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NACHMITTAG

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Theresa hatte kein Gefühl von Bedrohung mehr gehabt, als sie Herrn Graumann verließ. Die Polizei fühlte sich nicht gefährlich an. Sie ging dann durch die Gänge und fühlte immer noch ihre aufgerissene Brust. Menschen waren im Moment nicht gut. Sie setzte sich auf eine kalte, steinerne Treppe und begann bitterlich zu heulen.

Sie musste ganz leise sein, damit keiner sie fand, heulte also ganz leise, ganz verhalten. Wölfe hatten es gut, die spannten ihren Körper und ließen einen langen, prachtvollen Ton in die Weite hallen, einen Appell, um gehört zu werden, durch die ganze Welt, das Leid klagend, und alle sollten es wissen.

Aber sie musste leise sein.

Herr Graumann konnte nichts dafür, dass sie da weinte. Sie dachte: Das Schwierige war nicht Herr Graumann, sondern die Gewalt. Sie hatte so viel Gewalt getroffen und konnte damit überhaupt nicht umgehen. Sie wollte keine Grobheit mehr, keine Toten und vor allem keine eingeschlagenen Köpfe. Sie wollte keine Machtergreifung mehr sehen, keine hören, nicht einmal mehr laute Töne. Das war auch schon Gewalt, Machtergreifung an ihren Ohren, wie an dem schlimmen Abend vor drei Tagen. Die waren auch so laut geworden. Lautstärke war immer der Beginn von Gewalt.

In der Erinnerung war die ganze Gesellschaft aufgepeitscht gewesen, durch die Musik und wahrscheinlich auch durch Alkohol, vielleicht noch andere Sachen. Sie hatte Gefahr gewittert, konnte aber nicht herausfinden, welche, bis es zu spät war. Es ging nicht an, dass sie in einer so gefährlichen Welt so blöde herumtorkelte. Sie musste lernen, mit den Dingen besser umzugehen. Es nützte gar nichts, wenn sie Gewalt nicht sehen wollte, nicht hören wollte und nicht haben wollte. Es gab sie trotzdem.

Als sie da auf der Treppe saß und die Sitzfläche immer kälter wurde, hinein in ihr empfindliches Becken, kam Wolfgang an, mit einer Leiter.

Er war zuerst nicht erfreut, jemanden zu treffen, denn das behinderte die Arbeit. Aber als er ihr verschmiertes Gesicht sah, setzte er sich zu ihr, putzte ihr die Nase und wartete auf das Ende des Sturms.

Normalerweise fiel ihm immer Sex ein, wenn er neben einer Frau saß. Diesmal merkte er irgendetwas anderes als Sex. Es war komisch, denn eigentlich kannte er nur wenig andere Varianten so nahe bei einer Frau. Sie wirkte so jung, so zerbrechlich, als ob er sie mit einer Hand zerdrücken könnte. Sogar ihre blasse Haut schien empfindlich, wie sehr dünnes Porzellan, wie sehr feiner Stoff…

Theresas Problem neben ihm war, dass er in ihr Gesicht sah, und es schaute furchtbar aus. Es beschäftigte sie, dass Bäche ihr Gesicht hinunterliefen und vielleicht Abgedecktes freischwemmten. Er brüllte sie aber nicht an. Das Udo-Krokodil hätte wer weiß was alles gesagt.

Das Aussehen war für ihn normal, Menschen, die heulten, sahen eben so aus. Es war Mitleid erregend, bedauerlich, musste betreut werden. Aber Wolfgang war im Zweifel, wie er mit diesem anderen, das da in ihm war, umgehen sollte. Er hatte zu wenig Erfahrung damit. Nicht Sex, nein, aber Sex war sonst immer beruhigend. Ihn beruhigte er jedes Mal.

Sie schniefte laut und heftig in sein Taschentuch. Wenn er ihr zerstörtes Gesicht aushielt, würde er das auch aushalten. Er sah aus, als ob er Verständnis hätte. Vielleicht konnte man mit ihm auch reden?

Wolfgang suchte nach einem zweiten Taschentuch. Keines da. Er ging an seine Immer-alles-drinnen-Tasche und bot ihr ein Stück Küchenrolle, das andere Taschentuch musste inzwischen unerträglich nass und glitschig sein.

Sie begann, abgerissen zu reden. „Ich versteh einfach nicht, warum sie Rita umgebracht haben. Warum haben sie gerade sie auf den Kopf geschlagen? Wer kann geplant haben, sie zu ermorden? Nichts an Rita war irgendwie gefährlich.

Kann sie zufällig umgebracht worden sein?

Das Ganze ist Unsinn. Irrtümlich auf jemanden einschlagen, das kann doch nicht möglich sein, wenn man zuerst einen Stein aus der Decke brechen muss. Da muss einer etwas geplant haben. Ich versteh aber nicht, warum er geplant hat, gerade sie umzubringen.

Sie kennen ja Rita nicht, aber ich sag Ihnen, Rita war brav. Sie war einfach brav. Sie war nicht so dumm, hätte manchmal schon denken können. Aber sie war überhaupt nicht gewöhnt, dass das jemand von ihr wollte. Sonst hätte sie auch brav gedacht, sozusagen in Pflichterfüllung eigene Gedanken gehabt.“

Wolfgang vermutete, dass sie vom Verhör kam und dort einiges aufgeschnappt hatte, gute, verwendbare Information. „Sie ist also mit dem Stein erschlagen worden?“

„Ja, hat Herr Graumann gesagt. Der Stein ist nicht runtergefallen, er wurde herausgebrochen. Extra wegen Rita. Sie hat sich wahrscheinlich verlaufen und ist dort auf etwas getroffen. Vielleicht etwas, das sie nicht sehen sollte.“

In Wolfgangs Erfahrungsschatz entstand Unruhe. Der Stein war herausgebrochen worden. Wenn das die Polizei sagte, war das sicher ernst zu nehmen. Nur, wie sollte das möglich sein? Dass jemand den Stein herausgebrochen hatte, um Rita zu erschlagen, war unmöglich, er hatte das Loch gesehen, in über vier Metern Höhe.

Sie hatte sich dorthin verlaufen, gut, das war sehr wahrscheinlich. Aber dann? Das konnte nur jemand mit einer Leiter herausgebrochen haben. Einzig die Vorstellung wäre möglich, dass der, den Rita gesehen hatte, gerade auf einer Leiter stand.

Also, da stand einer auf einer Leiter und tat etwas, was keiner sehen sollte, mitten in der Nacht. Er musste die Stelle untersuchen, sobald der Zugang wieder freigegeben war. Und dann kam Rita angelaufen und der Täter musste schnell handeln, um sie zu erschlagen. Das klang komisch, aber auf einer Leiter hat man oftmals nichts Passendes, um jemanden zu ermorden. Manchmal hat man einen Hammer, aber längst nicht immer. Der Mörder konnte mit dem Stein auch hoffen, dass es als Unfall durchging.

„Von zwei Metern Höhe haben sie sie erschlagen“, schluchzte Theresa.

Passt genau, dachte Wolfgang. „Wieso gerade genau zwei Meter?“

„Hat Graumann so gesagt.“

Also da stand einer auf der Leiter, sah Rita kommen, brach den losen Stein aus der Wand, beugte sich hinunter und erschlug sie. Hatte vielleicht vorher noch gesagt, dass er Restaurator sei oder etwas in der Art, denn sie mussten sich ja unterhalten haben, sonst wäre Rita nicht stehengeblieben, bis er oder eventuell sie den Stein aus der Decke gebrochen hatte.

Was hatte der dort auf der Leiter tatsächlich getan? Was konnte der oder die auf der Leiter dort gemacht haben? Wolfgang wünschte sich, das genau zu wissen, sehr genau. Irgendetwas sagte ihm, dass der Mord und der auf der Leiter mit seinem Auftrag zu tun hatten. Er konnte aber noch nicht nachschauen gehen, ob es da irgendetwas gab, das er finden sollte. Dort war noch abgesperrt.

„Ponhomy wurde auch erschossen“, schluchzte Theresa. „Von rückwärts aus drei Metern Entfernung. Deswegen konnte es kein Jagdunfall sein, sagt Graumann.“

Graumann hatte sich von einer Menge Information getrennt. Warum wohl?

Ob er mit Graumann reden sollte, ihm auf den Zahn fühlen, ihn vielleicht einweihen? Sein Abteilungsleiter war strickt dagegen gewesen. Keine Informationen an niemanden! Ok, einmal in Ruhe überlegen, ob er sich daran halten würde.

Ein weiteres Blatt von der Küchenrolle wanderte zu Theresa. Die Tränen wollten nicht aufhören zu kommen. Immer neue stiegen, angetrieben aus der Seele, in eine Sammelstelle irgendwo zwischen Nase und Augen und liefen dann ins Tal, ohne Rücksicht auf die Abdeckschichte. In den Rinnen wurden bläuliche und rote Stellen sichtbar, die das Makeup verdeckt hatte.

„Was hast denn du mit deinem Gesicht gemacht?“, fragte Wolfgang.

Theresas Schluchzen wurde daraufhin heftiger, lauter und immer weniger zu halten. Die Tränen wuschen ihr Gesicht, und der Fleck am Jochbein zeigte alle Farben. Wolfgang sah sich die Sache ganz genau an und hatte Erinnerungen an seine Zeiten mitten in der menschlichen Gewalt. „Wer hat dich denn verprügelt?“, fragte er direkt.

Sie brauchte ein weiteres Blatt von der Küchenrolle.

Schließlich kam zwischen Stößen von Luft. „Ach, auf der blöden Party.“

„Was war da?“

„Die sind alle ausgerastet. Ich wollte den Job nehmen, weil er gut bezahlt war. So eine Reiche-Buben-Party.“

„Und was hast du dort gesucht?“

„Aufputz. Dekoration.“

„Das glaubst du doch selber nicht. Die brauchen Frauen nicht zum Anschauen.“

„Das war eine Geburtstagsparty in einem Penthouse und war von der Mutter organisiert. Die ist zu meiner Agentur gekommen. Wollte irgendwie ordentliche Mädchen.“ Sie sah ihn mit ihren großen dunklen Augen an, die Nase tropfte noch immer. „Udo zahlt extra, wenn wir auf solchen Partys seine Kleider herzeigen.“ Es war ein doppelt bezahlter Abend gewesen.

Es war hart, aber doppelt bezahlte Abende musste man nehmen. Er würde so etwas nicht verstehen. Aber genau besehen, würde sie wieder hingehen, nur die Zeichen früher wahrnehmen. Sich mehr auf ihre Witterung verlassen. Gleich beim Kommen, wenn alles noch normal wäre, würde sie das nächste Mal schauen, wie man zeitgerecht verschwinden konnte. Richtig verschwinden war das Wesentliche, wenn sich etwas zusammenbraute.

Im Klo einsperren reichte nicht und hätte an dem Abend auch nicht gereicht. So wie sie das auf der Party erlebt hatte, traten die auch die Klotüre ein, wenn sie sie haben wollten. Aber man durfte Angst nicht alles bestimmen lassen, musste lernen, mit solchen Sachen umzugehen.

Wolfgang sah das Szenario auf der Party vor sich. Betrunkene Gewalt, die sich langsam aufschaukelte. Vielleicht von Kokain oder Amphetaminen angeheizt. Ausbruch von irrationaler Wut ohne Anker, Größenwahn und Machtgefühle im Rudel verstärkt, die Prügel waren wohl nur der Beginn gewesen. Er konnte das aber nicht einfach hier am Gang in dem alten, kalten Gemäuer abhandeln, konnte kaum höflich fragen, wie es denn war. Beim Gedanken, was sich da wohl alles abgespielt hatte, kroch ihm kalte Wut in den Rücken und in die Schultern.

Er hielt es für vernünftig, jetzt und in dieser Situation nicht weiter zu bohren. Er holte sie zum Thema Rita zurück, weg von ihrer eigenen Zerstörung zu der von Rita. „Graumann ist sicher, dass Rita ermordet wurde?“, fragte Wolfgang.

„Ja, beide sagt er.“

„Und warum?“

„Graumann sagte nicht, warum. Ich denke, wenn einer aus drei Metern in den Rücken geschossen wurde, war der ja nicht zu übersehen, deshalb war es Absicht. Warum wissen die vielleicht auch noch nicht.“ Theresa stand auf, bevor ihr ganzes Inneres eisig wurde, unterkühlt von der steinernen Treppenstufe, auf der sie saß. Wahrscheinlich war sie eher auf der Flucht vor allzu kalten Gefühlen. „Ich glaube, ich muss mir die Fassade reparieren. Wenn mich Udo so erwischt, bin ich den Job los“, sagte sie und ging schnell. Wolfgang blieb mit der Leiter zurück, die Taschen voll mit kleinen Kameras und hochempfindlichen Mikrophonen und die Seele voll mit einem seltsamen Gefühlsnebel.



Ein Kleid aus Seide

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