es ein herrlicher Tag gewesen. Plötzlich, von einer Minute zur anderen, fühlte sie sich …

Barbara konnte nicht sagen, was sie genau fühlte. Ihr Sohn war da und war doch nicht da. Jedenfalls in ihrem Inneren.

Vielleicht hatten Frauen nach dem Krieg so etwas Ähnliches gefühlt, wenn ihr Mann, ihr Sohn nicht nach Hause zurückgekehrt war. Sie wussten nicht, ob er lebte oder nicht, aber sie hofften, oft jahrelang, dass er eines Tages wieder durch die Tür kommen möge.

So eine Ungewissheit hatte auch Barbara ergriffen. Sie hatte gesehen, was ist. Sie glaubte zu wissen, was war. Und sie hatte keine Ahnung, was sein wird.

Natürlich hatte sie schon von den verschiedenen Spielarten gehört und auch gelesen, die Menschen ausleben. Aber wer denkt schon im tiefsten häuslichen Frieden an das eigene Kind …

Die Gedanken begannen, sich zu entwirren. Barbara überlegte von vorn.

Erstens, sagte sie sich, habe ich gerade meinen fünfzehnjährigen Sohn in meinem Kleid gesehen, geschminkt und – zugegeben – sehr fraulich.

Zweitens gibt es dafür nur zwei Erklärungen. Wenn dieser Aufzug ernst gemeint war – und daran zweifelte sie keine Sekunde – dann ist mein Kind entweder Crossdresser oder Transgender.

Drittens kann ich darüber nachgrübeln, mir das Ganze aber sparen und direkt mit ihm sprechen. Um das Gespräch würde Daniel sowieso nicht herumkommen. Es schien sogar sehr naheliegend, dass er es selbst suchen möchte. Schließlich hatte er vorhin versucht, zu erklären …

Barbara erhob sich. Fakt ist, stellte sie fest, dass ich ihn nicht in die Enge treiben darf. Egal, was bei der Sache herauskommt, er ist mein Kind. Er ist mein Kind …

Es dauerte noch fünf weitere Minuten, bis sich die Tür zu Daniels Zimmer öffnete.

Barbara hatte inzwischen die Lebensmittel verstaut und die unbrauchbaren Reste entsorgt. Auf dem Tisch lag ein Zettel, der die Verluste auswies. Sie würde die Sachen nachkaufen … nicht jetzt … nicht heute.

Daniel hatte sich umgezogen. Er trug wieder seine Jeans, ein weißes T-Shirt, und er hatte die Haare zusammengebunden.

Langsam trat er in die Küche.

»Mama …«

Barbara riss sich zusammen. Sie durfte jetzt keine Abwehrhaltung aufbauen.

»Warte bitte!«, sagte sie mit ruhiger Stimme und sah ihm in die Augen. »Ehe wir hier sprechen, sollst du wissen, dass es nichts gibt, was ich dir übelnehme. Es gibt für alles eine Erklärung, und ich bin bereit, dich anzuhören, dir zu helfen. Aber um das zu können, muss ich dich verstehen. Also sei bitte offen, denn alles, was hier unausgesprochen bleibt, quält dich und mich. Du bist mein Kind und wirst es immer bleiben. Hab keine Angst!«

Diese Sätze gingen nicht leicht über ihre Lippen. Sie gab ihrem Sohn einen großen Vertrauensvorschuss, und sie hoffte, er würde die Chance ergreifen, ihr dieses Vertrauen im gleichen Maße entgegenzubringen.

Daniel holte tief Luft. Doch ehe er beginnen konnte, nahm ihm seine Mutter am Arm und führte ihn ins Wohnzimmer.

»Das sind keine Küchenschürzengespräche.«

Sie setzten sich an den Couchtisch, Barbara auf das Sofa, Daniel in den Sessel neben ihr.

Barbara legte ihre Hand auf seine Schulter.

»So ist es doch viel besser.«

Daniel begann. Seine Stimme zitterte, als er die ersten Worte suchte.

»Mama … das mit dem Kleid … also das ganze Umziehen …«

Er stockte. Er musste etwas sagen, und er musste es jetzt.

Barbara sah ihn an und schwieg. Sie durfte auf keinen Fall auf eine Antwort drängen. Und ihr Blick sagte ihm, dass sie das auch nie tun würde.

Daniel nahm all seinen Mut zusammen, um den einen, den alles erklärenden, aber auch alles verändernden Satz zu sagen.

»Mama … ich glaube … ich glaube, dass ich … ein Mädchen bin.«

Er schloss die Augen, um nichts mehr sehen zu müssen. Dieser Satz hatte ihn so unendlich viel Kraft gekostet. Die Leere, in die er jetzt blickte, wirkte dagegen wohltuend.

Barbara sagte nichts. Sie wusste, was diese Aussage bedeutete – für ihn, für sie, für alle. Und wenn das alles, was sich hier abspielte, wahr war, dann würde es einen harten Kampf geben. Dann musste die ganze Familie zu ihm stehen, seine Freunde, alle. Denn Daniel würde jeden einzelnen brauchen, um diesen Kampf zu gewinnen.

Sie war jetzt die einzige Mitwisserin eines großen Geheimnisses. Und sie hatte Angst. Angst, dass ihr Kind das ganze Ausmaß dieses einen Satzes noch gar nicht übersehen konnte. Ja, sie selbst stand jetzt vor einer großen Aufgabe. Sie musste sich absolut sicher sein, dass dieses Gefühl ihres Kindes tief verankert und von Dauer war. Dann würde sie ihn darin bestärken, seinen Weg zu gehen. Auch wenn es – im Augenblick – ein für sie sehr schmerzhafter Weg zu sein schien.

»Es ist gut, okay, es ist gut.«

Barbara zog seinen Kopf an ihren heran.

Daniel schluchzte. Er hatte die Augen wieder geöffnet. Und er sah seine Mutter, ruhig und liebend. Die Gefühle brachen aus ihm hervor. Es war ein Gewitter von Gefühlen. Seine Mutter konnte mit der Tatsache umgehen. Jedenfalls sah es danach aus. Aber diese Situation würde sich wiederholen. Sein Vater, seine Schwester, die Familie … Wie würden seine Freunde reagieren, wie all die anderen? Er wusste, dass sich sein Weg hier und heute an einer Gabelung befand. Wenn er sich einmal für einem Abzweig entschieden hatte, würde es kein Zurück mehr geben.

Die Tränen trübten seinen Blick.

Barbara war in die Küche gegangen, um für beide eine Tasse Tee zu bereiten. Zeit … Daniel brauchte jetzt Zeit. Wenn er sich wieder etwas gefasst hatte, wollte sie ihm einige wichtige Fragen stellen. Kleine Fragen, keine bedeutenden. ›Nur nicht löchern, sonst blockt er ab‹, schoss es ihr durch den Kopf. ›Und dann erfahre ich vielleicht gar nichts mehr.‹

Sie kam mit den Teegläsern in das Wohnzimmer, stellte etwas Gebäck daneben.

»Na, komm! Nimm dir was!«

Sie lächelte.

»Nervennahrung.«

Daniel sah sie an.

»Nervennahrung? Gebäck?«

Auch über sein Gesicht huschte ein Lächeln.

Am Abend lag Barbara noch lange wach im Bett. Es war ein aufregender Tag gewesen, wie es nicht viele gab. Und sie musste sich eingestehen, dass, obwohl sie sich sehr müde fühlte, noch eine Menge Fragen in ihrem Kopf kreisten.

Beide hatten vereinbart, Ilsa vorerst nichts von den Ereignissen am Nachmittag zu erzählen. Solange zwischen Daniel und seiner Mutter nicht alles Wesentliche besprochen war, dürften weitere Mitwisser nur neue Probleme bringen. Und das war das Letzte, was Barbara jetzt gebrauchen konnte.

Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf. Und mit einem Schlag erschrak sie. –

War es das? War das der Grund?

Barbara wälzte sich auf die andere Seite. Draußen schien der Mond vom wolkenlosen Himmel durch die Spalte der Jalousie und erzeugte ein Streifenmuster auf der Bettdecke.

Sie rekapitulierte. Es gab Ereignisse in Daniels Kindheit, mit denen sie nichts anzufangen wusste. Er hatte sich dann so … untypisch verhalten. Nicht, dass sie sich Sorgen gemacht hätte. Er war ja gesund, und viele dieser Episoden waren nur von kurzer Dauer. Hendrik hatte das wahrscheinlich überhaupt nicht mitbekommen. Doch sie hatte ihr Kind in solchen Momenten genauer beobachtet.

Barbara versuchte, sich diese Augenblicke in Erinnerung zu rufen. Am Anfang gab es nichts Auffälliges. Kindergarten, Grundschule … Es musste wohl in der vierten Klasse gewesen sein, als sie sich das erste Mal Gedanken über die Psyche ihres Jungen gemacht hatte. Damals, als Sandy neu in die Klasse kam.

Sandy Stolz … Ihre Eltern waren in den Sommerferien hierher gezogen. Im neuen Schuljahr erschien sie plötzlich in Daniels Klasse.

Ihr Sohn hatte zu Hause strahlend von der neuen Mitschülerin berichtet. Und zum Stadtfest im Herbst hatte er sie ihnen gezeigt, als sie mit ihren Eltern über den Markt ging. Sie war ein aufgewecktes, ausgesprochen hübsches Mädchen. Tiefschwarze Haare hatte sie, zu einem langen Zopf gewunden. Und einen südländischen Teint. Das kam wohl daher, dass ihr leiblicher Vater Italiener gewesen sein sollte.

Barbara merkte, dass sie abschweifte. Sie spürte das Verlangen, etwas zu trinken. Leise stand sie auf, um sich ein Glas Wasser zu holen. Es war aber heute auch heiß gewesen. Sie schaute auf das Thermometer neben der Tür. Über fünfundzwanzig Grad – da brauchte sie sich nicht zu wundern.

Nach einem Schluck von dem kühlen Nass kehrten ihre Gedanken zurück.

Daniel fühlte sich damals gleich irgendwie mit Sandy verbunden. Eines Tages brachte er sie mit nach Hause und verkündete: »Das ist Sandy, meine Freundin.«

Freundschaft mit zehn Jahren kann vieles bedeuten, deshalb sagte dieser Satz erst einmal gar nichts. Es geschah ja auch nichts, was für die Eltern bedenklich aussah. Absolut nichts. Und trotzdem schien es manchmal, als ob Daniel das Mädchen fast … vergötterte. Was, wenn er in ihr ein Spiegelbild seiner selbst sah?

Barbara rieb sich mit dem Mittelfinger die Stirn über der Nasenwurzel. Das passierte oft, wenn sie tief in Gedanken war.

Ihr war damals auch nicht entgangen, mit welchem Stolz er Sandy von seiner Mutter und ihrer Arbeit in der Boutique erzählte. So begeistert hatte er von Hendriks Job nie gesprochen. Sein Vater hatte das mit den Worten ›Kein Wunder. Du arbeitest ja gleich hier um die Ecke.‹ abgetan.

Überhaupt verhielt der Junge sich Sandy gegenüber nie, als ob daraus einmal mehr werden könnte. Und trotzdem schien zwischen beide kein Blatt Papier zu passen, so gut verstanden sie sich.

Barbara grübelte weiter. Da war die Sache mit Hendriks Autorennen.

Als Hendrik den Kleinen für seinen Modellauto-Sport begeistern wollte, zeigte Daniel überhaupt kein Interesse. Stattdessen setzte er sich hin und malte. Sie hatte das immer für eine künstlerische Neigung gehalten. Doch vielleicht steckte mehr hinter den Motiven, die sich der Junge aussuchte. Oft zeichnete er Mädchen. Hendrik und sie glaubten, das sei seine Cousine Charlene, die alle nur Charlie nannten. Was aber, wenn …

Ihr war damals aufgefallen, dass das nicht Charlie sein konnte. Auch nicht Sandy. Charlie war brünett, Sandys Haar war noch dunkler. Seine Mädchen hingegen malte er blond. Barbara sah die Zeichnungen auch jetzt vor ihrem geistigen Auge. Wie in einer Galerie zogen sie vorüber, immer wieder Mädchen … Das hatte sie seinerzeit stutzig gemacht. Hatte er eine Wunschvorstellung festgehalten? Quasi ein Abbild seiner kleinen Seele?

Barbara setzte sich im Bett auf. So konnte sie der Müdigkeit besser widerstehen.

Was gab es noch in der Kindheit ihres Sohnes? Wieder fiel ihr Charlie ein. War das immer eine Freude, wenn sie zu Besuch kam. Und dann waren die beiden weg, hockten in einer Ecke und erzählten sich stundenlang von ihren Erlebnissen. Über was sie genau sprachen, davon konnte sie nichts wissen. Sie war tolerant genug, nicht hinzuhören. Doch sie hatte darüber nachgedacht …

Jungen ergreifen oft die Initiative, wenn sie mit Mädchen spielen. Sie ziehen diese in ihr Spiel. Barbara glaubte zu sehen, dass sich Daniel eher auf Charlies Aktivitäten einließ. Er folgte ihrer Linie. Das hatte wohl nichts damit zu tun, dass Charlie ein Jahr älter als Daniel war. Er sah sie nicht als Spielgefährtin, sondern als Freundin. So, wie sie die meisten Mädchen haben. Der man alles erzählt, mit der man Geheimnisse teilt … Und Charlie fand nichts dabei. Sie war begeistert, jemanden zu haben, der so war wie …

… wie sie? All diese ›Unstimmigkeiten‹, die sie zwar bemerkt, denen sie aber keine Bedeutung zubemessen hatte, ergaben jetzt ein Bild. Sie hatte damals geglaubt, es wären nur kurze Episoden gewesen. Vielleicht hatte sie sich nur an sie gewöhnt, sie nicht mehr beachtet.

Barbara stand wieder auf, ging zum Fenster. Sie drückte die Jalousie etwas auseinander, um auf die Straße blicken zu können. Nachts sind Kleinstädte wie leergefegt. Nur selten verirrte sich ein einsamer Fußgänger auf die dunkle Straße, die von einzelnen Lichtflecken der Laternen erhellt wurde.

Einsam kam sich auch Barbara vor. Selbst, wenn sie ihren Alltag mit den Kindern allein meistern konnte – jetzt fehlte ihr Hendrik. Sie musste mit jemandem sprechen, damit sie in dieser Situation die richtige Entscheidung fällen konnte. Aber wer sollte das sein?

Barbara kroch wieder ins Bett. Obwohl es sehr warm war, zog sie sich die Decke über den Kopf. Die Gedanken kreisten weiter um Daniel, bis der Schlaf sie übermannte.

Der Sommer mit Josie

Подняться наверх