Читать книгу Ein Kleid aus Seide - Sanne Prag - Страница 9
FRÜH
ОглавлениеTheresas Flecken schillerten in allen Farben, aber die Schmerzen waren weniger geworden. Es gab Frühstück zu den Zimmern. Das musste sie zwar selber zahlen, aber sie machte sich gerne auf die Suche.
Durch breite, hohe Gänge, die Treppen hinunter führte sie der Weg bis in ein entlegenes Zimmerchen, das nach Kaffee roch. Die Bautechnik von Burgen und Nebengebäuden schien ihr immer aufs Neue fragwürdig, ließ zu wünschen übrig. Ein winziges Frühstückszimmer, so hoch, dass man zwei Zimmer hätte übereinanderstellen können, war nicht praktisch. Auch ein bisschen düster fand sie es. Frühstückszimmer hatten hell und freundlich zu sein und nach frisch gebackenen Semmeln zu riechen, damit sie ihre Anerkennung fanden.
Plötzlich schrille Schreie.
Schrille Schreie waren in der Früh verboten, keine gute Sache. Vorhut von Unannehmlichkeit. Theresa musste also nachschauen gehen, ob sie wollte oder nicht. Eigentlich wollte sie nicht. Sie wollte in Ruhe ihre Semmel essen. Aber die Schreie gingen in heftiges Schluchzen über, gequälte, hilflose Laute. Da war etwas passiert.
Theresa wanderte in Richtung der Laute, wieder entlang an dem mächtigen Gang, und als sie um eine Ecke bog, sah sie auf ein gespenstisches Bild. Im Gang lag ein Körper, in eine hellgrüne und dunkelblaue Robe gehüllt, wie eine Blume, gerade eben aus einem Strauß gefallen, auf diesem dunklen, kalten Steinboden. Daneben stand eine junge Frau mit einer Thermoskanne vor der Brust und schrie laut. Es lag auch ein großer Sandstein in Form eines kleinen dicken Hundes daneben. Stückchen des hellen Steines hatten sich auf dem dunklen Boden verteilt. Ein bisschen Blut klebte an ihm und am Boden. Sie blickte nach oben auf ein Loch nahe der Decke.
Was Theresa fiebrige Schauer über den Körper jagte, war, dass sie das Kleid kannte. Sie hatte es erst gestern an Rita gesehen, als die sich heimlich zu Futzi davonmachte und von ihr wissen wollte, ob sie schön genug war für einen Heiratsantrag. Sie hatte sie seit dem Zeitpunkt nicht gesehen und hatte vermutet, dass sie, aus Liebe schwach geworden, bei ihm blieb, und er hätte vergessen, dass er sehr katholisch war.
Die junge Frau mit der Thermoskanne schluchzte und schrie, und es wurden immer mehr Menschen, die einen Kreis bildeten. Theresa kniete sich neben den Körper und sagte leise: „Rita.“ Dann noch ein wenig lauter: „Rita.“ Sie nahm ihren Arm und spürte ihn kalt und hart. Das war der Tod. Rita war weg aus dem Leben. Das Schicksal hatte Rita einen Stein an den Kopf geschmissen. Und sie hatte gehen müssen, in die andere Welt. Sie konnte Rita nicht mehr helfen.
Ein Mann drängte sich durch die Menge, auch er nahm Ritas Hand, aber die war steif.
Theresas Gelenke fühlten sich fest und hart an. Genau wie Ritas, dachte sie. Aber wie um Gottes Willen war Rita hier in diese dunkle Ecke des Ganges gekommen? Was suchte sie an diesem entlegenen Ort?