Читать книгу Der Riesen Arztroman Koffer Februar 2022: Arztroman Sammelband 12 Romane - Sandy Palmer - Страница 52
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ОглавлениеDa waren große Lücken in Daniela Trauttendorfs Gedächtnis. Die Tage vergingen. Einer war wie der andere. Alle waren ohne Barbara.
Daniela litt Höllenqualen. Sie betäubte sich immer wieder mit Alkohol, wusste nicht, ob Samstag oder Montag war. Was machte das schon für einen Unterschied? Jeder Tag ohne das geliebte Kind war für die verzweifelte Mutter gleich schrecklich. Sie begann auszugehen, und wenn sie betrunken war, brachten fremde Männer sie nach Hause. Sie empfand nichts für sie. Für keinen von ihnen. Was waren das schon für Männer, die an ihr Gefallen fanden? Sie vertrieb sie alle mit ihrem anhaltenden Gejammer um Barbara. Keiner hielt das aus. Jedem ging sie damit auf die Nerven.
Einer blieb.
Sein Name war Robert Erichsen. Daniela hatte keine Ahnung, wann und wo sie seine Bekanntschaft gemacht hatte. Er war auf einmal dagewesen, als sich die geistigen Nebel etwas lichteten. Ein großer, brutaler Mann ohne Manieren. Ein arbeitsscheuer Trunkenbold, der sich nicht genierte, von ihrem Geld zu leben. Er rasierte sich selten, roch nach Schweiß, und Daniela hatte noch nie gesehen, dass er sich die Zähne putzte. Sein Blick war verschlagen, und manchmal fand ihn Daniela geradezu abstoßend hässlich. Konnte eine Frau noch tiefer sinken, als mit Robert Erichsen das Bett zu teilen? Wieso erlaubte sie diesem unansehnlichen, unsympathischen Kerl, neben ihr zu leben? Weil sie nicht allein sein wollte?
Er hatte nur einen einzigen Vorzug: Er hörte zu, wenn sie ihm von Barbara erzählte. Wahrscheinlich interessierte es ihn überhaupt nicht, aber er gab sich wenigstens den Anschein, als ob, und so brauchte Daniela keine zermürbenden Selbstgespräche mehr zu führen. Sie konnte zu jemandem reden. Zu einem Menschen, der auf das einging, was sie sagte. Nur deshalb ertrug sie ihn. Nur aus diesem Grund hatte sie ihn noch nicht hinausgeworfen.
„Gib mir Geld”, knurrte Erichsen.
„Wofür?”
„Frag nicht. Gib mir einfach fünfzig Mark.”
„Ich möchte wissen ...“
Erichsen zeigte auf eine Batterie leerer Flaschen. „Alle Pullen sind leer. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Bist du blind? Wir haben nichts mehr zu schlucken. Na, rück schon raus mit der Marie. Lass dich nicht so bitten.”
Daniela blickte sich um. Wie oft hatte sie hier schon aufgeräumt? Einmal? Zweimal? Es sah so überhaupt noch nie aus. Volker hätte die Wohnung nicht wiedererkannt. Es gab Wichtigeres als Putzen und Scheuern. Trinken zum Beispiel. Daniela brauchte keine Schlaftabletten mehr von Dr. Kayser. Ihr Lebensrhythmus war völlig durcheinander. Mal schlief sie am Vormittag, mal am Nachmittag, dann wieder gar nicht. Nachts selten. Ach, was soll’s.
„Wie lange soll ich noch warten?”, fragte Erichsen unfreundlich. „Her mit der Kohle!”
Was für ein Abstieg — von Volker Trauttendorf zu Robert Erichsen.
Warum hast du mich so oft betrogen, Volker?, dachte Daniela unglücklich. Warum konntest du mir nicht treu sein?
Warum hast du mir Barbara genommen? Warum, um alles in der Welt, habe ich auf mein Kind verzichtet?Was bin ich nur für eine Rabenmutter. Wie konnte ich so etwas Verwerfliches tun?
Hatte sie geahnt, dass es besser für Barbara sein würde, wenn sie bei ihrem Vater blieb? Hatte sie gewusst, dass man ihr das Kind weggenommen hätte, wenn sie nicht — mehr oder weniger — freiwillig auf ihren kleinen Liebling verzichtet hätte? Eine Menge Schmutzwäsche wäre vor Gericht gewaschen worden, und sie hätte bei dieser schäbigen Auseinandersetzung mit Sicherheit den kürzeren gezogen. Es war besser für Barbara gewesen, zu verzichten, sagte sich Daniela. Besser für Barbara, aber ganz schlecht für mich.
Robert Erichsen verlor die Geduld. Er holte Danielas Handtasche, machte sie auf und bediente sich frech. Daniela sah nicht, wie viel er sich nahm. Was war schon Geld ... Erichsen warf die Tasche achtlos auf den Boden, grinste zufrieden und verließ die Wohnung.
Daniela ging ins Bad. Heute wollte sie sich zusammenreißen. Heute wollte sie schön sein. So schön es eben möglich war. Heute wollte sie nicht trinken, denn heute war ein besonderer Tag.
Sie hatte Volker angerufen und ihn gebeten, Barbara sehen zu dürfen. Er hatte eingewilligt. Er hielt sich an die Abmachung. Er war zuverlässig. Er war sogar freundlich gewesen. Er war so ganz anders als Robert Erichsen. Wenn nur nicht diese vielen demütigenden Affären gewesen wären. Daniela ließ Wasser in die Wanne laufen, streute herrlich duftendes Badesalz hinein, wusch sich gründlich, wusch auch ihr Haar, fönte es und zog ein Kleid an, in dem sie wenigstens noch einigermaßen ansehnlich wirkte. Barbara sollte keinen Schreck bekommen, wenn sie ihre Mutter sah. Barbara ...
Ihre Gedanken kreisten heute schon den ganzen Tag um das Kind. Sie würde die Kleine in die Arme nehmen, küssen, streicheln, mit ihr reden können. Gott, war sie aufgeregt. Ohne es zu merken, griff sie nach einer Flasche, in der sich noch ein kleiner Rest Gin befand. Plötzlich wurde sie sich dessen bewusst, was sie tun wollte. Erschrocken ließ sie die Flasche fallen. Keinen Drink! Keinen Drink! Nicht heute! Nicht heute!
Als sie fortgehen wollte, kam Erichsen zurück. Er war natürlich blau. Er hielt in jeder Hand eine Flasche Korn. Die in seiner rechten war nur noch halb voll.
„Wozu hast du dich in Schale geschmissen, Täubchen?”, lallte er. „Gehen wir aus?”
„Ich fahre zu Barbara.” Daniela sagte nicht: Ich fahre zu meinem Ex-Mann ... zu meinem geschiedenen Mann ... zu Volker ... oder Volker Trauttendorf ... Nein, sie sagte: „Ich fahre zu Barbara.” Denn nur um sie ging es ihr an diesem Tag. Barbara war die Hauptperson, der wichtigste Mensch überhaupt in Danielas Leben. Nicht nur heute. Immer.
„Ach ja, du darfst ja heute die Kleine sehen”, grinste Robert Erichsen. „Ist ein Freudentag für dich, wie?”
„Ja”, sagte Daniela nervös.
Erichsen hielt ihr die halbvolle Flasche hin. „Hier. Nimm einen Beruhigungsschluck.”
„Nein.” Sie hätte ihm die Flasche beinahe aus der Hand geschlagen.
„Du brauchst das, sonst stehst du’s nicht durch”, behauptete Erichsen.
Daniela hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschrien, er möge sich zum Teufel scheren, aber das getraute sie sich nicht. Erichsen wäre imstande gewesen, sie zu verprügeln. Wie sollte sie den bloß wieder loswerden? War das überhaupt nicht möglich? Würde dieser Mann immer bei ihr bleiben? Eine grauenvolle Vorstellung war das für sie.
„Ich trinke heute nichts”, sagte Daniela heiser.
Erichsen lachte „Willst du vor deiner kleinen Tochter schlappmachen? Na komm schon, sei vernünftig! Trink!”
„Lass mich!” Sie rempelte ihn unsanft zur Seite und eilte zur Tür.
Er wäre beinahe umgefallen, weil er mit keinem Stoß gerechnet hatte. „He, du hast sie wohl nicht alle!”, rief er ihr ärgerlich nach.
Sie schloss die Tür — und fühlte sich gut.
Aber Erichsen behielt recht. Sie hielt nicht durch. Kurz vor dem Ziel sprang sie aus dem Taxi, stürzte in einen Supermarkt und kaufte irgend etwas Hochprozentiges. Sie hatte deswegen ein furchtbar schlechtes Gewissen, aber sie konnte nicht anders. Sie musste trinken. Erst danach fühlte sie sich der ersehnten Begegnung mit ihrer Tochter gewachsen. Die innere Verkrampfung löste sich. Das Zittern ihrer Hände hörte auf. Sie wirkte ruhig und gefasst.
Bevor sie bei Volker Trauttendorf erschien, lutschte sie ein Pfefferminzbonbon und hoffte, dass ihr geschiedener Mann den Schnaps nicht roch.
Völker begrüßte sie freundlich und bemühte sich, nett zu sein. Sie gingen auf die Terrasse und setzten sich unter einen großen Sonnenschirm. In den nahen Birken zwitscherten Vögel. Hummeln summten über der violetten Hecke, die die Terrasse umsäumte.
„Wo ist Barbara?”, fragte Daniela beklommen.
„Lisa bringt sie gleich”, antwortete Volker. Er sah großartig aus. Die Scheidung schien ihm gutgetan zu haben — was man von Daniela nicht behaupten konnte. Mit ihr ging es seither unaufhaltsam bergab, und ihre persönliche Talfahrt war noch lange nicht zu Ende.
Daniela war diese Situation höchst unangenehm. Sie saß dem Mann gegenüber, der ihr einmal sehr viel bedeutet hatte und der ihr auch jetzt noch nicht gleichgültig war, und sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Volker schien ebenfalls nach Worten zu suchen. Er bot ihr Orangensaft an. Sie nickte. Er warf Eis aus dem Thermosbehälter in die Gläser und füllte sie dann mit dem Saft. Sie tranken, um nicht reden zu müssen. Wo blieb nur Lisa so lange mit dem Kind?
Völker fragte: „Wie geht es dir, Daniela?”
Sie zuckte die Schultern. „Man lebt.”
„Darf ich ehrlich sein?”
„Aber ja.”
„Du — siehst nicht gut aus.”
„Ich habe ein paar harte Tage hinter mir”, erwiderte Daniela.
„Doktor Kayser würde dich gern in einer Spezialklinik sehen.”
„Ich weiß, aber ich weiß besser, was ich brauche”
„Bist du sicher?”, fragte Volker zweifelnd.
„Kein Arzt kann mich besser kennen als ich mich selbst.”
„Wenn du aus finanziellen Gründen auf einen Sanatoriumsaufenthalt verzichtest ...”
„Ich habe keine Lust, mich einsperren zu lassen.” Danielas Blick kletterte an der Fassade des großen Hauses hoch — bis zu Barbaras Fenster. Vielleicht war das Kind gar nicht da. Vielleicht hatte Volker es vor seiner Mutter in Sicherheit bringen lassen. Daniele wurde unruhig. Sie trank Orangensaft und bedauerte, dass ihm kein kräftiger Schluck Kognak beigefügt war.
„Das Haus ist sehr leer ohne dich”, sagte Volker dumpf.
„Du hast es so gewollt.”
„Ja.” Er seufzte. „Ja, natürlich. Kommst du allein zurecht?”
„Ja. Doch. Und du?”
„Es geht.”
„Steht schon fest, wer meine Nachfolgerin wird?” Eine ungehörige Frage. Das ging sie doch überhaupt nichts an.
Volker schüttelte mit gefurchter Stirn den Kopf. „Es wird keine Nachfolgerin geben.”
„Du hast doch nicht etwa vor, für den Rest deines Lebens allein zu bleiben. Solange du verheiratet warst, war kein Weiberrock vor dir sicher.”
„Das hatte Gründe, über die ...” Er brach ab, denn in diesem Moment betrat Lisa mit der kleinen Barbara die Terrasse.
„Mami!”, rief das Kind.
Danielas Herz machte einen Freudensprung. Sie stand auf, lächelte, und Barbaras zierliche Gestalt zerfloss in einem Tränenschleier. Das Kind lief auf sie zu. Sie ging lachend in die Hocke und breitete die Arme aus.
„Komm. Komm zu Mami.”
Die quirlige Kleine warf sich in ihre Arme, und sie umschlang strahlend ihr Glück, drückte es ergriffen an sich und konnte es einfach nicht loslassen.
Wie herrlich wäre es gewesen, wenn sie Barbara hätte behalten dürfen. Sie hätte soviel Kraft daraus schöpfen können. Aber Barbara gehörte ihr nur für kurze Zeit, und nicht einmal da ganz allein, denn Volker war da. Als müsse er aufpassen, dass sie das Mädchen nicht verhexte. Er schickte Lisa ins Haus.
Daniela setzte sich und zog das Kind auf ihren Schoß. Mit zitternder Hand strich sie über das seidige Haar des Mädchens, und ihr fiel unwillkürlich ein, wie schwer sie es gehabt hatte, dieses liebreizende Geschöpf zur Welt zu bringen. Damals hatte sie sich geschworen, ihm ihre ganze Liebe zu schenken, solange sie lebte. Und nun — gehörte ihr Barbara nicht mehr. Es bestand die akute Gefahr der allmählichen Entfremdung. Vielleicht würde sich Barbara eines Tages nicht mehr freuen, wenn sie sie besuchte. Vielleicht würde die Kleine schon bald fragen: Papi, was will diese Frau von uns?” Kinder vergessen so entsetzlich schnell.
„Warum weinst du, Mami?”, fragte Barbara jetzt.
Daniele lachte „Ich weine weil ich mich freue” Sie wischte mit einem Taschentuch die Tränen ab. Oh, es tat so gut, das Kind in den Armen zu halten, dieses junge Leben so intensiv zu spüren.
„Worüber freust du dich?”, fragte Barbara.
„Ich freue mich, dich zu sehen. Freust du dich auch, dass ich gekommen bin?”
„Ja. Warum bist du fortgegangen?”
Daniela sah Volker kurz an. Ihr Herz schmerzte „Ja, weißt du ...”
„Wieso wohnst du nicht mehr bei uns?”
„Dein Vater und ich ...”
„Wo wohnst du jetzt, Mami?”
„In einer Wohnung”, antwortete Daniela.
„Ist es eine schöne Wohnung?”, wollte Barbara wissen.
Daniela dachte an das Chaos, was dort herrschte „Ja”, sagte sie „Es ist eine sehr schöne Wohnung. Nicht so schön wie dieses Haus natürlich, und ich habe keine Terrasse und keinen Garten, in dem du herumtollen kannst, aber ...“
„Darf ich dich mal besuchen?”, unterbrach das Kind seine Mutter.
„Aber sicher, mein Herz”, antwortete Daniela.
„Wann?”
„Jederzeit. Wann immer du willst”, erwiderte Daniela. „Du sagst es Papi, er ruft mich an, und dann kommt ihr. So einfach geht das.” Ich werde Robert hinauswerfen, dachte sie, gleich wenn ich nach Hause komme Er kann nicht bleiben. Und ich werde die Wohnung in Ordnung bringen. Und nichts mehr trinken. Oder wenigstens nicht mehr soviel — für den Anfang. Und dann immer weniger ... Daniela war voller guter Vorsätze.
Volker Trauttendorf störte nicht. Er saß ganz still da und beobachtete Mutter und Tochter. Es war soviel Zuneigung, Zärtlichkeit und Liebe in deren Unterhaltung, dass ihn zum ersten Mal Gewissensbisse plagten, weil er sie getrennt hatte. Er hatte lange gehofft, dass es nicht nötig sein würde, aber Daniela hatte ihm das Zusammenleben mit ihr unerträglich gemacht. Sie hatte den Bogen überspannt und ihn damit gezwungen, sich von ihr scheiden zu lassen.
Barbara plapperte unentwegt, und Daniela wurde nicht müde, zu antworten. Für kurze Zeit waren die drei wieder fast eine Familie.
Barbara hustete. Daniela legte ihr die Hand auf die Stirn. „Fühlst du dich wohl, Kleines?”
„Natürlich fühlt sie sich wohl”, warf Volker Trauttendorf jetzt ein.
„Warum sollte sie sich nicht wohl fühlen?”
„Ich weiß nicht”, erwiderte Daniela. „Sie hat gehustet.”
„Sie ist gesund”, behauptete Volker.
„Mir kommt sie ein bisschen blass vor.”
„Unsinn”, sagte Volker unwillig. „Ihr fehlt nichts.”
„Vielleicht solltest du mit ihr mal zu Doktor Kayser gehen.”
„Wer geht denn mit einem gesunden Kind zum Arzt?”
„Kann doch nicht schaden, wenn Doktor Kayser sie sich ansieht.”
Barbara wollte, dass Daniela mit ihr Ball spielte. Daniela hielt nicht lange durch. Erschöpft kehrte sie schon nach kurzem auf die Terrasse zurück. Schweiß glänzte auf ihrem Gesicht. Sie zitterte und ließ sich kraftlos auf dem weißen Gartenstuhl nieder. Volker Trauttendorf sagte nichts. Aber sein Blick sagte mit strenger, unmissverständlicher Deutlichkeit: „Wenn jemand zu Doktor Kayser gehen sollte, dann bist du das.”