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ОглавлениеSonntagmorgen. Die Sonne schien, als wolle sie den Kindern besonders schöne Ferien schenken. Nur ein paar kleine Schäfchenwolken schwebten wie weiße Tupfen am blauen Himmel.
Ilsa hatte gleich nach dem Frühstück die Badesachen geschnappt und war verschwunden. Barbara rief ihr noch nach: »Denk daran, pünktlich zum Mittagessen zurück zu sein! Heute Nachmittag ist doch die Grillparty bei Caro.«
Aber sie konnte sicher sein, dass Ilsa die nicht vergessen hatte.
Barbara war froh, einige Zeit allein zu sein. Daniel würde wohl erst später aufstehen. Er hatte am Abend sehr müde ausgesehen.
Im Wohnzimmer war das Radio angestellt. Leise rieselte Musik von da in die Küche. Ein Glas Milch stand vor der Mutter. Die Sachen auf dem Zettel hatte sie nachgekauft, jetzt nahm sie einen Schluck von dem kühlen Getränk.
Gestern, spät am Abend, hatte sie eine Entscheidung für sich getroffen. Sie musste sich daran gewöhnen, dass Daniel zukünftig als Mädchen behandelt werden wollte. Er hatte ja selbst geäußert, dass er sich ziemlich sicher sei. Barbara hatte versucht, diesen Gedanken, dieses Bild in ihrem Gehirn festzuhalten. Das geschah auch wegen Daniel. Sie wollte sich alle Mühe geben, ihn nicht mehr in der bisherigen Form anzusprechen. Aber wie sollte sie ihn – oder sie – dann nennen? Das sollte sie schon von ihrem Kind erfahren.
Weiter hatte sie beschlossen, dass Ilsa heute nach der Grillparty eingeweiht werden sollte. Sie musste nur noch klären, ob das allein geschehen würde oder in Anwesenheit ihrer ›großen Schwester‹. Und sie musste ihrer kleinen Tochter klar machen, wie sensibel dieses Wissen im Moment noch sei. Dass es eine große Verantwortung für Ilsa sei, etwas zu erfahren und erst einmal für sich zu behalten. Sie hatte ein Recht, es zu wissen. Aber sie hatte kein Recht, es draußen gleich weiterzugeben. Damit würde Ilsa ihrer neuen Schwester viel Leid zufügen.
Außerdem hatte sie sich vorgenommen, Hendrik zu besuchen. Das erste Gespräch wollte sie allein mit ihm führen. Barbara hatte bei dem Gedanken ein ungutes Gefühl. Nach seinen Reaktionen auf weit geringere Anlässe dürfte das einschlagen wie eine Bombe. Und bei dieser Explosion wollte sie die Kinder aus der Schusslinie halten.
Nach dieser Entscheidung war ihr wohler gewesen. Sie hatte gespürt, wie erschöpft sie von den Ereignissen des Tages wirklich war, und geschlafen wie ein Stein.
Eine halbe Stunde später kam Daniel aus seinem Zimmer. Er hatte die Haare offen, so dass sie um seinen Hals spielten und die Schultern streiften. Barbara musste sich eingestehen, dass ihm das wirklich stand. Und sie tat erstmals etwas, was sie vor zwei Tagen nicht für möglich gehalten hätte. Sie überlegte sich, dass eine flotte Frisur die blonden Haare noch viel besser zur Geltung bringen würde.
»Morgen, Mama. Geht's dir gut?«
Seine Mutter war erstaunt über die Frage.
»Ja – viel besser als gestern. Und dir?«
»Geht schon so. Aber wenn's dir gut geht, wird's noch besser.«
Daniel hatte mit bestechender Logik erkannt, dass es der Mutter nur besser gehen konnte, wenn sie eine Lösung gefunden hatte. Und das würde sich unmittelbar auf sein Problem auswirken.
Für Barbara kam diese Ansage so überraschend, dass ihr einige Sekunden gar nichts dazu einfiel. Dann, als Daniel am Frühstückstisch saß, sagte sie: »Wenn es dir so gut geht, kann ich dir erzählen, was ich gestern für mich entschieden habe. Für mich, verstehst du? Alles andere kommt dann Stück für Stück.«
Daniel sah an seiner Mutter vorbei zum Fenster hinaus. In ihm breitete sich eine Mischung von Erwartung, Angst und Freude aus. Jetzt kam es darauf an. Was hatte sie entschieden?
»Okay. Fang an!«
Er hatte aufgehört zu essen und erwartete das Urteil.
Barbara sah ihrem Kind fest in die Augen, fast hypnotisch.
»Ich habe mich entschlossen … ab heute zwei Töchter zu haben.«
Dieser Satz, in ihren Gedanken noch relativ leicht formuliert, ging ihr so unendlich schwer über die Lippen. Aber er war gesprochen, ließ sich nicht mehr zurücknehmen. Und sie stand immer zu ihrem Wort.
Das wusste auch Daniel. Er saugte die Worte in sich auf. Die Erwartung hatte sich erfüllt, die Angst war wie weggeblasen, und die Freude siegte.
»Du kannst es dir also vorstellen … so, wie ich …«
»Ich hab doch gar keine andere Wahl. Aber mit dem Vorstellen – da musst du mir schon noch ein bisschen helfen. Ich weiß ja fast überhaupt nichts über deine neuen Gefühle.«
Daniel lachte. Seit Freitagnachmittag hatte er das erste Mal wieder ein fröhliches Gesicht.
»Ich werde dir alles erzählen, was du wissen möchtest.«
Jetzt waren sie schon zu zweit in seiner Welt. Er fühlte sich nicht mehr so einsam und verlassen.
Ilsa lag neben Caro auf der Wiese im Bad. Sie hatten die Handtücher ausgebreitet und schauten auf die Schäfchenwolken über ihnen.
»Du Caro, bei uns geht irgendetwas ganz Seltsames vor.«
Caro drehte ihren Kopf Ilsa zu.
»Mit Daniel?«
Sie erinnerte sich an das gestrige Gespräch.
»Nicht nur. Auch Mama war gestern Abend so komisch.«
Caro verstand nicht.
»Wie, komisch?«, fragte sie irritiert.
Ilsa spielte mit einer Haarlocke.
»Also, das war so …«
Sie erzählte von dem Ausraster ihres Bruders, vom Hinhalten der Mutter und den ganzen Ausflüchten. Auch davon, dass ihre Mutter abends noch mal weggegangen war.
Caro bekam große Augen.
»Du, da muss was wirklich Schlimmes passiert sein. Wenn keiner dir was sagen will, dann ist es echt schlimm!«
Ilsa schaute ihre Freundin ängstlich an.
»Meinst du wirklich? Aber, was sollte das denn sein? Abgesehen von den beiden war doch alles normal.«
Caro sagte etwas wichtigtuerisch: »Glaub mir, da ist etwas zwischen Daniel und deiner Mutter. Die beiden wissen etwas, und denken, sie können es dir nicht sagen, weil …«
Ilsa setzte sich auf, Caro direkt gegenüber.
»Weil was? Mach schon!«
»Weil es zu schrecklich für dich ist!«, platzte Caro heraus.
Barbara hatte zwei Gläser mit Fruchtsaft gefüllt und ging ins Wohnzimmer. Daniel verstand die Geste und folgte ihr. Sie setzten sich auf ihre Plätze am Couchtisch.
Daniel hatte seiner Mutter vorhin versprochen, ihr alles zu erzählen. Dazu musste er stehen. Doch er fand, dass das jetzt nicht mehr so schlimm war wie noch gestern.
Barbara legte ihre Hand auf seine, die auf der Tischplatte ruhte, und drückte sie leicht. Die Frage fiel ihr nicht leicht.
»Und … wie willst du dich jetzt nennen? Bekomme ich eine Daniela? Oder hast du dir etwas anderes ausgesucht?«
Barbara hatte einen Kloß im Hals. Das spürte auch Daniel, musste es spüren. Ihre Stimme klang belegt.
Er schaute sie an und zog sacht seine Hand weg.
»Warte einen Moment! Dann weißt du es.«
Daniel stand aus dem Sessel auf und ging zum Plattenspieler. Er suchte kurz in den daneben stehenden Vinylscheiben, dann zog er eine heraus und legte sie auf. Vorsichtig setzte er die Nadel an die gewünschte Position und drehte die Lautstärke am Verstärker etwas auf.
Barbara blickte ihren Sohn fragend an. Der erwiderte den Blick mit einem Lächeln.
Aus den Lautsprechern ertönte eine sanfte Männerstimme:
»Josie, Josie, es ist soweit.
Vergiss die Mädchenträume
und halte dich bereit …«
Daniel hob das Plattencover hoch: »Peter Maffay.«
Barbaras Augen wurden feucht. Sie schluckte, aber sie konnte die Tränen nicht zurückhalten. Hemmungslos begann sie zu weinen, während die Worte in der Luft lagen:
»… doch aus dem Kind von gestern
wird nun langsam eine Frau.«
Daniel legte das Cover hin, drehte die Musik leiser und ging langsam zur Couch.
»Mama …«
Barbara blickte ihr Kind mit endloser Wärme an, dann fasste sie ihn plötzlich und drückte ihn heftig an sich. In diesem Moment füllten sich auch Daniels Augen mit Tränen. Beide schluchzten.
»Daniel … Josie …« Barbara fand keine weiteren Worte. Sie fühlte nur, es war das letzte Mal, dass sie ihren Sohn umarmte und zugleich das erste Mal, dass sie ihre Tochter an sich drückte.
Daniel sagte mit leiser Stimme: »Mama, du hast mir mal erzählt, wie Papa und du euch das erste Mal geküsst habt. Es war an jenem Tanzabend. Er hat dich an sich gezogen, und du wusstest, er war deine große Liebe. Sie spielten dieses Lied.«
»Ja, mein Kind, ja …«
Barbara war immer noch völlig überwältigt. Überwältigt von den Ereignissen der letzten Minuten und von den Erinnerungen an einen der schönsten Augenblicke ihrer Jugend. Konnte je ein passenderer Name für ihr Kind gefunden werden?
»Josie …«, stammelte sie, »Josie, mein Mädchen.«
Ein Lächeln glitt über ihr verweintes Gesicht.