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Die Sonne zeigte sich rotorange am Horizont. Der wolkenlose Himmel versprach einen herrlichen Sommertag. Es war Anfang Juli, und die kleine Stadt begann gerade, aus dem Schlaf zu erwachen. Die ersten Pendler machten sich fertig, per Auto oder Bahn in die größeren Städte zu fahren.

So eine Kleinstadt hatte ihr eigenes Flair. Der alte Stadtkern mit seinen engen Gassen atmete die Jahrhunderte. Hier liefen Menschen, lange bevor es Fahrräder, geschweige denn Autos gab. Dieser Tatsache geschuldet, blieb das Zentrum in weiten Teilen bis heute eine Fußgängerzone. Die Geschäfte dort waren meist kleine Läden mit begrenztem Angebot. Doch gerade das machte es aus. Der Einkaufsbummel wurde zum besinnlichen Erlebnis. Die Hektik der Großstadt – sie brauchte hier keiner.

»Aufstehen, Kinder! Der letzte Schultag!«

Barbara Wegener klopfte nacheinander an die Zimmertüren ihrer beiden Sprösslinge. Als sich nichts regte, rief sie noch einmal: »Kommt schon! Heute noch, dann habt ihr Ferien und könnt schlafen, solange ihr wollt.«

Jetzt tat sich etwas in den beiden Räumen. Zuerst steckte Daniel den Kopf durch die Tür.

»Ooch, ich hab keine Lust«, gähnte er und blinzelte aus den verschlafenen Augen.

»Den einen Tag wirst du auch noch überstehen«, tadelte seine Mutter lachend. »Beeil dich, Tom wird bald kommen!«

In diesem Moment öffnete sich die zweite Tür. Ein Mädchen mit zerzaustem blonden Haar sah durch den Spalt.

»Guten Morgen, Mama.«

»Guten Morgen, mein Schatz.«

Barbara drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange.

»Ich komm zuerst dran!« Mit diesen Worten flitzte diese plötzlich los, als sie sah, dass ihr Bruder sich in Richtung Bad bewegte. »Das weißt du doch, Daniel.«

Daniel hielt inne.

»Aber mach hin! Du brauchst immer ewig lange.«

Barbara strubbelte ihren ›Großen‹ durch die Haare.

»Dreizehnjährige Mädchen benötigen eben schon etwas mehr Zeit, um sich hübsch zu machen. Daran wirst du dich gewöhnen müssen.«

Zum Bad gewandt, rief sie mahnend: »Ilsa, mein Make-up ist tabu. Keine Farben ins Gesicht! Ich kontrolliere!«

»Ja, hab verstanden«, kam als Antwort zurück.

Daniel zuckelte in sein Zimmer zurück, um mit dem Anziehen zu beginnen.

Barbara zuckte zusammen.

»Himmel, die Pausenbrote!«

Schnell verschwand sie in Richtung Küche, um ihren Kindern etwas für die Schule zurecht zu machen.

Es war nicht einfach für Barbara, sich allein um die beiden zu kümmern. Noch vor einem Jahr war Hendrik dagewesen. Da war die Familie noch intakt. Obwohl … Wenn sie heute darüber nachdachte, war die Liebe wohl schon länger auf der Strecke geblieben. Beide hatten ihren Beruf, ihre Hobbys – eigentlich lebten sie nicht mehr miteinander, sondern nebeneinander. In dieser Situation hatten sie schließlich die Notbremse gezogen. Hendrik, Dozent an der Universität, suchte sich eine Wohnung in der Großstadt, um nicht mehr jeden Tag pendeln zu müssen. Und sie hatte ihren Job hier in der kleinen Boutique.

Seit letztem Herbst lebten sie getrennt. Von Scheidung war nie die Rede gewesen. Sie brauchten einfach etwas Abstand, wollten durch die Distanz wieder den Wunsch nach Nähe erwecken. Weit entfernt wohnten sie ja nicht. Die Großstadt war mit der Bahn in einer halben Stunde zu erreichen. Das machte es einfach für Hendrik, wenn er die Kinder mal am Wochenende zu sich nahm.

Kinder – so konnte man sie kaum noch nennen. Daniel mit seinen fünfzehn Jahren beendete gerade die achte Klasse und machte sich nicht mehr so viel aus den Besuchen beim Vater. Bald ging er seine eigenen Wege. Und Ilsa, die hübsche kleine Ilsa …

Ihren Namen hatte sie von Barbara erhalten. Barbara liebte ›Casablanca‹ mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergman. Nachdem sie den Film etliche Male im Kino gesehen und kaum eine Sendung im Fernsehen ausgelassen hatte, kaufte sie sich endlich die DVD. Zu Hendrik hatte sie einmal gesagt: »Wenn Ilsa Lundt hier leben würde, möchte ich gern ihre Freundin sein.«

Inzwischen hatte Ilsa das Bad an Daniel übergeben. In Jeansrock und gelbem T-Shirt saß sie am Frühstückstisch und kaute.

»Triffst du dich mit Carolin?«, fragte Barbara.

»Klar! Caro und ich müssen doch noch über die Party sprechen.«

Seit Tagen gab es kein anderes Thema für sie. Ihre Schulfreundin Carolin hatte Ilsa zu einer Grillparty am ersten Ferienwochenende eingeladen. Caros Eltern hatten einen Kleingarten am Rande der Stadt, wo sie sich im Sommer häufig das ganze Wochenende über aufhielten. Und sie hatten ihrer Tochter diese Party versprochen, wenn sich Caro in Mathe und Geschichte verbesserte. Dank Ilsa hatte sie es geschafft und damit ihren Teil der Abmachung eingelöst.

Daniel setzte sich zu den beiden.

»Käse oder Wurst?«, fragte seine Mutter.

»Früh nie Wurst, das weißt du doch.«

Daniel legte keinen Wert auf ein üppiges Frühstück. Er war schlank, knapp einssiebzig und hatte ebenfalls blonde Haare. Sie waren nur einige Nuancen dunkler als die seiner Schwester. Aus einer Laune heraus hatte sie Daniel schon vor längerer Zeit wachsen lassen, bis sie ihm zur Schulter reichten. Seitdem zierte ein kleiner Pferdeschwanz seinen Hinterkopf.

Auch sonst sah Daniel sehr gepflegt aus. Eigentlich eine Spur zu gepflegt für einen Jungen seines Alters …

Da schrillte die Klingel. Daniel sprang auf und lief zum geöffneten Küchenfenster.

»Ich komme!«

»Tom?«

»Ja. Tschüss, Mama.«

Er nahm die Pausenbrote, gab seiner Mutter schnell noch einen Kuss und war schon an der Tür.

»Und du machst dich jetzt auch auf den Weg! Die Schule wartet nicht!«

Barbara hielt ihrer Tochter das Brotpäckchen entgegen. Ilsa trank schnell ihren Kakao aus, dann ging sie in den Flur.

»Mama, findest du Daniels Pferdeschwanz eigentlich schön?«, fragte sie, während sie sich ihre Sandalen anzog.

»Weiß nicht. Jungs in dem Alter probieren halt alles Mögliche aus. Und der kleine Zopf ist ja wirklich nur eine harmlose Spielerei.«

Ilsa lachte über diese Bemerkung, drückte ihre Mutter an sich und schlüpfte durch die Tür.

Hendrik Wegener verließ die Universität. Es war wieder ein arbeitsreicher Tag gewesen. Drei Vorlesungen, da wird die Stimme schon stark strapaziert.

Wie lange machte er das eigentlich schon? Mein Gott, nächstes Jahr würden es zehn Jahre sein. Da hatte man eine Menge Studenten vor sich sitzen gehabt. Die einen lauschten aufmerksam und machten sich fleißig Notizen, den anderen sah man die Fete vom Vorabend noch an. Sie hatten Mühe, die Augen offenzuhalten. Aber wenn er an seine Studienzeit zurückdachte … War er anders? Er kannte auch beide Seiten des Studentenlebens. Das musste wohl so sein.

Jemand holte ihn von hinten ein, verhielt im Schritt und pustete.

»Na, Hendrik, Schluss für heute?«

»Ach du, Hans. Ja, mir reichts. Weißt du, so schön, wie unser Beruf sein kann, manchmal wünsche ich ihn zum Teufel.«

Der neben ihn Gehende war in Hendriks Alter, Anfang vierzig. Er hatte Jeans an und trug ein gestreiftes Hemd – offen, ohne Krawatte. Das machte den Unterschied zu Daniels Vater, der bei der Hitze im beigefarbenen Anzug mit Schlips und Kragen stöhnte. Hendrik war Physik-Dozent, das zählte als ›ehrliche‹ Wissenschaft mit würdevollen Lehrern.

Hans Körner war auch Dozent, allerdings für Informatik. Und diese Leute, die die Hälfte ihres Lebens vor Monitoren zubringen, galten an der Uni als loses Völkchen, die hemdsärmlig ihre Probleme lösten. ›So ist das eben‹, dachte Hans. ›Die haben ihren Archimedes, wir kommen kaum über Konrad Zuse zurück.‹

Aber abgesehen davon waren die zwei sehr gute Freunde. Sie gehörten tatsächlich zum gleichen Matrikel, hatten nur unterschiedliche Fachrichtungen belegt. Und noch eines verband sie. Sie fröhnten der gleichen Leidenschaft, dem Motorsport. Nicht, dass sie selbst in so einen Boliden stiegen, um über Pisten zu brettern. Das lag jenseits ihres Horizonts. Für sie war die Autowelt eine Idee kleiner. Beide waren Mitglied in einem Modellsportverein. Dort wurden Rennwagen gebaut, sogenannte RC-Modelle, die dann knatternd per Fernsteuerung über die Rennstrecke gejagt wurden. Da war man Automechaniker, Boxencrew und Fahrer in einem.

Das Vereinsleben hatte jedoch auch seine Eigenheiten. In Abständen fanden auf verschiedenen Ebenen Meisterschaften statt. Und das bedeutete Reisen. Oft war Hendrik an Wochenenden unterwegs gewesen, während Barbara sich um die Kinder kümmerte. Und wenn er nicht unterwegs war, dann fand man ihn meist in seiner Werkstatt beim Basteln. Darunter litt die Ehe der Wegeners im Laufe der Jahre. Seine Frau hatte ihn manchmal zur Seite genommen und gefragt, ob sie denn auch einmal etwas gemeinsam unternehmen mochten. Und da er auf diese Frage wohl zu wenig eine befriedigende Antwort geben konnte, schlug sie die zeitweilige Trennung vor.

Nein, Barbara hatte niemals das Wort Seitensprung, Affäre oder Verhältnis in den Mund genommen. Sie glaubte, Hendrik gut genug zu kennen, dass er sie nie für eine andere Frau aufgeben würde. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte sie wohl für Scheidung plädiert. Aber dieses lustlose Einerlei, die Frage, wie weit die Liebe noch reichte, veranlasste sie nach langem Abwägen zum Vorschlag eines ›Ehe-Urlaubs‹. Das war letztes Jahr im Oktober.

»Kommst du heute Abend in den Verein?«

Die Frage hatte Hans an Hendrik gerichtet. Doch der war in Gedanken versunken.

»Wie bitte?«

»Ob du heute Abend kommst?«

Hendrik hatte in die Realität zurückgefunden.

»Heute Abend … Natürlich!«

Hans schüttelte seinen schwarzen Lockenkopf.

»Also, du brauchst wirklich jemanden, der auf dich aufpasst. Du rennst doch glatt vor ein Auto, wenn du über die Straße gehst.«

Hendrik sagte nichts, aber innerlich gab er seinem Kollegen recht.

Die kleine Boutique ›Feminin‹ lag nur zwei Straßenecken von Barbaras Wohnung entfernt. Sie hatte zwar keine Riesen-Auswahl, aber die Artikel waren passend zur ansässigen Damenkundschaft ausgesucht. Aufgedonnerte Fummel, mit denen junge und nicht mehr so junge Stars und Sternchen über den Roten Teppich flanierten, suchte man in ihr vergebens. Doch für einen aufreizenden Theater- oder Konzertbesuch fand sich schon das eine oder andere Schmuckstück. Und das zu bezahlbaren Preisen.

Barbara war für das Sortiment verantwortlich. Früher war es ihr Traum gewesen, selbst Modelle zu entwerfen. Sie sah sich einmal als kreative Jung-Designerin. Doch wie das so mit Traum und Realität ist: Irgendwann fand sie sich hinter dem Ladentisch wieder und verkaufte die Modelle anderer. Der Job füllte sie weder aus, noch kam er ihrer Ambition entgegen, selbst etwas Neues zu schaffen.

Aber dann nahm sie ihr Schicksal in die eigenen Hände. Des drögen Verkäuferinnen-Alltags müde, arbeitete sie sich mühsam durch die Betriebswirtschaft, belegte Lehrgänge für Marktanalyse und Produktmanagement – bis sie endlich die verantwortungsvolle Stelle als Leiterin des Einkaufs erhielt. Nun konnte sie wenigstens mitbestimmen, welche Artikel in die Boutique kamen. Und sie machte ihre Arbeit wirklich gut. Bald kannte sie ihre Stammkundschaft so genau, dass sie intuitiv die richtige Wahl traf. Die Damen dankten es ihr, indem sie häufig wiederkamen.

In der Boutique arbeitete auch Veronika Bauer. Veronika war wohl Barbaras beste Freundin. Sie kannten sich schon seit der Zeit, als Barbara mit Ilsa schwanger ging. Damals arbeitete sie die junge Frau ein, damit sie für das Baby zu Hause bleiben konnte. Seit diesen Tagen verband sie eine innige Freundschaft.

Veronika hatte von Natur aus schönes kastanienbraunes Haar, welches in sanften Wellen über ihren Nacken und Rücken floss. Sie hatte es sich zum Markenzeichen gemacht, vorn links eine leuchtendrote Strähne zu tragen. Damit wurde sie bei den Kundinnen bekannt, und die Erwähnung dieser Strähne führte die Damen automatisch zu ihr.

Abgesehen von dieser Eigenheit, war Veronika ein herzensguter Mensch, der niemandem eine Bitte abschlagen konnte. Manchmal schaute sie etwas melancholisch, weil sie noch nicht den für sie perfekten Mann gefunden hatte. Aber da sie fünf Jahre jünger war als Barbara, schien noch nichts verloren.

»Vroni, kommst du mal bitte!«

Barbara rief aus dem Lager nach ihrer Kollegin.

Veronika eilte nach hinten, da gerade keine Kundinnen im Geschäft waren.

»Was gibt's, Babs?«

Trotz intensiver Suche konnte Barbara ein bestimmtes Kleid nicht finden.

»Weißt du, ob das dunkelblaue Cocktailkleid für Frau Westphal schon geliefert wurde?«

»Es gab Lieferprobleme mit den Sternpailletten. Heute Nachmittag soll es kommen.«

»Gut. Dann muss ich Frau Westphal anrufen, damit sie nicht umsonst kommt.«

Solche Malheurs passierten, wenn exklusiv etwas bestellt wurde. Barbara sah das nicht tragisch. So, wie Frau Westphal, Caros Mutter, ließen viele Damen ihre Telefonnummer da, um per Anruf oder SMS benachrichtigt zu werden, falls es Probleme gab.

»Sag mal, Babs, morgen beginnen doch die Schulferien?«

Barbara blickte von den Lieferscheinen auf.

»Ja, und?«

Veronika schaute ihre Freundin vielsagend an.

»Verreist ihr … Ich meine du und deine Kinder?«

Barbara verneinte: »Ich glaube nicht. Jetzt, wo Hendrik nicht da ist.«

»Gerade deshalb.«

Barbara wurde etwas ungeduldig.

»Du hast doch was vor, Vroni! Sag's schon!«

»Mein Vater hat doch dieses Landhäuschen am Siedlersee. Hättest du nicht Lust?«

»Du meinst, wir alle …«

Veronika lächelte bübisch: »Klar! Es ist herrlich. Wir können schwimmen, ein Ruderboot ist auch da, und gar nicht weit weg gibt's einen Reiterhof.«

Das Angebot schien verlockend. Barbara schwankte noch.

Veronika drängelte: »Komm! Es ist himmlisch ruhig dort. Der ideale Ort zum Entspannen. Mal ein, zwei Wochen Natur pur.«

›Das klingt wie aus einem Reiseprospekt‹, dachte Barbara.

»Und wann wäre das?«, fragte sie vorsichtig nach.

»Gleich Anfang August steht das Haus leer. Also, was sagst du?«

Barbara wusste, dass ihre Freundin keine Ruhe geben würde, bis sie sich entschied.

»Also gut. Ich werd den Vorschlag zu Hause mal auf den Tisch packen. Mal sehen, was die Kinder sagen.«

Veronika wollte gerade wieder nach vorn gehen, da eine Kundin das Geschäft betrat. Da rief ihr Barbara hinterher: »Ach übrigens – ich verschwinde heute mal um halb zwei Uhr. Ich muss noch fürs Wochenende einkaufen und will am Nachmittag zu Hause sein. Wegen der Zeugnisse.«

Der Sommer mit Josie

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