Читать книгу Der Riesen Arztroman Koffer Februar 2022: Arztroman Sammelband 12 Romane - Sandy Palmer - Страница 47

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Jochen Gorbachs Atelierwohnung lag ziemlich zentral. Bis zum Rathaus waren es zu Fuß höchstens fünf Minuten, bis zum Stachus zehn und bis zum Hauptbahnhof fünfzehn. Vor den großen Fensterflächen breitete sich ein beeindruckendes Panorama aus. Jochen genoss es immer wieder. Er vermisste die Villa im Grünen, in der er aufgewachsen war — mit der Möbelfabrik in unmittelbarer Nachbarschaft —, nur ganz selten. Es gefiel ihm, mitten in den Großstadttrubel zu geraten, sobald er aus dem Haus trat. Das vermittelte ihm das Gefühl, sich im Zentrum des Lebens zu befinden, dazuzugehören, ein Teil davon zu sein, die Pulsfrequenz der Stadt irgendwie mitbestimmen zu können.

Seit dreieinhalb Wochen lebte er nicht mehr allein in seiner Wohnung. Er hatte ein junges, scheues Mädchen bei sich aufgenommen, von dem er nach wie vor sehr wenig wusste. Sie hieß Tamara Eggert, war sehr hübsch, Anfang Zwanzig, kam aus dem Norden, hatte flachsblondes Haar, große braune Augen, eine ansehnliche Figur und ein bezauberndes Lächeln.

Sie flocht ihr Haar täglich zu kurzen Zöpfen, die sie mal mit roten, mal mit blauen, mal mit gelben Schleifen schmückte, was ihr ein sehr kindhaftes Aussehen verlieh. Sie aß leidenschaftlich gerne Marmorkuchen und Matjesheringe und verwirrte Jochen manchmal mit großen Stimmungsschwankungen. Sie konnte jetzt quirlig, heiter und lebensfroh und in einer Stunde ruhig, still und melancholisch sein. Da sie ihm so wenig von sich erzählte, nannte er sie hin und wieder scherzhaft „Meine geheimnisvolle Fremde”.

Selbstverständlich hätte er gern mehr von diesem anziehenden Mädchen gewusst, aber er bedrängte sie nicht mit Fragen, sondern hoffte, dass sie irgendwann von sich aus das Geheimnis um ihre Person lüften würde.

Er hatte Tamara in einem Restaurant kennengelernt. Sie war auf Wohnungssuche gewesen, hatte am Nebentisch gesessen. Sie hatte ihm gefallen, deshalb hatte er sie gefragt, ob er sich zu ihr setzen dürfe. Zuerst waren ihre Miene reserviert und ihr Blick abweisend und kühl gewesen, doch sie hatte Vertrauen gefasst und sich beklagt, dass sie in ganz München keine preisgünstige kleine Wohnung finden könne.

Jochen hatte ihr kurz entschlossen angeboten, bei ihm zu wohnen. Gratis. Sie war vorsichtig gewesen, hatte nicht sofort eingewilligt, hatte wissen wollen, wo dabei der Haken wäre. Er hatte behauptet, es gebe keinen. Er könne einfach nette Gesellschaft in seiner Atelierwohnung gebrauchen.

Tamara hatte sein großzügiges Angebot angenommen, war bei ihm eingezogen und hatte ihm tags darauf gestanden, dass sie seit geraumer Zeit auch vergeblich Arbeit suche, und so hatte er ihr spontan vorgeschlagen, ihm für ein kleines Gehalt den Haushalt zu führen, und sie war damit einverstanden gewesen.

In diesen dreieinhalb Wochen hatte es nur ein einziges mal zwischen ihnen ziemlich heftig geknistert. Sie hatten gealbert und Tränen gelacht, und Jochen hatte Tamara plötzlich in den Armen gehalten und geküsst. Da hatte sie entsetzt die Augen aufgerissen, ihn zurückgestoßen und gekeucht: „Um Himmels willen, was hast du getan?”

„Ich habe dich geküsst.”

„Das darfst du nie wieder tun.”

„Warum nicht? Hat es dir nicht gefallen?”

„Wenn du so etwas noch einmal versuchst, muss ich gehen. Dann siehst du mich nie wieder.”

„Es tut mir leid, Tamara. Ich dachte, du möchtest es auch.”

„Nie wieder!”, hatte sie bebend hervorgestoßen.

Er hatte ernst genickt. „Nie wieder!”

„Schwöre es!”, hatte sie verlangt.

„Findest du mich denn so abstoßend?”

„Schwöre es!”

„Na schön, ich schwöre es. Und ich entschuldige mich noch einmal. Es wird so einen Ausrutscher kein zweites mal geben. Und jetzt beruhige dich. Mein Gott, so beruhige dich doch. Es ist ja nichts passiert.”

Sie war in ihr Zimmer gerannt, hatte sich eingeschlossen und war erst am nächsten Tag wieder herausgekommen. Als wäre nichts vorgefallen. Nicht den leisesten Vorwurf hatte er von ihr zu hören bekommen. Seither unterhielten sie eine Art Schwester-Bruder-Beziehung, und das Zusammenleben funktionierte reibungslos.

Tamara klopfte und öffnete die Tür.

Jochen sah von seiner Arbeit auf. „Was gibt’s?”

„Der Kaffee steht auf dem Tisch.”

„Ich komme.” Jochen stand auf.

Heute trug Tamara rote Schleifen an den Zöpfen. Er hatte festgestellt, dass sie immer gut gelaunt war, wenn sie sich für die roten Bänder entschied. Mit dunklem Blau signalisierte sie Schwermut. Da sprach sie auch kaum ein Wort mit ihm.

Was für ein sonderbares, rätselhaftes Mädchen sie doch war! Aber Jochen mochte sie trotzdem. Oder vielleicht sogar deshalb. Es gab Marmorkuchen zum Kaffee. In dieser Woche schon zum dritten Mal. Also jeden Tag. Jochen hätte lieber etwas anderes gehabt, aber er sagte nichts, weil er wusste, wie gern Tamara Marmorkuchen aß.

Als er zugreifen wollte, läutete es an der Tür.

Tamara wollte aufstehen.

„Lass nur, ich gehe schon”, lächelte Jochen und begab sich in die Diele. Als er die Tür öffnete, legte sich ein überraschter Ausdruck über seine Züge, und seine Augen begannen begeistert zu strahlen. „Vater!”

„Tag, Jochen.” Gerd Gorbach war zum ersten Mal hier. Er kannte die Wohnung seines Sohnes noch nicht.

„Was führt dich denn hierher?”, fragte Jochen verwirrt.

Gerd Gorbach schmunzelte. „Darf ich erst mal eintreten?”

„Klar doch. Entschuldige. Ich freue mich so, dass du mich mal besuchst, dass ich völlig durcheinander bin.” Jochen gab die Tür frei. Er führte seinen Vater ins Wohnzimmer.

„Oh, du hast Besuch”, sagte Gerd Gorbach, als er Tamara erblickte. „Tut mir leid, wenn ich störe. Ich hätte wohl besser zuerst anrufen sollen.”

Tamara machte den Eindruck, als würde sie sich in ihr Schneckenhaus zurückziehen. Beunruhigten fremde Menschen sie?

„Du störst überhaupt nicht”, entgegnete Jochen. „Tamara ist nicht zu Besuch hier, sie wohnt bei mir.”

„Ach so.” Gerd Gorbach glaubte, zu verstehen.

„Vater, das ist Fräulein Tamara Eggert”, machte Jochen die beiden miteinander bekannt. „Tamara, das ist Herr Gerd Gorbach, mein Vater”

„Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Fräulein Eggert. Ich bin entzückt”, sagte der Möbelfabrikant und küsste dem scheuen Mädchen galant die Hand. Er wandte sich an seinen Sohn. „Junge, ich muss dich rügen. Wieso hast du mir diese reizende Person vorenthalten? Warum hast du deine bezaubernde Freundin nicht zu meiner Geburtstagsfeier mitgebracht?”

Tamara errötete.

„Tamara ist nicht meine Freundin, Vater”, versuchte Jochen den Irrtum aufzuklären. „Ich meine, wir sind zwar Freunde, aber ... Naja, also ... Was ich sagen will ...”

„Ich weiß schon, was du sagen willst, mein Junge, und es tut mir leid, euch in Verlegenheit gebracht zu haben.”

„Du konntest das doch nicht wissen”, erwiderte Jochen und erklärte mit nüchternen Worten, wie er und Tamara zueinander standen. Dann forderte er seinen Vater auf, sich zu setzen, und Tamara brachte eine Tasse für den Gast. Sie bot an, in ihr Zimmer zu gehen, wenn Jochen mit seinem Vater lieber allein sein wolle, doch Gerd Gorbach bestand darauf, dass sie blieb.

Sie tranken Kaffee, und Gerd Gorbach lobte den Kuchen, den Tamara selbst gebacken hatte. Er erkundigte sich nach Jochens Auftragslage die mehr als zufriedenstellend war, und kam schließlich auf das ärztliche Untersuchungsergebnis zu sprechen.

„Operation also”, nickte Jochen mit gefurchter Stirn.

„Ich komme leider nicht darum herum, sagt Dr. Kayser”, meinte der Möbelfabrikant ernst.

„Ich habe es irgendwie befürchtet”, sagte Jochen.

„Ich insgeheim auch. Aber bis zuletzt hab' ich mich an die Hoffnung geklammert, dass mir ein Eingriff erspart bleiben würde.”

„Das kann ich verstehen. Wer legt sich schon mit Freude unters Messer.” Tamara schwieg. Ihre Miene war verschlossen. Sie schien nicht gern von Krankheiten zu hören.

„Dr. Kayser rät mir zu einer dreimonatigen Firmenabstinenz”, sagte Gerd Gorbach.

„Und wer leitet den Betrieb während deiner Abwesenheit?’’

„Ich bin hier, um dich zu bitten, für mich einzuspringen. Natürlich nur, wenn es deine Geschäfte zulassen. Wir hatten zwar einige Meinungsverschiedenheiten ...”

Jochen winkte ab. „Ach was. Du weißt doch, dass ich immer für dich da bin, wenn du mich brauchst, Vater. Es freut mich, dass du zu mir kommst und mich bittest ...”

„Niemand ist fähiger als du, das Unternehmen zu leiten. Du bist trotz deiner revolutionären Ideen — mit denen ich mich nicht anfreunden konnte — eben doch ein echter Gorbach. Vielleicht sollten wir nach diesen drei Monaten unsere Standpunkte neu überdenken und uns zu der einen oder anderen Korrektur entschließen. Was meinst du?”

Jochen hob die Schultern. „Wir können es ja mal ins Auge fassen.”

„Sollte die Sache für dich berufliche Probleme aufwerfen, so betrachte dieses Gespräch lieber als gegenstandslos.

Dann suche ich mir in der Firma einen Stellvertreter.

„Mach dir deswegen keine Gedanken, Vater. Ich kriege das alles schon irgendwie unter einen Hut.”

„Ich werde dir das nie vergessen, mein Junge”, sagte Gerd Gorbach ergriffen.

Jochen legte seinem Vater die Hand auf den Arm. „Hast du mir nicht von klein auf eingebleut, dass in der Familie immer einer für den anderen da zu sein hat? Dass es im Leben nichts Wichtigeres gibt als eine intakte Familie? Weil sie das Sicherheitsnetz ist, das uns auffängt, wenn wir mal abstürzen. Weil wir zu hoch hinaus wollten, weil wir leichtsinnig waren und zu viel riskierten — oder aus irgendeinem anderen Grund.”

Gerd Gorbach lächelte bewegt. „Ich kann dir nicht sagen, wie sehr es mich freut, zu erfahren, dass meine Worte auf fruchtbaren Boden fielen.”

„Wo wird man dich operieren?”

„In der Seeberg-Klinik.”

„Hast du schon einen Termin?”

Gerd Gorbach schüttelte den Kopf. „Ich wollte zuerst mit dir reden.”

„Du kannst jederzeit über mich verfügen.”

„Ich lasse das Dr. Kayser wissen”, nickte der Möbelfabrikant. Er schaute Tamara an, die die ganze Zeit über kein Wort gesprochen hatte. „Wenn Menschen ein gewisses Alter erreichen, lässt es sich kaum vermeiden, dass sie anfangen, über Krankheiten zu reden. Ich bitte um Vergebung.”

„Ist schon in Ordnung”, zwang sich Tamara zu erwidern.

Gorbach wechselte das Thema und versuchte, Tamara in die Unterhaltung mit einzubeziehen, doch es gelang ihm nur sehr mangelhaft. Sie hatte mal wieder ein seelisches Tief, und die roten Schleifen passten nicht mehr zu ihren Zöpfen. Der Fabrikant verabschiedete sich nach einer Stunde. Jochen brachte seinen Vater zur Tür.

„Ein nettes Mädchen”, sagte Gerd Gorbach. „Ein wenig verschlossen, aber sehr hübsch.”

„Sie ist nicht immer so schweigsam. Sie kann manchmal sehr lustig sein.”

„Ich habe wohl die falschen Themen gewählt.”

„Das hat nichts mit dir zu tun. Tamaras Stimmung wechselt auch bei mir oft von einem Moment zum anderen. So ist sie nun mal.”

„Es war ihr unangenehm, dass ich sie für deine Freundin gehalten habe Ich hab’s ihr angesehen. Ich muss doch immer ins Fettnäpfchen treten.”

„Sie nimmt es dir bestimmt nicht übel”, beruhigte Jochen seinen Vater, „ich werde also wieder in der Villa wohnen ... Darf ich Tamara mitbringen?”

„Selbstverständlich.”

„Sie ist nicht gern allein, weißt du?”

„Ist überhaupt kein Problem, mein Junge.”

„Weißt du, was ich glaube, Vater?”

„Was?”

„Dass ich die Flinte zu schnell ins Korn geworfen habe. Vielleicht sollten wir es noch einmal miteinander versuchen.” Gerd Gorbach bekam feuchte Augen. „Darüber reden wir ganz bestimmt sehr bald ausführlicher.” Er umarmte seinen Sohn herzlich und drückte ihn fest an sich. Für diesen einen schönen Augenblick vergaß er seine Rückenschmerzen, die ihm heute wieder besonders zu schaffen machten.

Jochen kehrte ins Wohnzimmer zurück. Der Raum war leer. Jochen klopfte an Tamaras Tür. „Tamara?”

„Ja?”

„Darf ich reinkommen?”

„Meinetwegen.”

Jochen öffnete die Tür. Tamara trug jetzt die blauen Schleifen.

„Ist irgend etwas nicht in Ordnung?”, erkundigte sich Jochen.

„Ich fühle mich nicht ganz wohl.”

„Du kommst mir gemütskrank vor.” Sie starrte ihn wütend an. „Ich bin nicht krank”, fuhr sie ihn an.

Er hob die Hände, als wollte er sich ergeben. „Schon gut, meine kleine geheimnisvolle Fremde. Schon gut. Wie gefällt dir mein Vater?”

„Ich möchte mich hinlegen.”

„Wir werden schon bald in seiner Villa wohnen.”

„Ich möchte bitte allein sein, Jochen.”

Er nickte. „Okay.” Er verließ ihr Zimmer, sie legte sich aufs Bett und starrte die Wand an.

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