Читать книгу Der Riesen Arztroman Koffer Februar 2022: Arztroman Sammelband 12 Romane - Sandy Palmer - Страница 17

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Freitag war mittags schon Büroschluss. Sabine packte ihre Sachen zusammen und griff nach ihrer Jacke und nach der Tasche. Sie wollte das Zimmer verlassen und mit dem Lift nach unten in die Garage fahren. Bastian versperrte ihr den Weg.

Sie blickte ihn ruhig an.

»Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich bin jetzt so weit!«

»Du wirft ihn also hinaus?«

»Mir bleibt nichts anderes übrig. Ich habe begriffen, dass du recht hast.«

Bastian Verden strahlte.

»Das ist die schönste Nachricht seit langem!«

»Für dich«, meinte Sabine spröde. »Aber für Rüdiger wird es furchtbar sein.«

»Jetzt hab nicht schon wieder Mitleid mit ihm, Sabine! Das führt doch zu nichts. Du wirst es ihm ganz ruhig erklären. Er geht dann zu seinen Eltern zurück und damit basta, aus!«

»Du sagst das so leicht. Und wenn er das nicht tut?«

»Er wird es tun. Trinker wissen sehr wohl, wo man was finden kann. Und ich sage dir, Sabine, in ein zwei Wochen wirst du ihn vollkommen vergessen haben. Dafür werde ich schon sorgen. Du wirst wieder frei sein, lachen können, dich amüsieren und nie mehr Angst haben müssen, mein Mädchen.«

Sie lächelte spröde.

»Siehst du, es geht ja schon!«

»Du bist wirklich nett zu mir!«

»Ich liebe dich ja auch!«

Als sie in ihren Wagen stieg, dachte Sabine: Ich bin wirklich eine dumme Gans. Bastian ist der netteste Kerl weit und breit. Und was tue ich?

Wieder fühlte sie das seltsame Ziehen in ihrem Herzen. Sie konnte und konnte nicht! Es würde für sie schrecklich sein. Gleich, wenn sie Rüdiger in seinem Bett liegen sah, so hilflos, so schmal, konnte sie wirklich so brutal sein, und einen Menschen, der nicht mehr wusste, was er tat, einfach auf die Straße setzen?

Ganz tief im Herzen dachte sie plötzlich: Und wenn es richtig ist? Man hört es doch immer wieder. Man darf Trinker nicht beschützen. Sie müssen in das Loch fallen. Je eher, umso besser sind die Aussichten für ihre Heilung. Und wenn er geheilt ist, vollkommen geheilt, wird er mich auch wieder so lieben wie früher, und wir können wieder ganz von vorn beginnen. Allen zum Trotz. Die Entziehung wird ihn reifer gemacht haben. Er wird nie mehr zu trinken anfangen. Er wird zu mir zurückkommen, und ich werde glücklich sein! Wir werden glücklich sein!

Sie stellte den Wagen ab.

Kaum hatte sie das Haus betreten, da stürmten auch schon die Nachbarinnen auf sie zu.

»Jetzt ist Schluss! Das lassen wir uns nicht mehr bieten! Vielleicht werden wir auch noch alle umgebracht. Wir wissen uns zu wehren. Und außerdem hat der junge Mann gar kein Recht, hier zu wohnen. Die Wohnung ist an Sie vermietet, Frau Toller.«

»Ja, ja, ich weiß!«

»Das sagen Sie die ganze Zeit, und es ändert sich doch nichts. Denken Sie doch auch mal an unsere Kinder! Wir haben Angst!«

»Ich verstehe das. Und ich werde es ändern. Bestimmt!«

Jetzt kam auch noch der Hausmeister.

»Wenn Sie den Mann nicht rausschmeißen, dann werde ich es tun. Die Wohnungsgesellschaft hat mir geschrieben, ich hätte das Recht dazu.«

Sabine kräuselte die Lippen.

»Keine Sorge. Das besorge ich schon!«

Man ließ sie skeptisch gehen.

»Noch zwei Tage, und wenn sich dann nichts geändert hat, greife ich ein!«, erklärte der Hausmeister.

»Ja doch!«

Von allen Seiten stellte man ihr das Ultimatum. Und sie sagte sich: Rüdiger wird jetzt soweit sein, dass er das begreifen muss. Er hat hoffentlich inzwischen keinen Alkohol getrunken. Diese Gelegenheit muss ich ausnutzen. Er wird es verstehen und ausziehen. Ich muss jetzt auch mal an mich denken. Ich habe lange genug Rücksicht genommen und mich seinetwegen demütigen lassen. Jetzt kann ich einfach nicht mehr!

Dann schloss sie ihre Wohnungstür auf.

Die Spuren von Rüdigers Wühlerei fand Sabine schon im Flur. Sprachlos starrte sie auf ihre verwüstete Wohnung. Das hatte er noch nie getan!

Zitternd stand sie mitten in dem Durcheinander. Dann sah sie auch das zerbrochene Geschirr, die kaputten Lampen.

»O nein«, stammelte sie. »Nein, nein!«

Plötzlich wurde sie schrecklich zornig. Das hatte er ihr also angetan! Er liebte sie schon lange nicht mehr!

Sie suchte ihn in der kleinen Wohnung und fand ihn schließlich im Bad. Weil er so stumm dalag, glaubte sie, er habe wieder getrunken. Sie rüttelte ihn wie wild. Sie hatte jetzt solch unbändigen Zorn auf ihn!

»Du Schwein, du Widerling! Ich kann dich nicht mehr sehen! Es ist aus, verstehst du mich! Aus, aus, aus!«

Nur mit Mühe schaffte es der junge Mann, die Augen zu öffnen. Er hatte vergessen, was er getan hatte. Es war wie aus seinem Gehirn radiert.

»Hallo, Liebes«, sagte er mit weicher Stimme. »Bitte hilf mir doch hoch! Ich habe solche Kopfschmerzen!«

»Dir noch helfen«, schrie sie mit schriller Stimme. »Ich soll dir noch helfen? Nichts tue ich, verstehst du mich? Ich bin am Ende. Ich schmeiße dich raus! Du ekelst mich an! Ich kann dich nicht mehr ertragen!«

Rüdiger wurde für Minuten stocknüchtern. So hatte er seine Sabine noch nie erlebt. Er raffte sich langsam auf. Das ging sehr schwer. Aber dann schaffte er es doch. Er taumelte ins Wohnzimmer und blieb dann erstaunt an der Tür stehen.

»Sag mal, warum hast du das denn alles so durcheinandergebracht?«

Sabine war fassungslos. Jetzt brannten bei ihr alle Sicherungen durch.

»Du warst das«, schrie sie ihn an. »Du hast alles kaputt gemacht! Alles, unsere Liebe, die Wohnung. Alles, einfach alles!«

Dumpf erinnerte er sich wieder daran. Sein Magen rebellierte erneut. Es tat schrecklich weh. Er brauchte unbedingt einen Schluck. Wenn er jetzt einen Schluck bekam, nur einen winzigen, würde er ihr auf der Stelle versprechen, damit aufzuhören. Mit allem. Er würde auch wieder arbeiten gehen, um ihr all das zu ersetzen. Er würde es ihr versprechen. Aber jetzt brauchte er dringend etwas zu trinken, oder er würde verrückt werden.

Murmelnd zog er durch die Wohnung.

Sabine saß auf einem umgekippten Hocker und heulte. Als sie ihn kommen sah, blickte sie auf.

»Was machst du noch hier? Bist du noch nicht fort?«

Seine Augen waren eingefallen und glasig. Sein Gesicht wirkte gelblich. Er aß ja kaum noch etwas. Trotzdem sah er viel jünger aus, als er in Wirklichkeit war. Er drehte sich um und blickte sie an.

»Sabine« stammelte er, »ich flehe dich an, lass mich nicht fallen! Ich ertrag das nicht. Bitte, bitte, sage mir, wo du ihn versteckt hast.«

»Wen?« Sabine war fassungslos.

»Ich brauche nur ein Glas, mehr nicht«, bettelte er.

»Waaas?«

»Bitte!«

Er erniedrigte sich soweit, dass er vor ihr auf die Knie fiel und sie anflehte.

»Ich werde alles tun, ich schwöre es dir, Sabine, ich flehe dich an!«

Sie sah ihn regungslos an. Sabine wusste, sie hatte alles falsch gemacht. Aus blinder Liebe hatte sie geglaubt, sie könnte ihn retten. Aber sie hatte es nicht geschafft. Sie war schuld, dass er so tief gesunken war. Er brauchte endlich ärztliche Hilfe. Sie konnte ihm auf einmal nicht mehr böse sein.

»Ich habe nichts«, sagte sie mit tonloser Stimme.

»Sabine, bitte! Ich komme um! Diese Schmerzen, ich kann das nicht mehr ertragen!«

»Nein, Rüdiger ich habe nichts mehr! Und du würdest auch von mir nichts bekommen, wenn ich etwas hätte. Du bekommst auch kein Geld mehr von mir, hörst du, Rüdiger? Du bist krank, du bist wirklich krank. Du musst dich behandeln lassen!«

»Diese Schmerzen!«

Sabine stand auf.

»Du wirst jetzt meine Wohnung verlassen. Ich bestehe darauf!«

Rüdiger vergaß für Sekunden die schrecklichen Magenschmerzen.

»Sabine, wir lieben uns doch! Wir haben uns doch geschworen, es ihnen allen zu zeigen! Hast du das vergessen?«

»Nein, ich habe das wahrhaftig nicht vergessen, Rüdiger. Ich nicht, aber du hast mich zerbrochen.«

Er stand vor ihr, hilflos, tief verwundet.

»Ich soll also wirklich gehen?«

»Ja!«, sagte Sabine fest.

»Für immer?« fragte Rüdiger kläglich.

»Ja, Rüdiger, es war wohl doch nicht richtig, was wir getan haben.«

»Du bist meine größte Liebe.«

»Du bist noch so jung, du wirst es wieder packen, Rüdiger. Ich muss dich rauswerfen, sonst verliere ich diese Wohnung auch noch!«

»Oh!«

»Du wirst gehen?«

»Oh, Sabine, Sabine!«, stammelte Rüdiger.

»Hör auf, so zu jammern! Es hat keinen Zweck. Ich ändere meine Meinung nicht mehr. Das ist sicher, verstehst du das endlich? Geh jetzt! Auf der Stelle!«

Er war tief erschrocken, und dann die Schmerzen! Rüdiger kam gar nicht richtig zum Nachdenken. Nur eins wusste er mit Bestimmtheit: Sie wollte ihn nicht mehr!

»Sabine, ich ändere mich. Wirklich!«

»Nein«, schrie sie ihn an. »Geh zu deiner Familie zurück! Geh doch endlich!« Sie legte die Hände vor das Gesicht.

Rüdiger stand mit hängenden Schultern da. Er konnte ihr nichts Liebes mehr sagen. Sie hörte ihm nicht mehr zu. Er musste gehen. Dann drehte er sich um. Nicht einen Augenblick dachte er daran, seine Sachen mitzunehmen. Er war viel zu sehr betroffen, um an so etwas zu denken.

Sabine kam erst wieder zu sich, als schon lange die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war.

Wütend sprang sie auf.

»Nicht mal seine Sachen kann er packen«, schimpfte sie vor sich hin. Dann riss sie die Schränke auf und suchte alles zusammen, was ihm gehörte. Auch seine Geschenke steckte sie in die Koffer. Nichts, aber auch gar nichts durfte mehr von ihm zurückbleiben! Alles sollte fort. Dabei rollten ihr die Tränen über das Gesicht.

Rüdiger stolperte auf die Straße. Er fing sich wieder. Die Schmerzen brachten ihn fast um.

»Sieh dir mal den Besoffenen an! Schon am frühen Tag torkelt der herum.«

Er hörte die Worte. Doch er konnte nichts dagegen unternehmen. Es war ihm auch gleichgültig.

Man hatte ihm das Herz gebrochen. Für ihn hatte das Leben keinen Sinn mehr. Alles war so dunkel für ihn geworden. Es war sogar so schlimm, dass er nicht mal mehr ans Trinken dachte. Zum ersten Mal saß der Schock so tief, dass er es vergaß, wie sehr er doch im Grunde nach Alkohol verlangte.

Sabine hatte ihn verstoßen! Das Leben war für ihn sinnlos geworden, absolut zu Ende!

Sollte er wirklich nach Hause gehen? Dort hatte man nie Verständnis für ihn gezeigt. Im Gegenteil, sie hatten ihn noch ausgelacht und verhöhnt. Seine Liebe hatten sie mit Füßen getreten.

Nein, dorthin konnte er unmöglich gehen! Und in diesem Zustand hätte man ihn gewiss auch nicht aufgenommen. Und was vielleicht noch viel schlimmer war, man hätte es Sabine angelastet. Das konnte er ihr einfach nicht auch noch antun.

»Ich muss für immer aus ihrem Leben verschwinden. Dann wird sie Ruhe und Frieden finden. Ich brauche auch Ruhe und Frieden. Ich kann nicht mehr!«

Die Häuser zu beiden Seiten schienen ihn zu zerdrücken. Er hielt es hier in der Stadt nicht mehr aus. Ein Bus stand gerade an der Ecke. Rüdiger stieg ein und ließ sich gleich auf einen Platz fallen, ohne eine Fahrkarte zu kaufen. Der Bus rumpelte los. Rüdiger wusste noch nicht mal, wohin er fuhr. Traurig starrte er aus dem Fenster. Irgendwann sah er Felder und einen Wald.

Der Bus hielt.

»Endstation! Alles aussteigen!«

Automatisch erhob er sich, setzte Fuß vor Fuß. Und dann waren da auch wieder die wilden Schmerzen in seinem Magen. Er krümmte sich. Ganz allein wanderte er auf der Landstraße entlang.

»Ich halte das nicht mehr aus! Es bringt mich noch um. Ich kann bald nicht mehr!«

Verzweifelt stöhnte er auf, lehnte sich immer wieder an einen Baum. Doch die Schmerzen stiegen fast ins Unerträgliche.

Der blaue Himmel über ihm, die Vögel, alles war hier so friedlich. Und er war ein Wrack! Er hatte Sabine nur Unglück gebracht. Rüdiger fühlte Tränen auf seinem Gesicht.

Der junge Mann merkte nicht, dass er leise vor sich hin weinte. Verschwommen sah er die breite Landstraße vor sich. Wohin sollte er überhaupt?

Wohin?

Maria Ansbach hatte alle Einkäufe getätigt. Auch Lydia Winter war zufrieden. Das war wieder hübsch gewesen, sich ins Straßengewühl stürzen zu können. Umso lieber kehrten sie anschließend in die Stille des winzigen Dorfes zurück.

Zur vereinbarten Stunde trafen die beiden Damen wieder zusammen. Man verstaute all die vielen Pakete, und dann machten sie sich auf den Heimweg. Sie plauderten angenehm, und Lydia sinnierte darüber nach, ob sie den Doktor wohl überlisten konnte, heute Abend mit ihr Schach zu spielen. Sie musste sehr raffiniert vorgehen. Er konnte so listig sein.

Beide sahen den Fußgänger schon aus weiter Ferne. Die Fahrbahn war gerade und niemand kam ihnen entgegen. Die Sicht war ausgezeichnet. Sie dachten sich nichts dabei, dass jemand ganz allein hier spazieren ging. Und Maria Ansbach dachte sich auch nichts dabei, als der Mann stehenblieb. Er wollte wohl auf die andere Straßenseite, hörte dann das Auto und blieb stehen.

Frau Ansbach drosselte sogar noch das Tempo, und dann sah sie in letzter Sekunde, wie der Mann sich umdrehte und sich direkt vor ihren Wagen fallen ließ.

Rüdiger hatte mit dem Leben Schluss machen wollen. Und so hatte er sich, als er das Auto kommen hörte, umgedreht. Als es nah genug war, hatte er sich einfach fallen lassen.

Die Räder kreischten auf. Bremsen quietschten. Für Sekunden waren die beiden Damen wie gelähmt. Maria Ansbach zitterte am ganzen Leibe.

»Aber das gibt es doch nicht«, stammelte sie immer wieder.

Lydia Winter sprang beherzt aus dem Wagen und lief zurück.

Der Mann lag auf der Straße. Sie kniete bei ihm nieder. Schwer schien er nicht verletzt zu sein.

Sie hob seinen Kopf.

»Können Sie mich hören? Verstehen Sie, was ich rede?«

Maria Ansbach lehnte leichenblass an ihrem Wagen. Die Knie waren ihr ganz weich geworden.

Rüdiger öffnete die Augen.

»Verdammt, es ist ja noch immer nicht vorbei!«

»Was denn?« Lydia Winter war verdutzt.

»Ich will sterben! Lasst mich doch in Ruhe!«

Sie starrte den jungen Mann an.

»Sie haben wohl nicht alle Tassen im Schrank, wie?«

»Warum? Muss ich Sie dazu vielleicht um Erlaubnis bitten?«

»Nein, aber warum haben Sie sich ausgerechnet unser Auto ausgesucht?«

»Weil noch kein anderes vorbeikam.«

Lydia stöhnte.

»Das ist ja eine schöne Bescherung. Nun gut, dann werden wir mal die Polizei verständigen.«

Er umklammerte ihren Arm.

»Nein, ich flehe Sie an! Tun Sie das nicht! Bitte!«

»Aber ich will mir nichts vorwerfen lassen. Nachher heißt es, ich hätte Fahrerflucht begangen. Nein, nein!«

Maria Ansbach kam langsam näher.

»Bitte, ich will niemandem Schwierigkeiten machen. Ich flehe Sie an!«

»Maria, was meinen Sie?«

Noch immer zu Tode erschrocken, blickte die Haushälterin den jungen Mann an.

»Er sieht gar nicht gesund aus.«

»Das habe ich auch schon bemerkt«, sagte Frau Winter lakonisch. Sie biss sich auf die Lippen.

»Wenn er keine Polizei will, können wir wohl auch darauf verzichten, Frau Winter.«

»Aber wir können ihn hier auch nicht liegenlassen. Das geht auf keinen Fall!« Maria Ansbach wandte sich an Rüdiger.

»Wohin können wir Sie bringen, junger Mann? Das ist das Mindeste, was wir für Sie tun können.«

Rüdiger dachte an Sabine. Dann schlossen sich seine Lippen. Nein, das konnte er nicht. Außerdem hatte sie ihn ja wie einen Hund verjagt.

»Lassen Sie mich hier liegen!«, sagte er mit schwacher Stimme. »Bitte!«

Lydia erhob sich.

»Das ist Unsinn, das können wir auf keinen Fall tun! Sie könnten dann vielleicht noch wirklich angefahren werden.«

Maria blickte sie an.

»Was nun?«

»Nehmen wir ihn mit! Dr. Burgstein wird Rat wissen. Er weiß immer Rat. Und außerdem soll er sich den Burschen ansehen und feststellen, ob ihm auch wirklich nichts passiert ist.«

»Ja, das wird wohl das Beste sein«, meinte auch Frau Ansbach.

»Können Sie aufstehen?«, fragte Lydia Winter.

»Ich glaube schon«, erklärte Rüdiger. Doch als er es versuchte, brach er wieder zusammen. »Mein Bein«, jammerte er hilflos.

Die beiden Damen hatten längst seinen Atem gerochen und dachten sich ihren Teil.

»Verstaucht?« Maria Ansbach versuchte, ihn aufzurichten.

»Das weiß ich nicht.« Rüdiger fiel wieder um. Die beiden Frauen halfen ihm resolut auf die Beine und stützten ihn. Er jammerte fürchterlich, als sie ihn in den Wagen bugsierten. Endlich hatten Sie es geschafft. Maria Ansbach war noch so durcheinander, dass sie nicht fahren konnte. Die resolute Lydia nahm ihren Platz ein.

»Keine Sorge, junger Mann! Wir entführen Sie nicht. Gleich wird sich ein Arzt um Ihre Wehwehchen kümmern.«

»Oh, Mann, egal was ich auch anpacke, es wird immer schlimmer und schlimmer. Ich sitze ganz tief im Dreck!«

»Das glaube ich auch.«

Sie brauchten jetzt nicht mehr lange zu fahren, bis sie ihr Ziel erreicht hatten.

Dr. Burgstein stand zufällig am Fenster seiner Praxis, als der Wagen ankam. Wie wunderte er sich, als er Lydia Winter auf der Fahrerseite aussteigen sah. Das war so ungewöhnlich, dass er sich gleich Gedanken machte und annehmen musste, der guten Frau Ansbach sei etwas zugestoßen. Also wollte er sich sogleich vergewissern. Doch Lydia war schneller.

In der Diele trafen sie aufeinander.

»Liebe Lydia, was ist denn passiert? Wo ist Frau Ansbach?«

»Keine Sorge, die wird sich bald wieder erholen. Es ist nämlich so, wir haben einen jungen Mann auf der Landstraße angefahren.«

»Du liebe Zeit!«

»Er ist im Wagen. Er braucht Hilfe.«

Der junge Arzt war entsetzt.

»Sie haben Fahrerflucht begangen?«

Lydia lächelte ihn an.

»Das Sie so etwas von mir denken, das wird Sie eine Menge Schachabende kosten, mein Lieber.«

Burgstein musste unwillkürlich lachen. Doch dann liefen sie zusammen zum Wagen zurück. Jetzt war auch Maria Ansbach vom Rücksitz ausgestiegen. Besorgt blickte der junge Doktor sie an.

»Alles in Ordnung?«

»Es ist mir so peinlich«, flüsterte sie leise. »Ich mache Ihnen nur Unannehmlichkeiten, Herr Doktor.«

»Quatsch«, sagte Lydia, »der Junge wollte Selbstmord begehen und hat sich direkt vor unsere Räder geworfen. Ich bin Zeugin.« •

Dr. Burgstein war erleichtert.

»Brauchen Sie meine Hilfe, liebe Maria?«

»Nein, nein!« Maria Ansbach wehrte ab.

»Sie braucht einen Schnaps für Ihre Nerven, ich übrigens auch«, lachte Lydia.

»Sie wissen ja, wo die Bar in meinem Hause ist.«

»Ganz recht!«

»Aber zuerst kümmern wir uns mal um den jungen Mann.«

Vater Burgstein musste noch kommen, und auch Willy half. Dann brachte man Rüdiger ins Sprechzimmer. Die zwei Damen mussten erst einmal ihre Nerven stärken. Dabei erzählten sie dann den übrigen Hausbewohnern, wie alles passiert war. Und alle waren sehr froh, dass es für die gute Maria noch so gut abgegangen war.

Inzwischen leisteten Britta und die Krankenschwester Agnes Schöller Hilfe in der Sprechstunde. Dr. Burgstein brauchte nicht lange, um festzustellen, dass der junge Mann das rechte Bein gebrochen hatte.

»Ein glatter Bruch ist das. Es ist nicht so schlimm. Aber für einige Zeit müssen Sie schon einen Gipsverband tragen. Ich werde das Bein einrichten und den Gips sogleich anlegen.«

Britta war schon dabei, die Gipsbinden zu wässern. Dann ging alles ziemlich schnell.

Noch war der Gips nass und weich, und Britta legte ein Gummituch auf die Liege. Hier sollte der Patient sich erst einmal erholen. Die anderen Damen gingen in die Küche und wollten sich mit Kaffee stärken, auch der Doktor und sein Patient sollten eine Stärkung erhalten.

Dr. Burgstein setzte sich zu dem jungen Mann.

»Wie ist Ihr Name?«, erkundigte er sich.

»Rüdiger!«

»Und weiter?«

»Das möchte ich nicht sagen«, sagte Rüdiger leise.

Dr. Burgstein sah ihn verdutzt an.

»Junger Mann, Sie müssen mir schon Ihren Namen und Ihre Adresse nennen.«

»Nein!« Rüdiger weigerte sich.

»Und warum nicht?« Dr. Burgstein verstand das nicht.

»Weil ich nicht will, dass es jemand erfährt.« Sein Gesicht verfärbte sich grünlich. Langsam bekam Rüdiger Entzugserscheinungen. Dr. Burgstein sah ihn sich genau an.

»Wie stellen Sie sich das vor?«

»Ich wollte nichts anderes als sterben, und jetzt flicken Sie mich wieder zusammen«, beklagte sich Rüdiger.

»Das ist meine Pflicht«, erklärte der Arzt.

»Pflicht«, schimpfte Rüdiger, »aber ich habe Sie nicht darum gebeten!«

»Sie wollten also sterben?«

»Ja!«

»Nun, dann tut es mir leid, Ihnen sagen zu müssen: Solange Sie sich in meiner Nähe befinden, muss ich Sie daran hindern, junger Mann!«

Rüdiger starrte ihn böse an.

»Ich kenne Sie nicht, und Sie kennen mich nicht!«

»Nein, aber ich bin Arzt, ich habe meinen Eid geschworen, und ich werde ihn halten.«

»Oh, Gott«, stöhnte Rüdiger. »Ich halte es einfach nicht mehr aus!«

Burgstein erhob sich. Da er genau wusste, dass der junge Mann in dieser Lage im Augenblick nichts anderes tun konnte, als auf dem Sofa liegen zu bleiben, konnte er sich ruhig entfernen.

In der Küche traf er Agnes und bat diese, dem jungen Mann eine Tasse Kaffee zu bringen und bei ihm zu bleiben, bis er zurück wäre.

»Wird gemacht!«

Britta sagte: »Kann ich eine Karteikarte anlegen?«

»Noch nicht!«

»Warum denn nicht?«

»Er will mir seinen Namen nicht nennen.«

»Aber ...«

Lydia blinzelte den Doktor an.

»Da haben wir Ihnen wohl eine harte Nuss ins Haus geschleppt, wie?«

Dr. Burgstein fühlte sich zum ersten Male ein wenig hilflos.

»Wenn ich ehrlich sein soll, dann weiß ich wirklich nicht mehr weiter.«

Seine Mutter blickte ihn erschrocken an.

»Aber was soll jetzt geschehen?«

»Tja, das ist wirklich eine gute Frage.«

»Er wird wohl noch ganz durcheinander sein und nicht wissen, was er tut. Sicher wird er uns morgen alles erzählen, Achim!«

Dr. Burgstein sah seine Mutter an.

»Du willst also, dass er bleibt?«

»Aber Junge, was denn sonst?«

Der Doktor lächelte.

»Du bist so gut! Ständig halse ich dir Patienten auf, und du musst sie dann pflegen.«

Lydia hörte die ganze Zeit schweigend zu.

»Wenn Sie wollen, kann ich ihn ja mitnehmen. Ein Süppchen kochen und was noch so anfällt, schaffen Johanna und ich auch noch.«

»Damit ist es leider aber noch nicht getan. Ich fürchte, morgen fangen erst die Schwierigkeiten so richtig an.«

»Was willst du damit sagen?«, wollte nun auch der Vater wissen.

»Er ist ein Alkoholiker.«

»Oh!« Alle waren fassungslos.

»Tatsächlich«, meinte Lydia, »das hab ich ganz vergessen. Mir fiel doch gleich auf, dass er nach Alkohol stank. Sie meinen also wirklich?«

»Ja, alle Anzeichen sprechen dafür. Er müsste medizinisch betreut werden.«

»Das wird er ja hier!«

Sorgenvoll blickte der Arzt seine Lieben an.

»Ich weiß ja, dass ihr mir immer helfen wollt, und ihr seid wunderbar darin. Aber das hier ist etwas ganz anderes. Ihr könnt euch das nicht vorstellen. Wenn die Entzugserscheinungen erst so richtig einsetzen, dann ist das die Hölle!«

»Und wie lange wird das anhalten?«, wollte die Mutter nun wissen.

»Eine Woche wird es ganz schlimm sein. Dann flacht es langsam ab.«

»Du hast doch all die vielen schlauen Bücher. Kannst du ihm denn nicht helfen?«

Dr. Burgstein war verblüfft.

»Du meinst, man sollte es mit dem Naturheilverfahren versuchen?«

»Das ist doch so wirksam, mein Junge. Du musst es einfach versuchen. Und wir haben keine Angst. Wir haben doch auch Schwermütige wieder hingekriegt.«

Dr. Burgstein legte den Arm um seine Mutter.

»Wenn ich dich nicht hätte!«

Frau Burgstein zwinkerte ihm zu: »Außerdem müssen wir es schon Marias wegen tun. Sie fühlt sich nämlich verantwortlich.«

An Frau Ansbach hatte er in der Tat die ganze Zeit nicht mehr gedacht. Jetzt ging er zu ihr. Der Alkohol hatte ihre Nerven wieder ein wenig beruhigt.

»Sie brauchen sich überhaupt keine Vorwürfe zu machen, meine Liebe. Er wollte sich das Leben nehmen und hat sich Ihr Auto dafür ausgesucht. Sie haben zum Glück sehr schnell reagiert. Sie haben dem jungen Mann eigentlich das Leben gerettet.«

Sie blickte ihn zweifelnd an.

»Das sagen Sie doch jetzt alles nur, um mich zu trösten, Herr Doktor!«

»Nein, nein, Frau Ansbach. Es ist wirklich die Wahrheit!«

Sie atmete auf.

»Wenn Sie es so sehen, dann will ich gern mithelfen, dass er wieder ganz gesund wird.«

»Jetzt sind Sie wieder die alte Maria Ansbach, so wie ich sie mag!«

»Ach, Herr Doktor!«

Lydia erhob sich.

»Ich glaube, ich muss mich jetzt langsam auf den Weg machen, sonst denkt Johanna noch, ich sei unter die Räuber gefallen und lässt mich suchen.«

»Soll ich Sie heimbringen?«, bot Dr. Burgstein ihr an.

Lydia sagte: »Nein, nein, Sie haben hier jetzt genug zu tun.«

»Aber Ihre Einkäufe?«

»Ich komme morgen mit dem Wagen vorbei und hole sie ab.«

»Ich bringe Sie aber gern!«

»Das weiß ich doch, aber Sie werden jetzt hier gebraucht. Vielen Dank!«

Der Doktor begleitete sie nach draußen. Lydia reichte ihm die Hand.

»Sie lassen es mich doch wissen, wenn Sie Hilfe brauchen, lieber Achim?«

»Haben Sie mich schon mal schüchtern gesehen, wenn es darum ging, meine Schwestern zu entlasten?«

»Nein, in der Tat. Ich bin dumm, ich brauchte das wirklich nicht noch zu betonen.«

»Vielen Dank, Lydia, dass Sie dabei waren. Der Himmel scheint ein Einsehen mit mir zu haben. Ich weiß nicht, was mit Frau Ansbach passiert wäre, wenn sie allein gewesen wäre. Bestimmt waren das furchtbare Minuten nicht wahr?«

»Das kann man wohl sagen!«

Dann ging Lydia Winter.

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