Читать книгу Der Sommer mit Josie - Sandy Lee - Страница 12
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ОглавлениеBarbara hatte die Bahn genommen und stand nun vor dem Haus, in dem sich Hendriks Wohnung befand. Sein Wagen parkte am Straßenrand, eine schon in die Jahre gekommene weiße Limousine mit Rallyestreifen an den Seiten. ›Hendriks Hobby‹, dachte sie, ›ein verhinderter Westentaschen-Schumacher.‹ Sie tadelte ihn nicht dafür, dazu war sie viel zu tolerant. Nur hatte sie immer häufiger mit Wehmut festgestellt, dass seine Prioritäten sich zu Ungunsten der Familie veränderten.
Sie öffnete die Haustür. Dritte Etage, kein Fahrstuhl. Ihr machte das nichts aus. Die Last, die sie heute trug, war immaterieller Natur.
Barbara klingelte. Ding-dong! Es fühlte sich seltsam an, vor der Tür des eigenen Ehemanns zu stehen und zu klingeln. So, als ob da schon eine Barriere wäre, die dem Glück im Wege stand. Wenn er nicht wollte, brauchte er nicht zu öffnen.
Sie gab sich einen Ruck. Immer wieder diese Gedanken. Sie tauchten in letzter Zeit gehäuft auf. Hatte sie vielleicht doch damals zu heftig reagiert? – Nein, wenn sie nachgegeben hätte, wäre das wohl das Aus ihrer Ehe gewesen. So konnten sie sich neu finden. Doch nun war da die Sache mit Josie …
Die Tür öffnete sich. Hendrik schien gut gelaunt.
»Hallo, mein Liebling! Schön, dich zu sehen.«
Barbara ging auf seinen schmeichelnden Tonfall nicht ein.
»Hallo Hendrik!«
Das kam etwas spröde herüber. Hendrik hakte nach.
»Warum so frostig? Hab ich dir etwas getan?«
»Jetzt nicht, aber denk mal an früher!«
Hendrik führte sie ins Wohnzimmer. Er bot ihr auch hier den Platz auf der Couch an. Barbara setzte sich.
»Hendrik, ich will gleich zur Sache kommen. Ich habe nicht viel Zeit, weil ich mich um vieles kümmern muss.«
»Gut. Wo drückt der Schuh? Deinen Andeutungen nach bei den Kindern. Liege ich richtig?«
Seine Frau musste kurz lächeln. Hendriks Scharfsinn hatte ihr schon immer imponiert.
»Ja, du liegst richtig. Es geht um Daniel.«
»Was ist mit ihm? Hat er in der Schule nachgelassen? Zeugnis verhauen? Oder anderweitig Mist gebaut? Doch nicht etwa …«
Er sprach nicht aus, was ihm in diesen Moment eiskalt den Rücken herunterlief. Eine seiner schlimmsten Befürchtungen war, dass eines seiner Kinder einmal Drogen nehmen würde.
Barbara kannte diese Angst.
»Nein. Keine Drogen, falls du das meinst.«
Hendriks angespannte Haltung lockerte sich wieder.
»Dann kann es doch nicht so schlimm sein«, sagte er.
Barbara nickte mit dem Kopf: »Doch. Schlimmer.«
Jetzt wurde ihr Mann doch unruhig. Er stand von seinem Platz auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Was soll noch schlimmer sein? Hat er geklaut? Oder ist er radikal geworden?«
Hendrik suchte alle möglichen Verfehlungen zusammen.
Barbara stoppte ihn.
»Hör auf zu raten! Es hat keinen Zweck. Setz dich lieber wieder hin! Glaub mir, es ist besser so.«
Er folgte widerwillig ihrem Vorschlag. Wenn er erregt war, brauchte er Bewegung.
»Also?«
Er blickte sie auffordernd an.
»Daniel ist Transgender.«
Hendrik erstarrte. Diese Reaktion war vorauszusehen. Barbara hatte sie vor wenigen Tagen erst selbst erlebt.
»Transgender? Wie … Was … Wie kommt er dazu?«
»Wie er dazu gekommen ist – da bin ich selbst noch am Suchen. Jedenfalls stand er am Freitag, als ich von der Arbeit kam, in einem meiner Kleider in der Wohnung.«
Ihr Mann fühlte den Boden unter seinen Füßen schwanken. Es war gut, sich zu setzen.
»Er denkt also, er wäre … ein … Mädchen?«
Beim letzten Wort schnellte seine Stimme nach oben.
»Hendrik, er denkt nicht, er fühlt sich als Mädchen, welches in einem falschen Körper steckt. Und das hat ihn schon jahrelang gequält.«
Jetzt wurde er hellhörig.
»Wieso jahrelang?«
»Ich habe es geahnt. Und nun meine Bestätigung erhalten. Ich kann dir versichern, es hat auch mich getroffen.«
»Du … hast es gewusst?!«
Barbara schüttelte den Kopf.
»Nicht gewusst, geahnt.«
Hendrik knurrte: »Wo ist da der Unterschied?«
»Wissen ist hundertprozentiges Ahnen.«
Trotzig entgegnet er: »Ich habe jedenfalls nichts Auffälliges bemerkt.«
»Weißt du, Hendrik, für manche Sachen haben Mütter eben eine Antenne.«
»Ach, und die haben wir Väter also nicht?«
»Doch, aber eure Antenne arbeitet manchmal auf Langwelle.«
Barbara lachte.
Hendrik fand das gar nicht komisch. Er wollte gerade etwas erwidern, da nahm ihm Barbara das Wort.
»Das ist doch nicht weiter tragisch. Dafür seid ihr Männer in anderen Bereichen blitzgescheit.«
Hendrik musste lächeln. Da hatte seine Frau wieder elegant die Kurve gekriegt.
»Aber, seit wann …?«, fragte er.
Barbara blickte an Hendrik vorbei, so, als ob sie sich die Vergangenheit vor Augen führte. Dann, nur zwei Sekunden später, sah sie ihn wieder an.
»Wohl schon die letzten vier, fünf Jahre.«
Auf Hendriks Gesicht malte sich Verblüffung.
»Aber wie …?«
Barbara nahm seine Hand in ihre, streichelte darüber und erwiderte mit warmer Stimme: »Auch Kinder haben ein Gefühl für sich und ihre Umwelt. Hast du nie beobachtet, wie er mit Charlie spielte, wenn sie bei uns war. Sie waren wie zwei Freundinnen. Richtige Jungs verhalten sich anders.«
Bei diesen Worten musste Hendrik unwillkürlich an seine Kindheit denken. Sicher, sie hatten sich damals kaum mit Mädchen abgegeben. Bevor Jungen in die Pubertät kommen, leben Mädchen in einer anderen Welt – manchmal auch später noch.
Barbara bemerkte die Abwesenheit ihres Mannes. Dieser träumerische Blick war es, der sie schon immer an ihm fasziniert hatte. Und in solchen Momenten stellte sie sich oft die Frage, warum sich beide getrennt hatten.
»Oder überleg mal, wie er sich für meine Arbeit interessiert hat, als er Sandy mitbrachte«, holte sie ihn aus seinen Gedanken zurück. »Mehr als dir lieb war. Denn für deine Automodelle hatte er gar nichts übrig.«
Wieder lachte sie.
»Erinnerst du dich, wie er einmal sagte: ›Wenn ich groß bin, dann kauf ich mir ein Auto. Bauen ist öde!‹ – Du warst danach ziemlich vergnatzt.«
Barbara stockte. Der Satz schien Hendrik auch jetzt noch weh zu tun. Das ging gegen sein Hobby, seine Leidenschaft.
Sie nahm seine Hand, die sie immer noch hielt, und drückte sie an ihre Wange.
»He, lass dich nicht so runterziehen! Kinder sagen nun mal, was sie denken. Ihre Welt ist viel ehrlicher als unsere.«
Hendrik genoss den Augenblick. Es war lange her, dass sich beide so verbunden gefühlt hatten. Und dieses Gefühl heilte seinen gekränkten Stolz.
»Ja, ist klar … Es war nur so eine Anwandlung.«
Er streichelte mit dem Handrücken über ihre Wange. Wenn er an die Jahre mit seiner Frau dachte, fühlte er sich wohl.
»Hendrik!«
Barbara holte ihn in die Realität zurück.
»Du solltest seine Entscheidung akzeptieren, so wie ich sie akzeptiert habe.«
Langsam erkannte er die Tragweite des Ganzen. Er zog seine Hand weg, sein Blick wurde wieder abwehrend. Hendrik vergewisserte sich.
»Also du kommst damit klar?«
Barbara behielt ihren ruhigen Tonfall.
»Nicht von Anfang an. Aber ich habe das wohl einzig Richtige in dieser Situation getan.«
Er warf ein: »Und das wäre?«
»Ich habe mich hingesetzt und zugehört. Hendrik, ein Kind von fünfzehn Jahren weiß auch nicht sofort, wie es mit der Tatsache umgehen soll, nicht wie andere Jungen zu sein. Er wusste immer nur, dass er es war.«
»Dann soll er rausgehen und es von den anderen lernen«, reagierte ihr Mann harsch.
Barbara warf ihm einen ernsten Blick zu.
»Jetzt wirst du unsachlich – und das weißt du. Ich habe das ganze Wochenende versucht, in seine Seele reinzukommen und die Ursachen zu erforschen. Wenn du ihn gesehen hättest, würdest du nicht so reden.«
»Sondern?«, reagierte er patzig.
»Hendrik, er sitzt zu Hause und geht nicht mehr raus. Er versucht, seine Gefühle zu ordnen, und er ist zu einer Entscheidung gekommen.«
»Und die lautet wie?«, knurrte Hendrik kurz angebunden.
»Er möchte als Mädchen leben – für immer. Mehr noch, er möchte ein Mädchen sein, wie die anderen. Ich habe es von ihm gehört. Du wirst dich dran gewöhnen müssen.«
Hendrik verteidigte seine Position.
»Und wenn ich das nicht will?«
»Dann hast du ein Problem, denn das spielt nun keine Rolle mehr.«
»Wie meinst du das?«
Barbara wusste, dass nun der schwierigere Teil kommen würde. Hendrik die unangenehme Nachricht zu bringen, war das Eine. Jetzt musste sie ihm zur Kooperation bewegen, denn seine Person war bei künftigen Entscheidungen auch gefragt.
»Hendrik. Du kannst an der Tatsache nichts mehr ändern. Hilf ihm jetzt, diesen Weg zu gehen. Wir brauchen dich dazu. Wenn du das nicht für ihn tust, wird er dich für immer hassen.«
Er fühlte, dass seine Position unhaltbar war. Seine ›Angriffsstrategie‹ ging nicht auf. Er musste von seinem Feldherrenhügel heruntersteigen. Denn die Liebe seines Kindes verlieren, das brachte er nicht fertig.
»Gut. Wenn es darum geht, dann werde ich das Notwendige tun. Aber unter schweren Bedenken …« Hendrik schluckte. »Unter sehr schweren Bedenken.«
Barbara wollte ihren Mann für diese Zustimmung etwas Gutes tun.
»Weißt du, wie dein Kind heißen möchte?«
Hendrik gab sich uninteressiert, obwohl das ganz und gar nicht so war.
»Du hast jetzt eine Tochter namens Josie.«
Er zuckte zusammen.
»Josie? – Du meinst, wie die … Josie?«
Plötzlich wich die Härte aus Hendriks Gesicht.
»Ja. Er hat mir das Lied vorgespielt, und mich an einen der schönsten Augenblicke meines Lebens erinnert. Hendrik, er hat es auch für uns getan. Ist dir das deine Liebe zu ihm – zu ihr nicht wert? Sollte dieser schöne Augenblick nicht in unserer Erinnerung dazukommen?«
Barbara brauchte ein Taschentuch. Auch Hendriks Augen – die eines gestandenen Mannes – waren glasig geworden. Vor allem, weil er sich mit aller Schmerzhaftigkeit daran erinnerte, wie unnötig die Trennung letztes Jahr eigentlich war. Wäre er etwas mehr für seine Frau dagewesen, hätte ihre durchaus berechtigten Argumente ernster genommen, wie schön könnte ihr Leben weitergegangen sein. Er hatte – wie heute – seine Position behauptet und war gescheitert. Und fast wäre ihm das gerade wieder passiert.
»Barbara … Liebling … Mir ist klargeworden, dass ich ein großer Dummkopf gewesen bin. Nicht nur heute, sondern auch die letzten Jahre. Du hast recht. Wenn wir Daniel …« Seine Frau blickte ihn leicht tadelnd an. »Wenn wir … Josie helfen wollen, müssen wir zusammenhalten. Ich muss erst mit der neuen Situation fertigwerden. Du siehst, ich bin vollkommen geplättet. Aber, bitte, überleg dir das mit unserem ›Ehe-Urlaub‹. Ich habe eben gefühlt, wieviel ich verpasse, wenn ich nicht bei euch bin. Schöne und … aufregende Momente mit dir und mit den Kindern. Wir lieben uns doch noch. Ich hab's kapiert, ich war ein selbstsüchtiger Trottel und habe die Welt um mich herum nur so gesehen, wie sie in mein Schema passte. Aber Barbara – um unserer aller Liebe willen – ich werf dieses Schema über Bord. Ihr fehlt mir so. Du fehlst mir so.«
Es war fast ein zweiter Heiratsantrag, den Hendrik Barbara machte. Und Barbara hatte ihm eigentlich schon vor diesem Tag verziehen – wenn er sich ändern würde. Das Paradoxe an der Sache war nun ausgerechnet Josie. Ihr Auftauchen in der Familie hatte beiden unabhängig voneinander die Augen geöffnet. Aber gleichzeitig mussten sie feststellen, dass ihre Einstellung der neuen Situation gegenüber noch weit voneinander abwich. Hendrik hatte heute gezeigt, dass er die Sache nicht richtig ernst nahm und demzufolge zu Hause viel kaputtmachen konnte. Das konnte Barbara jedoch nicht zulassen. Für sie verschmolzen Daniel und Josie zu einer Person – zu ihrem Kind. Sie sah nicht die Äußerlichkeiten, sie sah nur das Wohl ihres Kindes. Und das musste ihr Mann anscheinend noch lernen.
»Hendrik, ich kann das verstehen. Aber hast du gerade nicht vielleicht mehr mich als Josie im Sinn? Wenn du zurückkehren möchtest, dann kehrst du zu uns allen zurück: zu mir, zu Ilsa und … zu Josie. Begreife das, zu Josie. Wenn du unsere Wohnung betrittst, wird es dort keinen Daniel mehr geben. Du musst loslassen! Wenn du soweit bist, dann bekommst du deine Chance.«
Hendrik seufzte. Es war eine Art Ultimatum, ein Erbe mit Klausel. Für Daniel würde sie ihm die Tür nicht öffnen. Die Spielregeln hatten sich geändert.
Ein mühevoller Tag ging zu Ende. Als Barbara nach Hause kam, war Ilsa von der Geburtstagsparty zurück.
»Mama, du siehst müde aus.«
»Ja. Ich habe mit Papa über Josie geredet, und es war sehr anstrengend.«
Ilsa runzelte die Stirn.
»Ist er nicht damit einverstanden?«
Barbara legte ihren Arm um Ilsa Schulter.
»Einverstanden … Darum geht es hier nicht, mein Schatz. Wir können uns die Welt, in der wir leben, nicht aussuchen. Es gibt einige unumstößliche Tatsachen. Josie gehört jetzt dazu. Aber Papa kann das noch nicht akzeptieren. Er hängt an Daniel. Und dass Daniel nicht mehr da ist, das tut ihm irgendwie weh.«
Ilsa warf ein: »Aber Daniel ist doch da! Nur, dass er jetzt eben Josie ist. Josie ist doch der gleiche Mensch, nur dass sie etwas anders aussieht als früher.«
Barbara zog Ilsa an sich. Was ihre Tochter da gesagt hatte, klang sehr erwachsen. In dieser Beziehung war sie viel weiter als Hendrik.
»Das hast du gut beobachtet. Ob Josie oder Daniel, ihr werdet euch genauso lieb haben. Aber für Papa ist das ein Unterschied. Er hat sich so an seinen Sohn gewöhnt. Und plötzlich, als Josie, ist ihm sein Kind fremd geworden. Dass Papa nicht hier ist, macht die Sache auch nicht einfacher, denn dann könnte er Josie näher kennenlernen. Sieh mal, wie wir uns schon an unsere Große gewöhnt haben. Wir sehen sie jeden Tag. Daniel hat sich so verändert, wie sich ein Junge in einen Mann, ein Mädchen in eine Frau verändert. Alles auf der Welt verändert sich. Das übersehen wir oft. Nur, wenn es von der allgemeinen Regel abweicht bemerken wir es. Und für Papa scheint das besonders hart zu sein.«
Ilsa legte ihre Hand auf die ihrer Mutter, die immer noch auf der Schulter ruhte.
»Kommt Papa wieder zu uns?«, fragte sie, etwas traurig.
»Ich denke, schon. Doch vorher muss er mit Josie ins Reine kommen. Ich möchte keinen Streit im Haus. Ich habe ihm gesagt, dass er hier gebraucht wird. Aber dazu muss er seine Einstellung ändern. Ich hoffe, er tut es bald.«
»Ja. Ich vermisse ihn sehr.«
Barbara pflichtete ihr bei.
»Glaub mir, ich auch.«
Trotz ihrer Müdigkeit hatte sich Barbara noch einmal Josies Einkaufszettel vorgenommen. Wenn sie die Artikel wegrechnete, die sie wahrscheinlich im Second-Hand-Shop kaufen konnte, fiel der Rest der notwendigen Kleidungsstücke ganz erschwinglich aus. Leibwäsche, Strumpfhosen, Schuhe. Sie legte die Sachen in den Einkaufswagen, und dann – in einem Anflug von Freude über das geschenkte Notebook – packte sie noch ein hübschen knielangen Rock dazu, der auf Josies Liste ganz weit oben stand.
Das musste reichen. In Anbetracht der Ereignisse orderte sie das Ganze mit 24-Stunden-Lieferung. So konnten die Sachen am Donnerstag da sein. Für morgen hatte sie geplant, dem Laden in der Fischerstraße einmal einen Besuch abzustatten.
Barbara war gerade fertig und hatte die Shop-Seite geschlossen, als Josie ins Zimmer kam. Sie war drüben bei ihrer Schwester gewesen und hatte mit ihr geplaudert. Ilsa war wirklich prima. Ihr war es anscheinend völlig gleichgültig, ob Josie als Junge oder Mädchen herumlief. Sie hatte in der Familie die geringsten Umstellungsprobleme, und es war fast anzunehmen, dass sie sich über diese Veränderung freute. Eine Schwester zu haben, schien ein geheimer Wunsch von ihr zu sein. Und Josie, begierig, all das zu lernen, was Mädchen so ausmachte, kam ihr da entgegen. Auch Barbara hatte schon bemerkt, dass sich eine neue Art Geschwisterbeziehung zwischen beiden aufbaute.
»Wie war's bei Papa?«, erkundigte sich Josie.
»Schwierig.« Dieses Wort sagte alles.
Barbara sah das sorgenvolle Gesicht der Tochter.
»Aber er hat mir zugesagt, dass er uns hilft, wenn seine Zustimmung gebraucht wird. Sein Verhältnis zu dir … Er wird noch etwas brauchen. Ich habe ihm gesagt, dass du es ernst meinst und er nicht mit einer Rückkehr Daniels rechnen darf.«
Josie nickte. Ein Anfang war gemacht. Ihr Vater würde ihr keine Steine in den Weg legen, wenn auch ihr Verhältnis vorerst nicht so sein würde wie früher.
Über Hendriks Wunsch, zu ihnen zurückzukehren, schwieg Barbara. Sie hielt es für voreilig, in den Kindern Erwartungen zu wecken, die noch ein Stück in der Ferne lagen.
»Ich möchte noch über etwas anderes mit dir sprechen«, nahm sie die Unterhaltung neu auf. »Hast du morgen Vormittag Lust, mit mir in den Kleiderladen zu gehen, den uns deine Lehrerin empfohlen hat?«
Josie zog ein schmerzliches Gesicht.
»Ich weiß nicht …«
»Komm, Josie. Ich hab dir schon gesagt, dass du nicht deinen Alltagstest jetzt schon starten musst. Aber du möchtest es doch auch. Du brauchst doch Kleidung, es ist für dich – damit du dich als Josie wohlfühlst. Was überlegst du da noch?«
Ihre Mutter hatte recht. Wie von Zauberhand passierte hier gar nichts. Sie musste sich ihr Leben als Josie hart erarbeiten. Das war der Deal bei der ganzen Sache. Geschenkt bekam sie ihr neues ›Ich‹ nicht.
»Gut. Jeans und T-Shirt. Tragen auch Mädchen.«
»Und die Haare offen?«
Barbara wollte ihre Tochter aus der Reserve locken.
Josie lächelte: »Wenn du es möchtest – Haare offen.«
Hendrik war nach dem Besuch seiner Frau in seine Stammkneipe gegangen. Er musste raus aus der Wohnung. Die Wände schienen ihn zu erdrücken.
So gravierend hatte er sich die Probleme am Mittagstisch, als er mit Hans darüber geredet hatte, nicht vorgestellt. Und nicht im Traum kam diese oder eine ähnlich gelagerte Variante in seinen Betrachtungen vor. Jede andere Nachricht hätte er erwartet – aber nicht, dass Daniel nicht mehr Daniel sein wollte.
Wie kam der Junge eigentlich auf so etwas? Barbara hatte ihm zu erklären versucht, dass es Signale gegeben habe, Signale, die eine Mutter wohl wahrnehmen und unter Umständen auch richtig deuten könne. Doch, warum um alles in der Welt, hat sie dann nicht mit ihm darüber gesprochen? Er wäre auf diese Art wenigstens darauf vorbereitet gewesen und nicht, wie eben, vom Blitz getroffen worden.
Er konnte sich nur vorstellen, dass es nicht eindeutig genug war.
Vor Verlassen des Hauses hatte Hendrik Hans angerufen. Als Barbara davon sprach, dass sie Veronika einbezogen habe, weil sie allein nicht mehr weiter wusste, stand fest, dass Hans den gleichen Status für ihn genoss. Ihre lange Freundschaft ließ keinen Raum für Vertrauensbruch, deshalb hatte er beschlossen, die Debatte vom Mittag fortzusetzen. Sie hatten sich für sieben Uhr in der ›Grauen Eule‹ verabredet.
Hendrik betrat die kleine Eckkneipe in der Altstadt. Solche Lokalitäten hatten noch Flair. Doch es wurden immer weniger. Der Tresen an der Längsseite, ein halbes Dutzend Tische mit karierten Decken drauf. Hier trafen sich Leute, um ihre Sorgen herunterzuspülen, mit Kumpels über Freude und Leid zu sprechen.
Hans saß schon an einem der hinteren Tische. Er winkte Hendrik zu und machte dem Wirt ein Zeichen, noch zwei Pils zu bringen. Hendrik setzte sich zu ihm.
»Guten Abend, du leidvolles Wesen«, begrüßte ihn sein Freund. »Du siehst ja noch zerknirschter aus als heute Mittag.«
»Da wusste ich auch noch nicht, dass mich eine Dampfwalze überrollen würde.«
Hendriks Humor klang verdammt nach Sarkasmus.
Der Wirt stellte die Gläser auf den Tisch. Hendrik nickte ihm zu: »Zwei Doppelkorn.«
Hans sah ihn an.
»Drückt der Schuh so stark? Na los, du hast mich doch hierher zitiert, um was loszuwerden!«
Beide nahmen einen großen Zug aus dem Glas.
»Hans, sag mir's! Liebst du deine Kinder?«
Hans hatte zwei Jungs. Der Große war etwa in Daniels Alter, der Kleine erst neun.
»Natürlich liebe ich sie. Sind doch beides Prachtkerle.«
Er hatte Hendrik ein Stichwort gegeben.
»Siehst du, das dachte ich von meinem Großen auch. Ein Prachtkerl. Und weißt du, was dieser Prachtkerl tut?«
Die Doppelkörner kamen. Hendrik prostete Hans zu, dann schüttete er sich den Schnaps in die Kehle.
»Gleich nochmal!«, bestellte er beim Wirt, der noch beim Anschreiben war.
»Langsam, mein Freund. Also was tut er, dein Prachtkerl?«
Hendrik schaute sich um, dann winkte er Hans zu, seinen Kopf zu ihm zu senken. Leise sagte er: »Glaub es oder glaub es nicht! Er will ein Mädchen werden.«
Hans' Verblüffung war echt.
»Ach nee! Wirklich?« Mehr fiel ihm im Moment nicht ein. Er leerte sein Bierglas in einem Zug.
Sein Freund ergriff wieder das Wort.
»Genauso ging es mir, als ich es von Barbara erfahren habe. Du stehst da und verstehst die Welt nicht mehr.«
Hans versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren.
»Komm! Das hier ist nicht der richtige Ort für so ein Thema.«
Er stand auf und zahlte an der Theke. Dann machte er eine Kopfbewegung zu Hendrik hin.
»Na los! Wir gehen zu dir.«
Hendrik war in diesem Augenblick froh, dass er noch eine Flasche Wodka zu Hause hatte.
Barbara war todmüde, als sie ins Bett fiel. So einen vollen Terminkalender hatte sie lange nicht. Veronikas Anmahnung, sich auch etwas Zeit für sich selbst zu nehmen, hatte bisher noch keinen Platz in diesem Kalender gefunden.
»Veronika – wenn du wüsstest! Josie ist zwar fünfzehn, aber die Arbeit ist die gleiche, als ob ich sie eben erst bekommen hätte.«
Das sagte sie halblaut vor sich hin.
Kaum hatte sie den Satz vollendet, überzog ein leichtes Lächeln ihr Gesicht.
»Ich hab sie ja auch gerade bekommen.«
Dann schlief sie ein.