Читать книгу Der Riesen Arztroman Koffer Februar 2022: Arztroman Sammelband 12 Romane - Sandy Palmer - Страница 59
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Es war Abend.
Nachdem Lisa das Kind zu Bett gebracht hatte, betrat sie den Salon. „Volker ...”
Trauttendorf warf ihr einen strafenden Blick zu.
Sie schlug den Blick nieder. „Entschuldigen Sie, Herr Trauttendorf — es ist mir herausgerutscht ...”
„Was gibt’s, Lisa?”, fragte er kühl.
„Ich mache mir Sorgen um Barbara.” Trauttendorfs Kopf ruckte hoch. „Dieses Husten”, sagte Lisa. „Es nimmt ständig zu. Mit der Kleinen ist irgend etwas nicht in Ordnung. Sie klagt zeitweise über Atembeschwerden, und wenn sie ausatmet, ist so ein eigenartiges Pfeifen zu hören.”
„Um Himmels willen, das Kind wird doch nicht Asthma kriegen?”
„Sie sollten mit Barbara zum Arzt gehen, Herr Trauttendorf.”
„Ja”, nickte Volker. „Ja, das mach’ ich gleich morgen.”
Als er tags darauf mit dem Kind das Haus verließ, umarmte, streichelte und küsste es Lisa und sagte: „Hab keine Angst, Kleines. Dein Papa geht mit dir zu einem ganz, ganz lieben Onkel Doktor. Der macht dich im Handumdrehen wieder gesund.”
„Ich habe keine Angst”, erwiderte Barbara.
Lisa nickte lächelnd. „Ich weiß. Du bist ein tapferes Mädchen.”
Bei der Untersuchung zog Dr. Sven Kayser seinen Assistenten hinzu, und Dr. Brunner stellte einmal mehr unter Beweis, wie hervorragend er mit Kindern umzugehen verstand. Er schloss mit Barbara sofort Freundschaft.
„Bist du auch ein richtiger Doktor?”, fragte das Kind.
„Ja, das bin ich”, antwortete der junge Mediziner.
„Wie heißt du?”
„Du darfst mich Felix nennen”, antwortete der Assistenzarzt.
„Ich heiße Barbara.”
„Ich weiß.”
„Bin ich krank, Felix?”, fragte Barbara.
„Nur ein kleines bisschen.”
„Machst du mich wieder gesund?” Felix streichelte ihre Wange. „Aber natürlich.”
„Kommst du uns mal besuchen?”
„Sehr gern.”
„Spielst du dann auch mit mir?”, fragte Barbara.
Dr. Brunner nickte fest. „Na hör mal, das versteht sich doch von selbst.”
,,Sonst spielt immer Lisa mit mir.”
„Magst du Lisa?”
Barbara hob die schmalen Schultern. „Ja, aber Mutti hab’ ich lieber.”
,„Das ist klar”, sagte Felix.
„Kennst du meine Mutti?”
„Natürlich. Sie ist sehr nett”, antwortete Felix Brunner.
Und während er sich mit dem Kind befasste, sprach Sven Kayser mit dem Vater. „Tja, Herr Trauttendorf, Ihre Tochter ist organisch gesund.”
„Aber diese Atembeschwerden ...”
„Die anfallsweise, krampfartige Verengung der kleinen Bronchien, die von Atemnot begleitet wird, ist meines Erachtens psychisch bedingt.” Trauttendorf konnte das nicht glauben. „Das kann nicht sein, Dr. Kayser. Zeigen Sie mir ein Kind, dem es besser geht als meiner Barbara. Dem Kind mangelt es an nichts. Es wächst in einer Umgebung, die ich für ideal halte, wohlbehütet auf und bekommt alles, was es sich wünscht.”
„Bekommt es auch genügend Zuneigung und Liebe, Herr Trauttendorf?”
„Selbstverständlich. Zweifeln Sie etwa daran?”
„Barbara hat keine Mutter mehr.”
„Bekommen alle Kinder, deren Eltern sich scheiden lassen, Asthma?”
„Nein, Herr Trauttendorf. Nicht alle. Aber bei den sensiblen kann die Trennung der Eltern eine solche Reaktion auslösen. Selbst wenn Sie es nicht wahrhaben wollen: Barbara leidet unter dieser Trennung. Es macht sie seelisch krank, dass ihre Mutter nicht mehr da ist. Und das ruft ihre zeitweiligen Atembeschwerden hervor. Ich kann mit Medikamenten die Wirkung bekämpfen, kann Antiasthmatika, wie Euphyllin, Perphyllon oder Astmolysin injizieren, wenn’s mal besonders schlimm ist, aber ich kann nicht die Ursache des Leidens beseitigen.”
„Die Ursache ...” Volker Trauttendorf knackte grimmig mit den Fingern.
Nebenan unterhielt sich Barbara prächtig mit Felix Brunner.
„Sie kennen die ganze leidige Geschichte, Herr Doktor”, sagte der reiche Geschäftsmann. „Ich habe Daniela sehr geliebt. Als wir uns begegneten, war es mein sehnlichster Wunsch, sie zu heiraten und mit ihr eine Familie zu gründen. Leider wollte das zunächst nicht klappen, und ich glaube, dass meine Ex-Frau damals einen seelischen Knacks abbekommen hat. Sie wünschte es sich doch so sehr, mir ein Kind zu schenken, eine vollwertige Frau zu sein. Wie Sie wissen, wurde sie erst nach einer langen Hormonbehandlung schwanger. Ihr Glück kannte keine Grenzen. Sie hat vor Entzücken geweint und gelacht, als Sie ihr die freudige Mitteilung machten. Dass sie in anderen Umständen wäre. Endlich, endlich war sie schwanger. Wir hatten schon nicht mehr damit gerechnet. Ich hatte mich bereits damit abgefunden, dass unsere Ehe kinderlos bleiben würde. Ich habe Daniela deswegen kein bisschen weniger geliebt, habe ihr klarzumachen versucht, dass man auch ohne Kinder eine sehr gute, glückliche Ehe führen könne. Aber nun... Ein Kind ... Wir waren so unbeschreiblich froh ... Dann kam die Geburt. Eine schwierige Geburt. Und schließlich hatten wir unser heißersehntes Kind, unsere süße, kleine Barbara. Ich kann nicht beschreiben, wie ich mich damals fühlte, Herr Doktor. Ich war so stolz, so froh, so selig ... Ich wollte meiner Tochter ein guter Vater sein — und meiner Frau ein guter Ehemann. Ich hatte so viele gute Vorsätze, aber ich konnte sie nicht erfüllen.” Trauttendorf schluckte mehrmals.
Nebenan sagte Barbara: „Ich habe sieben Puppen. Die hat mir alle mein Papa gekauft. Hast du auch Puppen, Felix?”
„Nein”, antwortete Dr. Brunner.
„Wenn du uns besuchst, darfst du mit meinen Puppen spielen.”
„Das finde ich aber furchtbar nett von dir.”
Volker Trauttendorf betrachtete seine Hände. „Plötzlich ...”, fuhr er schleppend fort, „war da keine Liebe mehr für mich. Ich befand mich in einem liebesleeren Raum, in einem Vakuum — allein. Alles, was Daniela an Liebe zu geben hatte, bekam Barbara, und ich ging leer aus. Ich war nicht eifersüchtig auf Barbara, überhaupt nicht. Ich gönnte ihr die Liebe ihrer Mutter, meiner Frau, aber ich litt unter diesem unverhofften Liebesentzug. Ich sagte mir: Hab Geduld. Daniela hatte es schwer, das Kind zur Welt zu bringen. Jetzt ist es da, und sie überschüttet es mit Liebe. Du musst das verstehen. Das wird sich mit der Zeit legen. Dann wird auch wieder für dich ein bisschen Liebe abfallen .. . Aber für meine Frau gab es nur noch Barbara und sonst nichts auf der Welt. Ich hatte manchmal den Eindruck, ich würde für sie gar nicht mehr existieren. Alles drehte sich nur noch um das Kind. Um Danielas Kind! Ich begriff, dass ich meine Frau verloren hatte. Es gab niemandem mehr, der bereit war, meine Gefühle zu erwidern. Ich bin ein Mann von sechsunddreißig Jahren, Dr. Kayser. Ich habe Wünsche, Sehnsüchte — ich begehre ...”
„Warum haben Sie nicht mit Ihrer Frau darüber gesprochen?”, fragte Sven.
„Ich habe es versucht. Gott ist mein Zeuge. Immer wieder habe ich es versucht, doch ich kam zumeist über die Einleitung nicht hinaus — dann war schon wieder irgend etwas mit Barbara, und meine Frau lief weg. Meine Hoffnung, dass sich dieser quälende Zustand eines Tages geben würde, erfüllte sich nicht. Ich durchwanderte ein Tal aus Enttäuschung, Frustration, Resignation, Trotz und Zorn, und mir wurde klar, dass ich mir anderswo holen musste, was ich zu Hause nicht mehr bekam. So stürzte ich mich von einem Abenteuer ins andere, und trug auf diese Weise mein Teil dazu bei, dass Daniela und ich immer weiter auseinanderdrifteten und schließlich nicht mehr zueinanderfinden konnten. Mein Verhalten war falsch, das habe ich inzwischen eingesehen, Dr. Kayser, aber meine Frau hat mich dazu getrieben. Wir haben uns gegenseitig das Leben schwergemacht, und wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich vieles anders machen, denn ich war mit keiner dieser Frauen, bei denen ich mir holte, was Daniela mir vorenthielt, auch nur annähernd glücklich. Im Gegenteil. Mich peinigte hinterher jedes mal ein ganz schrecklicher seelischer Katzenjammer.”
„Ich kann schon schwimmen”, behauptete nebenan Barbara.
„Ist das auch wirklich wahr?”, fragte Dr. Brunner.
„Mit Schwimmflügeln.”
„Ach so.”
„Hast du auch Schwimmflügel, Felix?”
„Ich hatte mal welche. Inzwischen brauche ich sie nicht mehr. Eines Tages wirst du die deinen auch nicht mehr benötigen. Dann wirst du auch ohne sie nicht untergehen.”
„Lieben Sie Ihre Frau noch, Herr Trauttendorf?”, fragte Sven Kayser.
„Daniela war mir einmal das Liebste auf der Welt.”
„Und heute?”
Volker Trauttendorf seufzte schwer. „Ich weiß nicht, Dr. Kayser. Ich glaube, ich kann wohl nie ganz aufhören, Daniela zu lieben.”
Sven stellte für das Kind ein Rezept aus. Er gab es dem Vater. „Wie gesagt: Damit lässt sich die Wirkung bekämpfen, nicht aber die Ursache.”