Читать книгу Der Riesen Arztroman Koffer Februar 2022: Arztroman Sammelband 12 Romane - Sandy Palmer - Страница 50
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Dr. Achim Wiepke bereitete sich zur Zeit gewissenhaft auf den Marathonlauf in New York vor. Er hatte noch nie daran teilgenommen, ihm stand also eine Premiere ganz besonderer Art bevor. Er freute sich schon sehr darauf.
Es sollte ein grandioses Sportereignis sein, ein Monsterspektakel, ein unvergessliches Erlebnis, an dem mehr als zwanzigtausend Läufer aus der ganzen Welt teilnahmen. Mit Start auf Staten Island und Ziel im Central Park. Vor der beeindruckenden Kulisse von Manhattans Wolkenkratzern.
Dem schmalen Rechtsanwalt war klar, dass er mit einer persönlichen Bestzeit von zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten nie einen Marathonlauf gewinnen konnte — die Siegerzeit lag unter zwei, zehn—, doch das machte ihm nichts aus. Viel wichtiger war ihm, dabei zu sein und Zeiten zu laufen, mit denen er selbst zufrieden sein konnte
Nachdem er seine mittägliche Trainingseinheit in den Isarauen absolviert hatte, fuhr er nach Hause, duschte, zog sich um und kehrte in die Anwaltskanzlei zurück.
Der Schreibtisch im Vorzimmer war ausnahmsweise verwaist. Die Sekretärin war beim Zahnarzt und würde voraussichtlich in zwei Stunden wiederkommen. Als Achim Wiepke sein Büro betreten wollte, drang ein Geräusch aus dem Arbeitszimmer seines Partners, das ihn stutzig machte. Er kehrte um und klopfte an Dr. Ullanus’ Tür.
„Werner?” Er öffnete die Tür. „Werner!”, stieß er im nächsten Moment erschrocken hervor.
Schreibzeug und Telefon lagen auf dem Boden. Dr. Ullanus torkelte durch den Raum. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Sein Gesicht war verzerrt und blass. Er krallte die Finger in seine Brust, rang verzweifelt nach Luft, seine Augen waren weit aufgerissen, und Panik glitzerte in den Pupillen.
„Um Himmels willen, Werner!”, rief Achim Wiepke Er rannte zu seinem Partner, stützte ihn.
Dr. Ullanus sackte röchelnd zusammen. Wiepke schleppte ihn zur ledernen Sitzgruppe.
„Kayser ...”, ächzte Werner Ullanus. „Dr. Kayser ... Schnell, Achim ... Ruf Dr. Kayser an. Du findest seine Nummer im Telefonverzeichnis ... Sag ihm —ich brauche ihn ganz dringend ...”
Achim Wiepke wählte die siebenstellige Nummer der Grünwalder Arztpraxis und informierte atemlos Schwester Gudrun. In Notfällen schaltete Dr. Kaysers zuverlässige Helferin immer blitzschnell. Sie versprach, alles Notwendige unverzüglich in die Wege zu leiten und legte auf. Dr. Wiepke eilte zu seinem Partner zurück.
„Dr. Kayser wird gleich hier sein”, sagte er heiser.
Werner Ullanus ging es sehr schlecht. Er verfiel immer mehr.
„Halte durch, Werner”, keuchte Achim Wiepke aufs höchste besorgt. Er wusste nicht, wie er dem Partner helfen konnte. Werner würde doch nicht — sterben? Er lockerte mit zitternden Fingern Ullanus’ Krawatte und knöpfte den Hemdkragen auf, doch Werner Ullanus verfiel trotzdem immer mehr. Es war schrecklich für Achim Wiepke, nichts tun zu können. Wo blieb nur der Arzt so lange? Wie viele Minuten waren seit dem Anruf vergangen? Wiepke wusste es nicht. Jede einzelne Sekunde war für ihn eine quälende Ewigkeit, die ihn beinahe um den Verstand brachte. Wieder flehte er den Partner an, durchzuhalten. Ullanus’ Gesicht wurde wächsern.
Endlich traf Dr. Kayser ein. „Sieht nach einem Herzinfarkt aus. Ein Krankenwagen ist unterwegs. Als ich zu Mittag mit ihm telefonierte, behauptete er noch, er wäre kerngesund.”
„So schnell kann sich das ändern.” Achim Wiepke schüttelte besorgt den Kopf.
Sven hatte bereits mit der Schockbekämpfung begonnen. Er ließ den Patienten durch einen Tubus Sauerstoff einatmen und lagerte Dr. Ullanus’ Kopf anschließend auf dem Sofa — Dr. Wiepke hatte ihm geholfen, ihn hinüberzuheben — tiefer.
Werner Ullanus reagierte kaum. Seine Haut war blass und kalt. Er stöhnte, röchelte, schien im Brustkorb starke Schmerzen zu haben. Sven zog rasch die Spritze für die Kardiotherapie auf. Nach der Injektion ging es dem Kranken ein wenig besser.
„Er wird durchkommen, ja?”, flüsterte Dr. Wiepke gespannt.
Der Krankenwagen kam. Als man Dr. Ullanus auf die Trage legte, hustete er. Sven sah den blutigen Auswurf und wusste augenblicklich, dass der Anwalt keinen Infarkt erlitten hatte, sondern eine Lungenembolie, ausgelöst durch einen lebensgefährlichen Thrombus. Er spritzte im Wagen ein weiteres Medikament, um einen Infekt zu verhüten. Mehr konnte er für den Patienten nicht tun.
Sie trafen in der Seeberg-Klinik ein. Werner Ullanus wurde sofort vom Klinikchef persönlich in Empfang genommen. Er fragte nach Svens Diagnose.
„Lungenembolie”, antwortete Dr. Kayser.
Dr. Ulrich Seeberg ließ Dr. Rolf Büttner, den Internisten und Herzspezialisten, ausrufen, und die anschließende gründliche Untersuchung des Patienten ergab, dass die Embolie durch einen Herzklappenfehler ausgelöst worden war. So kerngesund, wie er alle Welt glauben machen wollte, war er also doch nicht, dachte Sven, als er davon erfuhr.
Der Chef der Seeberg-Klinik verordnete fürs erste Antibiotika. Schwester Hanna machte sogleich eine entsprechende Notiz auf dem Krankenblatt.
Werner Ullanus war inzwischen viel ruhiger geworden. Die übersteigerte Atemtätigkeit hatte sich verringert, und sein Gesicht war nicht mehr so erschreckend wächsern.
Er sah Sven ernst an. „Ohne meinen Partner und ohne Sie, Dr. Kayser, würde ich jetzt nicht mehr leben.”
Sven musterte den Patienten vorwurfsvoll. „Warum haben Sie heute am Telefon gesagt, Sie wären gesund?”
„Wir leben in einer Zeit, in der Krankheiten verpönt sind, Dr. Kayser. Nur der Gesunde hat im Geschäftsleben Erfolg. Deshalb versuchen die meisten Menschen, ihre Beschwerden nach Möglichkeit zu vertuschen, irgendwie selbst damit fertig zu werden oder sie wenigstens zu verharmlosen. Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?”
Sven schüttelte verständnislos den Kopf. „Man spielt so lange den Gesunden, bis man zusammenklappt.”
„Wer möchte sich schon von einem kranken Anwalt vertreten lassen?”
„Das ist doch Unsinn”, entgegnete Sven. „Jeder kann krank werden. Niemand hat ewige Gesundheit gepachtet.”
„Ihr Herzklappenfehler hat Ihnen heute nicht zum ersten Mal Schwierigkeiten gemacht, nicht wahr?”, sagte Dr. Büttner.
„Naja, hin und wieder hatte ich leichte Probleme.“
„Die Sie jedoch großzügig übergingen”, brummte Dr. Seeberg.
„Ich hatte, ehrlich gesagt, nicht gedacht, dass es mal so ernst werden könnte”, bekannte Werner Ullanus kleinlaut.
„Sie sind gerade noch mal davongekommen”, sagte Sven. „Wenn Sie nun aber nicht vernünftig sind ...”
„Keine Sorge, ich habe nicht vor, diesen deutlichen Wink des Schicksals zu ignorieren.” Dr. Ullanus' Blick versuchte die Gesichter der Ärzte zu erforschen. „Werden Sie mich operieren?”, fragte er mit belegter Stimme.
„Wir werden Sie zunächst stationär behandeln”, antwortete Dr. Büttner.
„Wenn Sie Glück haben, können wir die Ursache Ihres Herzklappenfehlers medikamentös beseitigen und Ihr Herz mit Hilfe von Strophantin rekompensieren. Sollten Sie auf das Herzmittel jedoch nicht ansprechen ...”
„Brauche ich eine neue Herzklappe.”
„Ja”, sagte der Herzspezialist.
Sven hoffte für den Kranken, dass ihm ein Herzklappenersatz erspart blieb. Ein solcher Ersatz kann entweder durch eine Herzklappenprothese oder durch biologisches Gewebe erfolgen.
Letzteres ist zwar technisch schwieriger, führt aber weniger oft zu Komplikationen. Biologische Ersatzklappen können auf drei Wegen beschafft werden. Erstens Herzklappen von Tieren wie Schweinen, Kälbern oder Schafen. Zweitens Herzklappen von anderen Menschen, vornehmlich von Verkehrstoten. Drittens Herzklappen aus körpereigenem Gewebe — die von Dr. Büttner bevorzugte Variante, denn ein Klappenersatz aus körpereigenem Gewebe — man verwendet dazu vornehmlich ein Stück Fascialata, das ist die sehnige Hülle der Oberschenkelmuskulatur — ist nicht tot und fällt daher im Laufe der Zeit keiner zunehmenden Degeneration wie Verkalkung, Verziehung oder Atrophie anheim.
„Darf ich Sie um einen Gefallen bitten, Dr. Kayser?”, fragte der Anwalt. Sven nickte. „Natürlich.”
„Würden Sie meinem Partner sagen, dass ich fürs erste über dem Berg bin?”
„Aber ja.”
„Danke.”
„Keine Ursache”
Der Patient wurde auf die Intensivstation gebracht.
Sven schaute auf seine Armbanduhr. „Ich muss zurück in die Praxis”, sagte er zu seinem Freund Dr. Seeberg. „Meine Patienten warten. Ich bin mitten aus der Sprechstunde weggelaufen.”
„Du hast einen tüchtigen Assistenten.”
„Das stimmt, aber ich möchte Felix nicht überfordern.”
„Du solltest uns bald wieder besuchen. Poldi, unser guter Hausgeist, hat ein Rezept für eine ganz hervorragend schmeckende Bouillabaisse aufgetrieben. Du wirst begeistert sein.”
Sven lachte. „Bin schon überredet. Wann soll ich kommen?”
„Wann hast du Zeit?”
„Ich rufe euch an.”
„Gut.”
„Gib Ruth einen Kuss von mir.”
Wo trifft das Denver-Biest auf die Hexe aus California Clan?
Dr. Seeberg schmunzelte. „Das muss ich mir erst noch überlegen.”
Sven verließ die Klinik am Englischen Garten und fuhr zur Rechtsanwaltskanzlei zurück. Nachdem er Dr. Wiepke berichtet hatte, wie es seinem Partner ging, bemühte er sich, so schnell wie möglich wieder in seine Praxis zu kommen.
Obwohl Felix Brunner emsig wie eine Biene war, quoll das Wartezimmer heute über. Sven eilte in sein Sprechzimmer, zog hastig seinen weißen Kittel an und sagte zu Schwester Marie-Luise, sie möge den nächsten Patienten hereinbitten.