Читать книгу Der Riesen Arztroman Koffer Februar 2022: Arztroman Sammelband 12 Romane - Sandy Palmer - Страница 42

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Dr. Sven Kayser untersuchte Gerd Gorbach im Beisein seines jungen Assistenten. Der Möbelfabrikant klagte über Schmerzen im linken Bein. Sein Rücken war heute jedoch schmerzfrei. Im Stehen war die Haltung des Patienten normal. Die Beweglichkeit der Rumpfwirbelsäule war nur leicht eingeschränkt und endphasig nicht schmerzhaft. Bei wiederholter Prüfung der Vorwärtsbeugung fiel Sven aber auf, dass Gorbach den Rumpf immer ein wenig mehr nach rechts neigte. Dafür musste es einen Grund geben.

In der Bauchlage gab Gorbach einen umschriebenen Druckschmerz, links in der Höhe des letzten Bandscheibenraumes an, also zwischen dem fünften Lenden und dem ersten Kreuzwirbel. Der Ischiasdehnungsschmerz war links positiv. Dieses sogenannte Laseguesche Zeichen prüfte Sven Kayser in Rückenlage des Patienten, indem er das im Knie gestreckte Bein von der Unterlage aufhob und so weit wie möglich im Hüftgelenk beugte, wodurch es zu einer Dehnung des hinten am Hüftgelenk vorbeiziehenden Ischiasnervs kam. Ohne Ischiaserkrankung kann man das Bein im allgemeinen senkrecht in die Höhe heben, also bei gestrecktem Knie im Hüftgelenk um neunzig Grad und mehr beugen. Bei erhöhter Dehnungsempfindlichkeit tritt jedoch vorher ein Schmerz im Bein oder im Rücken auf. Bei Gerd Gorbach war das Laseguesche Zeichen ab sechzig Grad positiv. Geduldig ließ der Möbelfabrikant die Untersuchung über sich ergehen.

„Nun, wie sieht's aus?”, erkundigte er sich, als Sven kurz von ihm abließ.

Dr. Kayser sah seinen Assistenten an.

„Sieht nach einem klassischen Bandscheibenvorfall aus”, meinte Dr. Felix Brunner.

„Bandscheibenvorfall”, murmelte Gorbach. „Na, fein!”

„Bandscheibe oder Diskus”, sagte Felix, „nennt man die zwischen zwei knöchernen Wirbelkörpern gelegene, vorwiegend aus Knorpel bestehende Zwischenwirbelscheibe. Sie besteht aus einem faserknorpeligen Mantelteil und einem Gallertkern. Ursprünglich ist eine Bandscheibe mehr kugelig. In einer Hohlkugel mit einem Durchmesser von drei bis vier Zentimetern und einer Wandstärke von gut einem Zentimeter befindet sich ein Hohlraum in der Größe eines entsprechend großen Pfirsichkerns.”

Gorbach nickte, um zu zeigen, dass er alles verstand.

„Dieser Hohlraum”, fuhr Felix Brunner fort, „enthält eine weiche, gallertig faserige Masse. Die Hohlkugel ist zwischen zwei Wirbelkörpern sozusagen plattgedrückt. Bei Wirbelsäulenbewegungen wandert der Kern hin und her. Bei Beugung rutscht er nach hinten, bei Streckung nach vorn. Beim Rechtsneigen nach links und beim Linksneigen nach rechts.”

Gorbach nickte wieder.

„Wenn nun”, sprach Felix weiter, „der knorpelige Faserring aus irgendwelchen Gründen einreißt, kann der Gallertfaserkern, der sogenannte Nucleus pulposus, durch das Loch nach vorn oder hinten austreten.”

„Aha”, sagte Gorbach.

„Tritt der Gallertfaserkern nach vorn aus”, informierte Dr. Brunner den Patienten, „macht das in der Regel kaum Beschwerden, denn vorn ziehen keine besonders druckempfindlichen Gebilde an der Wirbelsäule vorbei. Wölbt er sich aber nach hinten, gibt es Ärger, denn hier verlaufen der Wirbelkanal und die Zwischenwirbellöcher, in denen sich Nervenstränge befinden, die schon bei kleineren Vorfällen gedrückt werden können.”

„Und das ist bei mir der Fall?”, fragte Gorbach.

„Das ist bei Ihnen der Fall”, nickte Felix.

„Ich habe also ein defektes Kreuz”, sagte Gorbach. „Und wieso sitzt der Schmerz heute in meinem Bein?”

„Bei Druck auf ein Nervenkabel fühlt man den Schmerz zwar zumeist auch an der Druckstelle, doch oft spürt man ihn stärker dort, wo der schmerzempfindliche Nerv im Gewebe endet. Das ist mit einer Klingelanlage vergleichbar. Drückt man auf den Klingelknopf, läutet es dort, wo die Schelle ist. Bezogen auf Bandscheibenvorfall und Ischiasnerven ist der Klingelknopf im unteren Kreuz und die Schelle am Bein.”

„Ihr Assistent weiß aber schon eine ganze Menge, Dr. Kayser”, sagte der Möbelfabrikant beeindruckt. „Und er kann's auch so erklären, dass es der Laie versteht. Darf ich mich anziehen?”

„Ich bin mit der Untersuchung noch nicht fertig”, antwortete Sven.

„Ach so.”

Der Grünwalder Arzt hatte bei dem Patienten eine mittelstarke Dehnungsempfindlichkeit festgestellt und bat ihn nun um sein Einverständnis, sein Bein noch etwas stärker anzuheben, also ihm einen intensiven Dehnungsschmerz zuzufügen. Gorbach war davon verständlicherweise nicht sehr begeistert, aber er willigte ein, und Sven provozierte eine Ausstrahlung des Schmerzes bis in die untere Beinhälfte. Schweißperlen glänzten auf Gorbachs Stirn. Meistens können Patienten genau angeben, ob der Schmerz in die Außenseite des Fußes oder mehr nach innen zur Großzehe hin ausstrahlt. So auch Gerd Gorbach.

„Fußaußenrand ... ”, ächzte er. „Bis in die Ferse ...”

Damit hatte Sven Kayser bereits einen wichtigen Anhaltspunkt für den Sitz des Vorfalls. Er prüfte das Hautgefühl im Bereich beider Beine. Störungen in der Berührungsempfindlichkeit bestanden nicht. Nun kontrollierte Sven den Achillessehnenreflex. Um auch kleine Unterschiede erkennen zu können, ließ er die Patienten immer quer auf dem Untersuchungstisch knien, so dass die Füße frei überstanden. Er klopfte mit dem Reflexhammer auf die Achillessehne, und es kam zu einer ruckartigen Fußbeugung. Der Bewegungsausschlag hätte rechts und links gleich sein müssen, war bei Gorbach links jedoch etwas schwächer.

„Ist gut, Herr Gorbach”, sagte Sven schließlich. „Jetzt können Sie sich anziehen.”

„Sieht nicht gut aus, was?”, fragte der Möbelfabrikant wenig später etwas unsicher.

„Nun, Herr Gorbach, mit Chiropraktik, Akupunktur, Spritzenkur, heißen Bädern, Fangopackungen, Kurzwellenbehandlungen, Massage und dergleichen mehr ist es in Ihrem Fall nicht getan.”

Der Patient nickte grimmig. „Mit halben Sachen habe ich mich noch nie zufriedengegeben.” Er sah Sven von unten her scheu an, hatte Angst vor der Antwort, fragte aber trotzdem: „Muss ich operiert werden?”

„Das lässt sich im Moment noch nicht mit Sicherheit sagen, Herr Gorbach”, antwortete Sven Kayser. „In manchen Fällen gelingt es, durch Einspritzen einer Flüssigkeit den Gallertkern, der hauptsächlich aus Eiweiß besteht, aufzulösen. Er verflüssigt sich und kann somit nicht mehr auf die Nervenwurzel drücken. Diese Methode ist aber nur dann möglich, wenn der Faserring der Bandscheibe noch erhalten ist.”

„Ja ... Und ...”

Sven schlug dem Patienten eine Myelografie in der Seeberg-Klinik vor.

Gorbach sah ihn verloren an. Er wusste mit diesem Begriff nichts anzufangen. „Klingt irgendwie bedrohlich”, sagte er heiser.

„Das braucht Sie nicht zu beunruhigen, Herr Gorbach”, erwiderte Sven sanft. „Myelografie heißt wörtlich Abbildung des Rückenmarks.”

Die Spannung wich noch nicht aus dem Gesicht des Möbelfabrikanten.

„In einem üblichen Röntgenbild kann man das Rückenmark und die aus ihm austretenden Nerven nicht sehen”, erklärte Sven Kayser, „deshalb wird in den Rückenmarkskanal, in die Rückenmarksflüssigkeit, genau gesagt, ein Kontrastmittel eingespritzt, das sich dann gleichmäßig im Liquor verteilt.”

Gorbach rieb sich nervös die Nase.

„Wenn anschließend Röntgenaufnahmen gemacht werden”, erklärte der Grünwalder Arzt weiter, „sieht man ein Negativbild der Oberfläche vom Rückenmark und von den austretenden Nervensträngen.”

Gorbach massierte sein fleischiges Ohrläppchen.

„Im allgemeinen”, beendete Sven Kayser seine Ausführungen, „werden nach der Einspritzung des jodhaltigen Kontrastmittels in den Liquor acht Röntgenaufnahmen geschossen. Alle in verschiedene Richtungen, denn Bandscheibenvorfälle oder andere Abweichungen vom Normalen sieht man oft nur bei der Aufnahme in einer ganz bestimmten Position.”

Der Möbelfabrikant grinste schief. „Ich wollte immer schon mal den Betrieb der Seeberg-Klinik kennenlernen. Endlich verhelfen Sie mir dazu.”

„Sie kommen mit den Röntgenbildern wieder zu mir — und dann werden wir weitersehen.” Dr. Kayser stellte die Überweisung aus.

„Danke”, sagte Gerd Gorbach und erhob sich. Er reichte Sven und seinem Assistenten die Hand. „Dann werden wir uns ja wohl bald wiedersehen.” Er ging.

„Ich glaube nicht, dass er um eine Operation herumkommt”, sagte Felix.

„Das kann man erst mit Gewissheit sagen, wenn die Röntgenaufnahmen vorliegen”, meinte Sven.

„Falls er operiert werden muss, wird er seine Firma eine Zeitlang nicht leiten können.”

„Er hat einen tüchtigen Sohn”, erwiderte Sven Kayser. „Jochen Gorbach hat das Unternehmen schon einmal mitgeführt, ist aber dann ausgeschieden, weil sein Vater mit seinen revolutionären Modernisierungsplänen nicht einverstanden war. Er wird in einem solchen Fall mit Sicherheit in die Fabrik zurückkehren und für seinen Vater einspringen.”

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