Читать книгу Der Riesen Arztroman Koffer Februar 2022: Arztroman Sammelband 12 Romane - Sandy Palmer - Страница 23

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Natürlich war der Bann noch nicht gebrochen, und der arme Kerl litt schrecklich. Aber er lernte schnell, dass er durch dieses Jammertal hindurch musste, und dass man ihm dabei helfen wollte. Alle waren so nett zu ihm und standen ihm auch sofort bei, wenn er seine schrecklichen Anfälle bekam. Und weil er nicht ganz verdursten wollte, trank er schließlich sogar den Tee. Und er lernte sehr schnell, je mehr er davon in seinen Magen bekam, umso erträglicher wurden die Entziehungsschmerzen. Aber auch die Wasserbehandlung tat ein Übriges. Vater Burgstein war darin sehr gewissenhaft. Und Willy half ihm. Er besaß ja Bärenkräfte und konnte den jungen Mann gut festhalten.

Rüdigers ganzer Körper war in Aufruhr, und er konnte von Glück reden, dass sein Herz noch nicht angegriffen war.

Und dann die Spazierfahrten.

Dr. Burgstein hatte recht. Als die zwei Frauen das zweite Mal Rüdiger abholen wollten, lehnte er das grundweg ab. Aber die anderen waren ja heilfroh, dass sie ein paar Stunden ohne Rüdiger sein konnten. Sie konnten sich mal erholen und mussten sich nicht pausenlos mit ihm abgeben. Darum war es ja auch so schwer, eine Entziehungskur mit den eigenen Angehörigen durchzuführen. Sie hatten einfach nicht die Kraft, Tag und Nacht parat zu stehen, und das viele Wochen lang.

»Ich will aber nicht«, keuchte Rüdiger.

»Wir fressen Sie nicht.«

»Sie lassen mich wieder stundenlang allein im Wald stehen«, zeterte er. »Das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen.«

»Nein, das brauchen Sie wirklich nicht«, meinte Dr. Burgstein ruhig. »Wenn Sie mir Ihren Namen und Ihre Adresse geben, werde ich Sie sogleich heimbringen lassen, und Sie entfliehen den erbarmungslosen Damen.«

Rüdiger starrte ihn an. Heim? Zu Sabine!

Er presste die Zähne zusammen.

»Wenn ich wieder gesund bin, werde ich mich rächen«, sagte er zu Lydia Winter.

Sie schoben den Rollstuhl fröhlich vorwärts. Aber sie ließen ihn nicht allein im Wald stehen, wie er es befürchtet hatte. Unmissverständlich erklärten sie ihm: »Wenn Sie uns wieder die Ohren vollschreien, gehen wir! Wir können aber auch zusammen bleiben und uns einen vergnügten Nachmittag machen.«

Rüdiger grinste zum ersten Mal.

»Sie haben gewonnen!«

Lydia jubelte. Er war erstmals zu einem Gespräch bereit. Und so dauerte es nicht lange, da saßen sie gemütlich auf einer Bank im Walde - Rüdiger im Rollstuhl - und unterhielten sich prächtig.

Lydia Winter brachte sehr schnell das Gespräch auf den jungen Doktor und erzählte Rüdiger, dass er ja großes Glück habe, dass er bei diesem gelandet sei. Und er könne dem jungen Doktor wirklich vertrauen. Wenn ihn einer heilen könne, dann sei es Dr. Burgstein.

»Sie reden, als sei er ein Heiliger.«

»Das ist er zwar nicht, aber er ist ein großartiger Mann.«

Und schon erzählten sie, was sie alles über ihn wussten. Der junge Mann hörte sprachlos zu.

»Sie glauben, er kann mir helfen?«

»Wenn Sie mitmachen!«

Er blickte auf seine Hände.

»Wenn ich nun aber gar nicht wieder gesund werden will?«

Sie blickten sich erschrocken an.

»Soll das heißen, Sie wollen so weiterleben?«

»Sie meinen, mich zu betrinken?«

»Ja!«

»Nun, das habe ich in der Tat vor. Was soll ich denn noch auf dieser Welt? Niemand liebt mich! Alle haben mich verstoßen, rausgeschmissen. Ich habe keine Arbeit, keine Freunde, keine Liebe. Nichts mehr!«

Lydia dachte eine Weile darüber nach.

»Und Sie glauben, die Schuld liegt bei den anderen?«

Rüdiger starrte sie an.

»Sie haben wohl noch nie darüber nachgedacht, wie widerlich ein betrunkener Mann wirkt? Wie gemein und haltlos er sein kann? Wie er anderer Leben rücksichtslos zerstört und nur sein Leben und sein Trinken ihm wichtig ist? Daran haben Sie wohl nie gedacht, wie?«

»Aber Lydia«, meinte Johanna erschrocken. »So hart dürfen wir mit dem jungen Mann aber nicht ins Gericht gehen.«

»Nein? Er will ja nur unser Mitleid! Aber das kriegt er nicht, von mir nicht! Ich helfe gern, wirklich, das weißt du, Johanna. Aber wenn einer Mitleid will und alle anderen als böse hinstellt, du dann habe ich nur noch Verachtung für diesen Menschen übrig.«

Rüdiger bekam es mit der Angst. Er hatte tatsächlich auf Mitleid gehofft. Und er hatte wirklich gedacht, die zwei alten Tanten kriege ich jetzt auf andere Art und Weise herum. Mitleid zieht bei den alten Leutchen immer. Aber diese hier schienen aus einem anderen Holz geschnitzt zu sein. Sie hielt ihm einen Spiegel vor, und das war in der Tat sehr unangenehm.

»Haben Sie noch Fragen, junger Mann?«

»Ja!«

»Nun, ich bin ganz Ohr!«

»Was habe ich denn davon, wenn ich wieder geheilt bin? Es ist doch alles kaputt! Verstehen Sie denn nicht?«

Lydia blickte ihm tief in die Augen.

»Wenn ihr Mädchen Sie wirklich so geliebt hat, wie Sie behaupten, wenn ihre Liebe wirklich so großartig war, dann wird sie auch jetzt noch auf Sie warten. Und sie wird froh und glücklich sein, wenn Sie gesund zurückkehren.«

Er starrte sie an.

»Das sagen Sie doch nur so!«

»Nein, es ist die Wahrheit. Sie hat Sie nur verstoßen, um Sie zu retten.« Lydia Winter behauptete das einfach.

Wie von ferne hörte er die Worte von Sabine. Ja, so ähnlich hatte sie auch gesprochen. Sie hatte ihn fortgeschickt, um ihm zu helfen!

Er lächelte.

»Sie meinen, ich soll es wirklich noch einmal anpacken?«

»Aber sicher, junger Mann.«

Er betrachtete sie. Plötzlich war Lydia in seinen Augen eine reizende alte Dame.

»Was wissen Sie schon von den Stürmen des Lebens«, meinte der junge Bursche herablassend. »Sie leben hier in dem kleinen Städtchen, haben keine Sorgen und wissen gar nicht, wie es draußen in der Welt aussieht«

»Hoho«, lachte Johanna, »das ist aber wirklich stark, junger Mann. Dass wir den Krieg mitgemacht haben, ist wohl ein Klacks, und dass wir anschließend mühsam alles wieder aufbauen mussten, zählt auch wohl nicht. Und was meine Freundin ist, die war mal eine berühmte Sängerin und hat sich ihr Vermögen ersungen. Was das heißt, können Sie sich ja kaum vorstellen. Man muss kämpfen, arbeiten und nochmals arbeiten. Ja, man muss hart arbeiten, damit man etwas erreicht, und auch jetzt geben wir noch nicht auf, wie Sie sehen.«

Er war verwirrt.

»Ich verstehe Sie nicht!«

»Nun, zum Beispiel geben wir Sie nicht auf. Glauben Sie, wir laufen nur zum Spaß mit Ihnen durch die Gegend?«

Und jetzt bekam er eine Strafpredigt, die sich gewaschen hatte. Dass man nur aus Mitleid mit dem Doktor und seiner Familie ihn spazieren fahre, und dass er wirklich ein dummer Bub sei, ihnen so viel Ärger zu machen, und dann noch nicht mal so viel Vertrauen zu besitzen und dem jungen Arzt die Wahrheit über sich zu erzählen. Oder ob er vielleicht so reich sei, und später alles aus eigener Tasche bezahlen zu können?

Rüdiger wurde leichenblass. Seine Unterlippe zitterte.

»Wie meinen Sie das?«

»Wenn Sie uns Ihren Namen angeben, dann kann der Herr Doktor Ihrer Krankenkasse Bescheid sagen. Bis jetzt bezahlt der Doktor ja alles aus eigener Tasche, mein Lieber. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht?«

»Nein!«

»Ach, das tut man wohl heutzutage nicht mehr, wie? Man nimmt nur noch und gibt nichts zurück. Und so war es wohl auch mit diesem Mädchen, nicht wahr? Wer hat denn immer nur gegeben, junger Mann?«

»Das war sie«, sagte er zitternd.

»Und da wundern Sie sich, dass sie am Schluss von Ihnen die Nase voll hatte?«

Er legte die Hände vors Gesicht.

»Bitte, hören Sie auf!«

Johanna meinte begütigend: »Ist es jetzt nicht genug?«

Lydia dachte an Dr. Burgstein und an seine Worte, dass man Härte mit Härte begegnen muss, nur dann findet man den Weg zur Heilung. Sie durfte Rüdiger jetzt nicht schonen. Er musste erst ganz tief unten sein, dann würde er sich vielleicht läutern, und seiner Gesundung stand nichts mehr um Wege. Lydia war alt und lebensklug, und sie fühlte weder Triumph noch Freude dabei. Außerdem zeigte sie Rüdiger deutlich, dass sie ihn trotz allem mochte und bereit war, ihm zu helfen.

Jetzt erzählte sie ihm auch, wie schwer der junge Doktor es noch immer habe.

»Warum schickt er mich dann nicht fort? Warum hat er mich dann behalten?«, fragte Rüdiger.

»Das ist seine Pflicht, und er ist nun mal so. Seine Familie und die anderen, die noch in dem Haus wohnen, das sind alles Menschen, die gibt es schon bald gar nicht mehr auf dieser Welt. Wenn es in Zukunft solche Menschen nicht mehr gibt, die mehr an das Wohl der anderen und nicht nur an ihren Gewinn denken, dann wird unsere Welt arm werden. Verstehen Sie? Dann werden sich die Menschen bald gegenseitig wegen eines kleinen Gewinns töten. Wir brauchen solche Menschen, wie der Doktor einer ist, und wir sind dem Herrgott jeden Tag dankbar dafür, dass wir den jungen Doktor hier bei uns haben. Deswegen haben wir es uns auch zur Lebensaufgabe gemacht, ihm soweit zu helfen, wie es in unserer Macht steht.«

Lange blieb es still zwischen den drei Menschen.

»Was soll ich denn tun?«, flehte Rüdiger.

»Haben Sie nur einfach Vertrauen!«

In Rüdigers Körper tobte noch immer ein schrecklicher Kampf. Vielleicht war es das, was ihm die ganze Zeit gefehlt hatte: Die Wahrheit! Er hatte es einfach nicht wahrhaben wollen und darum immer wieder getrunken.

»Wer trinkt, ist feige!«

»Hören Sie auf!«, flehte Rüdiger sie an.

»Sehen Sie das ein?« Lydia war unerbittlich.

»Ja, ja!«

»Mit Alkohol kann man keine Probleme lösen. Im Gegenteil, dadurch bekommt man noch welche dazu!«

«O nein, man vergisst alles!«, beteuerte Rüdiger.

»Ach! Wirklich?«, fragte Johanna. Er blickte sie unsicher an. »Sie vergessen vielleicht für Stunden, aber die übrige Zeit? Und Ihre Freundin? Hat sie auch vergessen?«

Rüdiger sagte gequält: »Nein, ich glaube, sie hat sich die ganze Zeit über schrecklich für mich geschämt.«

»Und Sie?«, bohrte Johanna weiter.

»Ich?« Rüdiger verstand die Frage nicht.

»Ja, Sie, was taten Sie, wenn die Erinnerung wiederkam?«

»Ich konnte das nicht ertragen und hab dann wieder getrunken. Um allem zu entfliehen. Verstehen Sie? Alle Leute waren so gemein zu mir.«

»Statt dass sie ihnen allen beweisen, dass sie im Unrecht sind, haben Sie Ihre Freundin im Stich gelassen!«

»Ja!« Tränen rollten über sein Gesicht. »Ja!« Rüdiger weinte jetzt lautlos.

»Wie fühlen Sie sich jetzt?«, fragte Lydia.

»Wieso?«, schluchzte er jämmerlich.

»Wollen Sie wieder vor Ihren Problemen fliehen?«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Lydia beugte sich vor.

»Wenn Sie mir jetzt sagen, dass Sie wieder fliehen wollen, dann besorge ich Ihnen Alkohol!«

»Lydia«, sagte Johanna ganz entsetzt.

Lydia blickte sie ruhig an.

»Was ist?«, bohrte sie weiter.

Rüdiger dachte, es ist so leicht. Ich sehe es ihr an den Augen an, sie wird es tun. Dann kann ich wieder trinken, und die Schmerzen hören auf. Seine Hände zitterten. Er blickte sie nochmals an.

Und er las in Lydias Augen: Wenn ich sie um Alkohol bitte, dann verachtet sie mich. Dann bin ich nichts mehr wert. Dann bin ich für sie der letzte Dreck!

Rüdiger krümmte sich zusammen.

»Ich warte!«, ertönte Lydias Stimme.

»Wenn ich ...«, stotterte Rüdiger.

Lydia lächelte leicht.

»Ja?«

»Glauben Sie, dass ich es schaffen könnte?«

»Aber sicher«, sagte Lydia weich. »Natürlich werden Sie es schaffen.«

»Und Sie glauben auch, dass Sabine mich wieder lieben wird, wie vorher?«

»Ganz bestimmt!«, versicherte Johanna.

Er straffte sich.

»Dann will ich es versuchen!« Rüdiger sprach diese Worte klar und fest aus.

»Bravo!«

Johanna war richtig erleichtert.

»So, dann fahren wir jetzt heim!«

Rüdiger nickte.

Im Doktorhaus bemerkten alle sogleich die Wandlung im Wesen des jungen Mannes.

»Er wird es schaffen!«

»Hoffentlich!«

»Achim, warum glauben Sie mir nicht?«

»Wissen Sie was, Lydia?« Der Doktor wandte sich Lydia Winter zu. »Wenn er es schafft, sind Sie ein Teufelsbraten!«

Sie lachte glucksend.

»Wissen Sie eigentlich, dass Sie mir das schönste Kompliment meines Lebens gemacht haben?«

Oh, du liebe Zeit, so sieht sie es!, dachte der junge Doktor erschrocken.

Johanna zog Lydia in die Küche. Unterwegs musste sie es unbedingt wissen: »Ich habe eine Frage: Hättest du ihm wirklich Schnaps besorgt?«

Lydia lachte. »Aber nein!«

»Du?«

»Ich wusste, dass er ihn nicht verlangen würde!«

»Woher wusstest du das so sicher?«

»Frag mich was Leichteres!«

»Du bist wirklich unmöglich, Lydia! So benimmt sich eine Dame nicht!«

»Tut mir leid, ich will doch nicht verderben. Vielleicht ziehst du doch wieder nach Hamburg?«

»Damit ich dort versauere? Nee, mich kriegst du nicht mehr von hier weg. Die Geister, die du riefst, wirst du so schnell nicht mehr los!«

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