Читать книгу Ein Kleid aus Seide - Sanne Prag - Страница 5

VORMITTAG DANACH

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Sie hatte tatsächlich das Zimmer mit Ariane gefunden, indem sie versucht hatte, Udo und Rod nicht aus den Augen zu lassen, die beiden verbissen zu beschatten. Immer wieder hatte sie der Gedanke verfolgt, dass sie, zwischen Kameras und ausgeschalteten Scheinwerfern übriggeblieben, auf diesem scheußlichen Hocker oder am Boden schlafen musste.

Unter Aufbietung aller Kräfte hob sie glücklich lächelnd beide Arme, das gesündere Bein angewinkelt – ein Scheinwerfer simulierte die Sonne dazu - und sie hörte das letzte leise Klicken der Kamera. Schnell, ganz schnell ihre Tasche aufheben und in den Seidenkimono wickeln, und alles, ohne Udo und Rod aus den Augen zu lassen. Das Zimmer hatte inzwischen eine ungeheure Wichtigkeit, eine immense Bedeutung. Es fühlte sich an, als ob Blut aus ihr herausrinnen würde.

Das Zimmer und die Badewanne waren ihr Anker um 5 Uhr früh gewesen. Wie eine Erlösung, Stunden der Ruhe.

Um 10 Uhr rappelte es heftig an der Zimmertüre. Udo brüllte: „Fertig in 25 Minuten.“ Er hatte vergessen, zu brüllen, wo sie sich einfinden mussten. Theresa zog etwas Simples an. Ariane stand vor dem Spiegel. Sie hatte immer das Gefühl, sie musste mit Sorgfalt auftreten. Ariane war schon ein bisschen älter – so wahrscheinlich 26 – und jedes Jahr mehr machte ihr Panik, den Job zu verlieren. Daher dauerte es länger. Theresa wurde unruhig. Sie hatte Angst, zu spät zu kommen.

Dann machten sie sich auf den Weg hinunter.

Die oberste Etage war niedrig, aber tiefer unten wurde in diesem Haupthaus alles größer und mächtiger, wie in der Burg ja auch. Riesige Gänge in Stein. Die Zimmer waren vor allem im obersten Geschoß sehr klein mit enorm dicken Wänden. Ein bisschen weniger Wand und dafür mehr Zimmer hätte sie besser gefunden. Dann wäre vielleicht auch Platz für mehr Badezimmer geblieben. Sie alle mussten ein Gemeinschaftsbad am Gang benützen, und sie hatte am Vorabend rücksichtslos die Türe abgesperrt, um alles abzuwaschen, was abzuwaschen war.

Als sie nun in die Tiefe stiegen, hörte sie fernes Stimmengemurmel. Wo nur konnten sie Udo finden? Ariane war auch ratlos. Rita irrte am Gang herum und schloss sich ihnen an. Rita brauchte man gar nicht fragen, die wusste sicher nichts. Die wollte immer selbst geführt werden.

Sie schauten in den Raum, wo das Gemurmel herkam. Sollten sie dort Udo treffen? Großer Saal, großer Empfang mit Gläsern in der Hand. Theresa begann zu überlegen, dass Udo wahrscheinlich doch die Gelegenheit wahrnehmen wollte, um seine Tageskreationen herzuzeigen. Sonst hätte er sie nicht aufgeweckt. Sie nahm Ariane und Rita an der Hand. „Ich glaube, ich weiß es, wir müssen doch zur Mode.“

Sie liefen in die Burg und zum Kleiderfundus. Keuchend kamen sie an, gerade nur ein kleines bisschen zu spät. Inge händigte die Tagesmodelle aus. In jeder Hand eines, stand sie vor den Mädchen. Theresa schaltete blitzschnell und griff nach dem mit den Ärmeln, das eigentlich für Ariane gedacht war. Das war günstig. Blickdichte gelbe Strümpfe und eine rostfarben und gelb gestreifte Samenkapsel auf den Kopf, mehr Kopftuch als Krone. Sie schaute in den Spiegel. Die Augenfarbe war nicht optimal.

Sie hatte sich für solche Momente einen Fundus an Kontaktlinsen angelegt, in vielen Farben. Rostbraun fand sie am besten, rostbraune Augen zu den rostbraunen Streifen auf der Samenkapsel, - schließlich wollte sie das Modell behalten, nicht umziehen müssen.

Udo war zufrieden. Sie konnte zum Empfang, Ariane musste umziehen. Zwei Mädchen mussten gehen, weil sie zu spät gekommen waren.

Sie ging durch den Saal mit den Käfern und den Rüstungen. Eines von den Eisengewändern hatte den Speer in der Brust stecken. In der Nacht war das noch nicht gewesen. Oder doch? Sie wusste das nicht ganz genau. Sie hatte beim Anblick der aufgespießten Käfer geschaut, ob denn die Rüstungen auch aufgespießt waren. Waren sie da doch noch nicht gewesen. Oder doch? Jetzt jedenfalls war eine aufgespießt wie ein Käfer…

Sie musste einen Blick auf die seltsame Maske in der Vitrine werfen, bevor sie arbeiten ging. Es zog sie förmlich dorthin. Die lag ganz still. Theresa schaute sehr genau – immerhin hing der Zustand ihres Geistes davon ab.

Hatte sie die hellblauen Augen in der Nacht geöffnet gesehen oder war das Erlebnis eine Folge ihrer geistigen Verwirrung? Die Maske war ganz still, tat gar nichts, so sehr Theresa sie auch anstarrte.

Der Cocktailempfang hatte die Aufgabe, die anreisenden Jagdgäste zu sammeln. Theresa sah ihre Arbeit darin, als Dekoration anwesend zu sein, wie die Bilder an der Wand. Sie wusste sehr genau, wie man sich wie ein Bild verhielt. Man stellte sich vor einen Hintergrund, der passte und vom Licht her richtig war, und schaute freundlich aber leer. Das war genau der richtige Job, denn die Schmerzen waren seit dem Vortag nicht weniger geworden. Elegant herumstehen war ein guter Zustand.

Udo kam zu ihr. Sie wäre lieber allein geblieben, aber er brauchte immer ein Modell als Darstellung seiner selbst. Was für andere Autoschlüssel, Designeranzüge, Häuser waren, war für ihn ein Modell an seiner Seite. Wichtig war in diesem Fall besonders, dass das Kleid sehr auffallend sein musste, die Dame darin aber nicht wesentlich, nicht persönlich. Kein Auge sollte sich zu ihrem Gesicht verlaufen, an ihrer Schulter hängen bleiben. Ein völlig neutraler Ausdruck, bewegungslos, denn das Verziehen der Gesichtsmuskel lockte Blicke an, lockte sie weg von den Kleidern.

So stand sie und hielt ihr Glas. Theresa hatte dafür gesorgt, dass ihr Getränk in der Farbe passte.

„Das ist die Frau von Ponhomy“, sagte Udo neben ihr. Theresa sah eine sehr große, dünne Blondine. Sie küsste ihren Mann zärtlich. War wohl früher Model gewesen. Sie überragte ihn um einen halben Kopf und bewegte sich ziemlich hektisch. Es schien fast, als ob sie ein paar charmante Bemerkungen rechts und links in die Menge warf, wie ein Tennisspieler seine Schweißtücher. Dann eilte sie wieder aus dem Saal in den Hof, Leute empfangen.

Theresa wechselte langsam das Bein. Das durfte man, dadurch wurde das Kleid sanft bewegt.

Ariane war da, in taubenblau. Und Rita hatte ein Rotes. Ihre Samenkapsel war besonders frech.

Theresa und Udo standen neben einer Türe. Ponhomy ging an ihnen vorbei. Er blickte düster, wahrscheinlich wollte er einen Kellner demütigen. Gleich hinter der Türe hörte sie ihn einen wütenden Satz zischen. Er bekam daraufhin eine kalte Frage – „Und wie stellst du dir das vor?“ – von einer weiblichen Stimme. Hatte wohl ein Problem mit der Gattin, oder?

„Nicht ich stell mir was vor, du stellst dir etwas vor. Du brauchst nicht glauben, dass du alles umsonst bekommst. Du wirst schon selber auch etwas tun müssen.“ Das klang kalt und bösartig, schon oft gesagt.

„Das geht aber nicht, ich könnte nicht genug Bargeld auftreiben“, sagte die Frauenstimme ruhig aber angespannt.

Leise und bösartig zischte Ponhomy: „Das ist mir wirklich völlig wurscht. Du machst das einfach und lässt dir etwas einfallen. Sonst, denke ich, werden dir die Folgen unangenehm sein.“

Theresa neben der Türe hatte Ohrenklirren, schrillen Alarm. Geld!

Ob Udo den Dialog auch gehört hatte? Er stand weiter weg von der Türe als sie. Wenn die Geldprobleme hatten, war die Gage in Gefahr! Udo war aber gerade im siebenten Himmel, weil seine Modelle bewundert wurden, und konnte sich mit so weltlichen Banalitäten wie Geld nicht abgeben. Theresa war gestresst. Wie konnte sie sich besseren Überblick verschaffen? Einfach ihre Position verlassen ging nicht.

Sie beruhigte sich, so gut es ging. Es wäre ja schließlich auch möglich, dass das, was sie da gehört hatte, bloß eine Erpressung war. Das war dann nicht gefährlich. Oder schon, möglicherweise, aber nicht für ihre Gage. Sie musste sich nicht gleich aufregen, nur weil irgendjemand von irgendjemandem Geld wollte.

Zwischen den Menschen der Jagdgesellschaft liefen Reporter herum. Reporter erkannte sie inzwischen schon von weitem. Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum über diese Mode berichtet werden musste. Irgendwelche unförmigen Sachen mit vielen sehr komplizierten Nähten. Die Reporter bekamen wahrscheinlich ein bisschen etwas für den Bericht. Es gab wohl auch so etwas wie Sponsoren für Zeitungen, überlegte sie.

Dann fiel ihr auf, dass Udo gerade sein „unberührtes“ Gesicht machte. Eine Reporterin kam auf ihn zugerauscht. Bei Interviews sprach er immer so durch die Nase. Theresa machte auf Statue, sie wusste, das war jetzt während dieses Interviews wichtig.

Was er denn zu der neuen Kollektion von Gaultier sage, wurde er gefragt. Theresa fand das eine sehr freche Frage. Udo bewältige es aber gut. „Hübsch, sehr hübsch“, sagte er durch die Nase. „Schöne Kleider. Nur Frau Wagenbrecht hat ein wenig zu alt darin ausgesehen.“ Frau Wagenbrecht war immer wieder einmal Kundin. War sie abtrünnig gewesen? In einem Modell von Gaultier?

Rita kam und stellte sich zu Udo. Sie wusste auch, was Udo verlangte, prachtvoll in Rot, deutlich sichtbar die Leute überragend. Blonde Haarsträhnen lugten schick aus der roten Samenkapsel–Krone. Sie machte so auch ein schönes Bild, genau wie Theresa an Udos Seite. Umrahmt von seinen Modellen war er zufrieden.

Theresas Gedanken nahmen wieder ihre Wanderung auf. Am Vortag hatte Rita wieder von ihrem Leben erzählt. Rita war einfach, sie dachte gar nicht kompliziert, meist gar nicht. Sie kam von einem Bauernhof, aus einer Welt von Regeln. Dort hatte, scheint es, keiner von ihr gewollt, dass sie dachte. Es gab Arbeit und Vorschrift und sie hatte zu tun, was ihr gesagt wurde. Was sie wollte, war kein Thema gewesen, deshalb machte sie den Job gut. Sie erfüllte Forderungen widerspruchslos. Aber heimlich hatte Rita große Sehnsucht nach einer gesellschaftlichen Ordnung, denn sie wollte gerne einen Mann. Lange Monate hatte sie von dem Mangel berichtet, es war ein Problem und immer wieder ein Problem gewesen. Aber jetzt war sie sehr glücklich. Irgendein Südländer mit wichtiger Familie hatte sie begehrt und begehrte sie weiterhin. Er warb seit einem Monat um sie, mit Einladungen und schönen Geschenken, höflich, elegant und sehr bemüht…

Die Reporterin fragte Theresa, ob das Kopftuch von Ghana stamme. Sie habe solche Tücher dort gesehen.

War Ghana eine andere Modelinie? Da musste Theresa sehr aufpassen, sonst hatte das Udo–Krokodil sie am Kragen. Was um Gottes Willen war Ghana? Sie schaute so leer wie möglich. War das etwas, das man kennen musste? Das Sicherste war „nein“, simpel nein zu sagen, war am ungefährlichsten.

Gott, sind diese Mannequins dämlich, dachte die Dame von der Zeitung.

Da kam Frau von Ponhomy wieder in den Saal gestürmt, an Theresa vorbei lief sie zu Udo. Sie schien immer ein bisschen außer Atem. Ihre weißlich helle Mähne war zerzaust. „Sie haben mir gestern ein Angebot gemacht.“

Jetzt schaute Udo leer, er konnte sich wohl nicht mehr erinnern.

„Ich darf mir eines aussuchen“, half sie ihm. Da hatte er sogleich den Verkaufsblick – völlig auf die Kundin konzentriert. Ihre Figur mit seinen geschulten Augen umfassend, ihre Wünsche erfühlend, alle Fäden in der Hand. Sie zeigte auf Rita: „Dieses Modell.“

Udo versprach beflissen Änderung, Anpassung an ihren Körper. – Nein, sie musste morgen zu einer Modeschau. Da wollte sie sein Modell tragen, extra seines, das passte wohl, so wie es war – was wäre der Nachlass?

Neben Theresa waren Verhandlungen in Gang. Es wogte hin und her. Langsam krochen die Schmerzen an ihr hoch. Jeder Zentimeter ihres Körpers begann an ihrer Seele zu nagen, sie zu schwächen, niederzudrücken, ihr die Schäbigkeit ihrer Existenz bewusst zu machen. Half das dem Verkauf, wenn sie hier und jetzt zusammenbrach?



Ein Kleid aus Seide

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