Читать книгу Der Riesen Arztroman Koffer Februar 2022: Arztroman Sammelband 12 Romane - Sandy Palmer - Страница 44

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Der Junge glühte. Dr. Kayser verordnete fiebersenkende Zäpfchen und beruhigte die besorgte Mutter: „Es ist nichts Schlimmes, Frau Roland. In ein paar Tagen geht es Ihrem Philipp schon viel besser.”

„Danke, Herr Doktor.“ Die Frau atmete erleichtert auf.

„Geben Sie ihm viel zu trinken.”

„Mach’ ich, Herr Doktor.”

„Aber nichts Kaltes”, schränkte der Arzt ein.

„Versteht sich von selbst, Herr Doktor.”

„Und er darf ruhig ordentlich schwitzen.” Sven wandte sich an den zehnjährigen Jungen. „Aber schön zugedeckt bleiben, verstanden.”

„Ja, Herr Doktor”, krächzte Philipp.

„Ich achte schon darauf, Herr Doktor”, sagte Frau Roland. „Wir wollen schließlich keine Lungenentzündung riskieren.”

„In einer Woche kommst du zu mir in die Praxis”, sagte Dr. Kayser zu Philipp.

Der Junge nickte „Da ist ein Popkonzert in zwei Wochen, Herr Doktor. Ich hab’ die Karte schon seit drei Monaten ...”

,,Die brauchst du ganz sicher nicht verfallen zu lassen”, erwiderte Sven lächelnd. „Vorausgesetzt, du bist jetzt mal eine Woche lang vernünftig.”

„Ich tue alles, was Sie sagen, Herr Doktor”, versprach Philipp hoch und heilig.

„Ich schreibe Ihnen noch etwas für seinen Hals auf”, sagte Sven zu Frau Roland. Er gab ihr das Rezept. „Wo kann ich mir die Hände waschen?”

„Hier, Herr Doktor.” Frau Roland ging vor, führte ihn in ein kleines Bad, in dem eine große Waschmaschine zu viel Platz einnahm. An einer Wäscheleine hingen Kinderhemden und Damenunterwäsche. Nichts von einem Mann. Frau Roland war Witwe. Eine willensstarke, zähe Frau, die das Leben auf bewundernswerte Weise meisterte. Sie reichte Sven ein frisches Handtuch. „Ich habe zwei Wochen Urlaub genommen, damit ich Philipp pflegen kann”, sagte sie.

„Er ist bald über' m Berg.”

„Danke, dass Sie so rasch gekommen sind, Herr Doktor.”

„Sollten Sie mich noch einmal brauchen, rufen Sie mich an”, sagte Sven Kayser. „Ich glaube aber nicht, dass es nötig sein wird.”

„Wir kommen in einer Woche in Ihre Praxis, Herr Doktor.”

Sven holte seine Bereitschaftstasche und verließ die Wohnung.

Als er aus dem Haus trat, vernahm er das hässliche Geräusch, das entsteht, wenn Blech über Blech schrammt, und er stellte — wenig erfreut — fest, dass das eine Blech zu seinem Wagen gehörte und das andere zu einem schäbigen alten VW Käfer, der von Aufklebern, die die Roststellen verdecken sollten, übersät war.

Ein langhaariger Bursche stieg fluchend aus dem VW.

Sven hatte im Prinzip nichts gegen langes Haar bei Männern. Jeder sollte die Frisur tragen, von der er glaubte, dass sie am besten zu ihm passte. Der Grünwalder Arzt konnte jedoch nur wenig bis gar kein Verständnis für eine solche Ungepflegtheit aufbringen. Der Mann war unrasiert, hatte keine sauberen Hände und Fingernägel mit pechschwarzen Trauerrändern. Seine Raulederjacke glänzte an den abgewetzten Stellen speckig, und seine engen Jeans hatten mehr Schmutzflecken als der Volkswagen Aufkleber. So musste man doch wirklich nicht aussehen!

„Verdammter Bockmist!”, sagte der Schmuddelige. Svens Auto hatte an der linken Seite mehrere lange, tiefe Kratzer.

„Ist das Ihr Wagen?”, fragte der Schmuddelige.

„Allerdings.”

„Tut mir leid. Ich wollte einparken ...”

„Und dabei haben Sie meinen Wagen übersehen”, meinte Sven trocken.

„Nicht übersehen. Ich bin ja schließlich nicht blind, aber... Na ja, was soll’s. Das kann jedem mal passieren ...“

Sven Kayser nickte „Wenn man unkonzentriert ist und nicht aufpasst.”

„Ich hab’ schon gesagt, dass es mir leid tut, Mann, okay? Halten Sie mir jetzt bloß keine Gardinenpredigt. Auf so was steh’ ich nämlich nicht. Hab’ da überhaupt keinen Bock drauf. Sind ja nur ein paar Kratzer. Ein bisschen Lack drüber, und Ihre Karre ist wieder wie neu. Ist ’ne reine Versicherungssache.”

„Ich hoffe. Sie sind versichert.”

„Na hören Sie mal, was denken Sie denn, Mann? Klar bin ich versichert. Halten Sie mich für verantwortungslos, bloß weil ich nicht aussehe wie so ein angepasster, spießbürgerlicher Stinker?” Sven Kayser hatte keine Lust, den Mann umzuerziehen. Das wäre ihm vermutlich auch gar nicht gelungen. Das Aussehen des Schmuddeligen drückte seine destruktive Weltanschauung aus, war ein stummer Protest gegen das Establishment, das er zutiefst verabscheute und verachtete. Sven verlangte die Papiere des Mannes und bekam einige verschiedenfarbige zerfledderte Lappen mit Fettflecken und Kaffeespuren. Die Schrift war zum Teil unleserlich, so dass der Arzt Fehlendes mehrmals erst nach gezielten Fragen ergänzen konnte.

„Sie heißen Alexander Hermanns?”

„Sascha Hermanns.”

„Hier steht Alexander — glaube ich.“

„Ach, was da steht, Mann ... Sascha heiße ich. Sascha. Und Hermanns. Mit einem r und zwei n.”

Dr. Kayser schrieb die Daten auf. Und Sascha Hermanns kritzelte Svens Adresse, Telefon und Versicherungsnummer auf ein Stück zerknittertes Papier. Es war nicht auszuschließen, dass er es später irrtümlich wegwarf.

„Sie sind Arzt? ’n richtiger Doktor?”, fragte Sascha Hermanns.

„Ja.”

„Ich wollte auch mal Medizin studieren”, sagte Hermanns, „hab’ das Abi aber nicht geschafft. Dreimal bin ich angetreten und jedes mal durchgerasselt. Da hab' ich drauf gepfiffen. Und das war eine gute Entscheidung.”

Sven war versucht, ihm recht zu geben. Ein Mann wie Hermanns wäre als Arzt ein Alptraum für die Patienten gewesen.

„Sie sollten den Schadensfall gleich morgen Ihrer Versicherung melden, Herr Hermanns.”

„Logo.”

„Wenn Sie jetzt mit ihrem Wagen ein Stück vorfahren würden ...”

„Null Problemo, Doktor.” Hermanns stieg in den Käfer, knatterte drei Meter vorwärts und wartete, bis Sven weg war, dann setzte er den VW in die Parklücke zurück.

Tags darauf rief er in der Grünwalder Arztpraxis an und ließ sich von Schwester Gudrun nicht abwimmeln.

„Det jeht jetz nich”, sagte sie abweisend. „Det is im Aujenblick unmöjlich. Ausjeschlossen. Kommt übahaupt nich in de Tüte. Wie stell’n Se sich denn dat vor? In unserm Wartezimmer herrscht ’ne richtje Übervölkerung. Da kann ick den Herr Doktor doch nich wejen ’ner Sache, was 'ne halbe Privatanjelegenheit is, stören! Ick riskiere doch Iretwejen nich meine schöne Stellung. Det müssen Se schon einsehen, juter Mann. Rufen Se in eener Stunde noch mal an. Noch später wäre noch besser.”

Es passierte nicht oft, dass jemand Schwester Gudrun mit seiner Hartnäckigkeit besiegte. Hermanns schaffte es.

Auf Dr. Kaysers Schreibtisch läutete das Telefon. „Entschuldigung”, sagte er zu der Patientin, die gerade bei ihm war, und griff nach dem Hörer. „Ja?”

„Reißen Se mir nich gleich den Kopf ab, Chef. Ick weeß, dass Se jetzt nich jestört werden wollen, aber ick habe da eenen Mann an der Strippe — so was von hartnäckig, wie der is, hab’ ick übahaupt noch nich erlebt...”

„Ein Patient von uns?”

„Nee.”

„Ist er krank?”

„Ooch nich, Chef. Er will Se jewissermaßen privat sprechen. Wejen det Vorfalls von jestern. Hermanns is sein Name. Ick hab’ ihm zu verklickern versucht, dat das’n janz unjünstijer Moment is, aber...”

„Schon gut. Stellen Sie durch”, verlangte Sven.

„Dr. Kayser?”, kam es gleich darauf durch die Leitung.

„Ja.”

„Hier ist Sascha Hermanns.”

„Was gibt’s, Herr Hermanns?”

„Schlechte Nachrichten für Sie, Doktor.”

„Was für schlechte Nachrichten? Machen Sie schnell, ich habe im Augenblick wenig Zeit.”

Sasche Hermanns lachte. „Geht gut, Ihre Praxis, wie?”

„Also?”

„Ja, also, bei Schadensfällen ist es wichtig, vorab die Verschuldensfrage zu klären.”

„Die ist in diesem Fall ja wohl eindeutig”, sagte Dr. Kayser.

„Das dachte ich zuerst auch, Mann.”

„Sind Sie heute anderer Meinung?”

„Ja, Mann.”

„Und wieso?”, fragte Sven ärgerlich. „Sie haben meinen Wagen beschädigt.”

„Ja, aber nur, weil Sie ihn verkehrswidrig abgestellt hatten.”

„Das ist doch...”

„Ich hab’ ’nen Zeugen, der das bestätigen kann, Mann”, behauptete Sascha Hermanns. „Ihr Wagen war wesentlich mehr als einen Meter vom Randstein entfernt. Er ragte richtig raus aus der Parkkolonne.”

„Das ist nicht wahr. Aber selbst wenn es so gewesen wäre, würde das nichts an dem Tatbestand ändern, dass Ihr VW gegen mein unbesetztes Auto stieß.” Sven hatte weder Lust noch Zeit, sich mit dem Schmuddeligen, der die Schuld auf ihn abwälzen wollte, zu streiten. Er sagte: „Gut, wenn das so ist, übergebe ich die Sache einem Anwalt. Guten Tag.” Er legte auf.

Und noch am selben Tag fuhr er zu Dr. Werner Ullanus.

Als er ausstieg, kam Volker Trauttendorf aus dem Haus. „Herr Dr. Kayser!” Der Mann kam näher. „Was haben Sie mit Ihrem Wagen gemacht? Hatten Sie einen Unfall?”

Sven erzählte die leidige Geschichte in kurzen Zügen.

„Das kriegt Dr. Ullanus für Sie hin”, sagte Trauttendorf zuversichtlich. „Er ist ein großartiger Anwalt.”

„Kommen Sie gerade von ihm?” Trauttendorf senkte den Blick und nickte ernst. „Ja. Daniela und ich haben beschlossen, uns scheiden zu lassen. Dr. Ullanus wird in dieser Angelegenheit meine Interessen vertreten. Unsere Ehe ist kaputt. Die Risse sind zu tief, sie lassen sich nicht mehr kitten. Meine Frau und ich haben uns auseinandergelebt. Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Wir bedeuten einander nichts mehr. Es verbindet uns nichts mehr. Wir sind kein Einzelfall. Viele Menschen gehen mit falschen Vorstellungen, zu großen Hoffnungen oder zu hohen Erwartungen in die Ehe, werden vom Alltag ernüchtert und müssen schließlich erkennen, dass sie überhaupt nicht zueinander passen. Scheidung ist dann die einzige vernünftige Konsequenz.”

„Das mag für kinderlose Ehepaare richtig sein, Herr Trauttendorf”, erwiderte der Grünwalder Arzt. „Aber in Ihrem Fall ...”

„Keine Sorge, wir tragen die Sache nicht auf Barbaras Rücken aus, Dr. Kayser. Dafür lieben wir unsere Tochter beide viel zu sehr. Die Scheidung wird glatt, sauber und fair sein.”

„Sofern eine Scheidung jemals völlig glatt, sauber und fair sein kann.”

„Ich besitze mehrere möblierte Appartements in der Stadt. Daniela kann sich eines aussuchen und gratis darin wohnen. Sie braucht nicht zu arbeiten. Sie wird von mir einen monatlichen Geldbetrag erhalten, der sie jedweder finanzieller Sorgen enthebt. Und sollte sie Probleme haben, bin ich selbstverständlich jederzeit bereit, ihr zu helfen. Sie wird niemals eine Fremde für mich sein. Schließlich hat sie mir ein Kind geschenkt.”

„Ihre Frau liebt Sie noch, Herr Trauttendorf”, sagte Dr. Kayser.

Der Mann machte eine wegwerfende Handbewegung. „Was Daniela für Liebe hält, ist höchstens noch Gewohnheit. Wissen Sie, wann sie aufgehört hat, mich zu lieben? Als Barbara geboren wurde. Von diesem Tag an liebte sie ausschließlich ihr Kind, und ich lief nur noch so daneben her.”

„Sie hatte befürchtet, niemals schwanger zu werden.”

„Das weiß ich. Ich kann mich noch sehr gut an ihre hysterischen Ausbrüche erinnern, Dr. Kayser.”

„Und sie hatte eine sehr schwere Geburt. Deshalb hängt sie so besonders an Barbara und überhäufte sie mit so viel Liebe ...”

„Dass für mich nichts mehr übrigblieb”, knirschte Volker Trauttendorf. „Ach, was soll's. Es ist vorbei.”

„Ist Ihre Liebe wirklich restlos gestorben, Herr Trauttendorf?”, fragte Sven und sah ihn ernst an.

„Dieses Kapitel in meinem Leben ist zu Ende. Ich bedaure das aufrichtig, aber es lässt sich nicht mehr ändern.”

„Was sagt Barbara zu alledem?”, wollte Sven wissen.

„Ein vierjähriges Kind — ich bitte Sie, Dr. Kayser! Die Kleine bekommt das — zum Glück — ja noch gar nicht richtig mit.”

„Wenn Sie sich da mal nur nicht irren, Herr Trauttendorf. Kinder sind von klein auf höchst empfindsame Geschöpfe, die alles, was um sie herum geschieht, sehr genau verfolgen und nachhaltig registrieren.”

„Barbara wird es gut haben bei mir. Es wird ihr an nichts fehlen.”

„Bei Ihnen?”, fragte Dr. Kayser erstaunt.

„Daniela überlässt mir das Sorgerecht, das habe ich schriftlich”, erklärte Volker Trauttendorf mit triumphierender Stimme.

„Das kann ich fast nicht glauben.”

Trauttendorf hob den Kopf. „Zweifeln Sie an meinen Worten?“

„Nein, natürlich nicht, aber Ihre Frau liebt das Kind doch so abgöttisch ...”

„Sie lässt mir Barbara, weil sie begriffen hat, dass es sie maßlos überfordern würde, das Kind großzuziehen. Sie würde das niemals schaffen, und sie ist — dem Himmel sei Dank — so vernünftig, dem Rechnung zu tragen.”

Sven wiegte bedenklich den Kopf. „Ich fürchte, Ihre Frau wird an diesem Verzicht zugrunde gehen, Herr Trauttendorf.”

„Sie wird darüber hinwegkommen. Die Zeit heilt alle Wunden. Das ist nicht nur so dahergeredet, das stimmt wirklich. Im übrigen wird Daniela unsere Tochter sehen können, so oft sie will.”

„Sie sagten vorhin, wenn Ihre Frau Probleme hätte, wären Sie jederzeit bereit, ihr zu helfen.”

Trauttendorf nickte. „Dazu stehe ich voll und ganz.”

„Nun, Ihre Frau hat Probleme, Herr Trauttendorf. Sehr große Probleme sogar.”

„Sie werden sich bessern, wenn wir nicht mehr unter einem Dach leben.”

„Oder sie werden sich verschlimmern”, sagte Dr. Kayser. „Ich habe Ihrer Frau geraten, sich in einem Sanatorium helfen zu lassen.”

„Und? Was hat sie gesagt? Ich würde selbstverständlich die Kosten übernehmen. Egal, wie teuer das ist.”

„Sie will es sich überlegen”, erwiderte Sven. „Ich glaube nicht, dass sie wirklich ernsthaft darüber nachdenkt.”

„Können Sie sie nicht einfach so ...”

„Eine Zwangseinweisung ist nicht möglich, Herr Trauttendorf. Ihre Frau muss schon damit einverstanden sein.”

„Ich werde mit ihr reden”, versprach Volker Trauttendorf. „Und ich ruf’ Sie dann an.”

„Es wäre wirklich sehr wichtig, dass Ihre Frau in einer Spezialklinik behandelt wird.”

„Ich werde sehen, dass ich Daniela davon überzeugen kann”, sagte Trauttendorf und verabschiedete sich.

Wenig später wurde Dr. Kayser von einem eleganten Sekretär in Dr. Ullanus’ Büro geführt. Er machte ihn mit Sven bekannt. Die Männer gaben sich die Hand, und Dr. Wiepke, schmal wie ein

Windhund — begeisterter Marathonläufer, wie Dr. Ullanus sagte — verließ den Raum.

„Nun, mein lieber Dr. Kayser”, sagte der Anwalt mit seiner dröhnenden Bassstimme herzlich, „was kann ich für Sie tun?”

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