Читать книгу Ein Kleid aus Seide - Sanne Prag - Страница 4
SPÄT NACHTS
ОглавлениеDie erste Kamera-Einstellung, die ersten Bilder waren geschafft, aber sie wusste, dass sie im Moment keine mehr schaffen würde. Sie setzte einen sehr verlorenen Blick in ihre Augen und ging aus dem Raum in eine dunkle Halle. Flucht vor der Wiederverwendung, scheinbar Richtung WC.
Da standen Rüstungen und Glaskästen mit aufgespießten Käfern, Tote an der Wand und Tote unter Glas in übrig gebliebenen Panzern aus Eisen oder Chitin mit dem Speer noch mittendurch. Die Rüstungen, die Leben schützen sollten, entlang der Wände und in den Vitrinen aufgereiht als Schauobjekte, aufgespießt. Die Schutzhüllen waren einmal Lebensgrundlage gewesen, jetzt nur mehr Deko, abgewirtschaftet, mit Staub drauf, Ritter wie Käfer.
Was die Männer in Rüstung wohl damals gedacht hatten, wenn sie entlang der Vitrinen zum Tournier geschritten waren? Ob sie sich auch so aufgespießt gesehen hatten? Zuerst tot und dann Dekoration wie diese Käfer, für alle die zufällig da waren. Der Tod - ein interessantes Ereignis für Leute in eleganten Kleidern. Der Tod beim Tournier war wohl Rahmen für die Kleider, die ja Anlässe brauchten, um angezogen zu werden. Das Ende eines Lebens als nebensächliches Ereignis am Rande einer Modenschau. Therese fragte sich, ob das die Ritter in dieser Burg auch als so komisch gefühlt hätten wie sie. Es kam ihr ungereimt vor, die falsche Wichtigkeit.
Sie erweckte weiterhin den Anschein, als ob sie gerade ein WC suchen ging. Für wen? Keiner sah sie. Da war niemand. Sie schaute an den Wänden entlang in die Nischen.
Sie hatte mit Heinz einen Flüsteraustausch wegen des Knies gehabt, fertig in eine auberginefarbene, glatte Robe gehüllt, mit glatten, langen, auberginefarbenen Handschuhen, die ihre Flecken an den Armen gut verdeckten. Sie hatte ihm gesagt, dass sie gerade über den Randstein gekippt war und ihr Knie anschwelle. Er verstand – keine Extremstellungen mit dem Knie. So etwas gab es eben, konnte passieren. Sie war vorübergehend in Sicherheit. Der kühle Gang ließ ihre Angst vorm Schwitzen kleiner werden. Sie musste nur aufpassen, dass das Kopftuch nicht verrutschte. „Wie Samenkapseln“, hatte Udo gesagt. Es verdeckte die Haare großteils, und gleichzeitig lugten sie an Ecken und Spitzen sichtbar hervor aus der kunstvollen Pracht am Kopf, manchmal in einer anderen Farbe als die Haare darunter. Kopftücher als Zentrum der Modelinie. „Könnte ein Erfolg werden“, hatte sie Udo zu einer Assistentin sagen gehört. „Man spart den Friseur.“
Sie sah in das Glas einer Vitrine, um zu klären, ob eine ihrer Schadstellen sichtbar geworden war. Sie bildete sich ein, dass der Fleck am Hals sich deutlicher abzeichnete. Wenn der noch dunkler wurde, war er nicht mehr zu übersehen. Vielleicht konnte sie Udo infiltrieren, Streifen für den Hals, Halskrausen oder Spitzenstreifen der Kopftuchlinie hinzuzufügen?
Sie schaute in eine andere Vitrine, um sich von ihren Schmerzen abzulenken.
Da lag eine Maske, das Bild eines sehr alten Mannes. Die Maske eines Greises, sehr hell, fast weißlich, Porzellan vielleicht. Mit geschlossenen Augen lag er da, wie schlafend, zwischen ausgestopften Tieren und seltsamen Musikinstrumenten. Ein leises Lächeln auf den Lippen, schien er friedlich zu schlafen, still, ohne Forderung. Sie versenkte ihren Blick in sein ruhiges Gesicht, in die feinen Falten, wie Plissees vom zu heißen Bügeln. Die Bilder vom Vortag kreisten fern wie im Reigen. Sie in der Mitte hielt die Gesichter auf Abstand, ein Zauberbann, der viel Kraft kostete. Sie ließ sich sanft in den Schutz dieses Vatergesichtes gleiten. Fünf Minuten Ruhe, bevor sie sich wieder der siedenden Welt gegenübersah. Seine stillen Züge genießend, wie eine weiche, leichte Decke – da öffnete er die Augen.
Die Maske öffnete die Augen – sehr hellblaue Augen. Sie schauten aus dem Glas wie frisch erwacht.
Therese war elektrisiert. Fing sie jetzt schon zu spinnen an? Das konnte sie sich nicht leisten. Spinnereien musste man sich leisten können.
Die Maske schloss die Augen wieder, und es war, als ob nichts gewesen wäre. Sie verharrte noch zwei Minuten.
Zwei Minuten sind sehr lange, wenn man in Erwartung auf einen bestimmten Punkt starrt. Die Augen blieben geschlossen, als ob nichts gewesen wäre. Ihr hungriger Blick wartete auf ein Zucken der Lider, ein Verändern des Mundes. Da war nichts.
Hatte sie Halluzinationen?
Sie musste zurück.
Sie musste zurück und hatte noch immer keine Ahnung, wo das WC war. Und da gab es blaue Augen, die sie ansahen, oder gab es die nicht?
Der hell erleuchtete Saal hatte sie wieder. Überall heiße Scheinwerfer, darüber weiße Lichtpunkte im Hitzenebel. In der Mitte stand eine Gruppe um einen Mann, den sie nicht kannte. War es gut hinzugehen, oder sollte sie sich besser still in eine Ecke setzen?
Er war hellgrau und einheitlich angezogen. Wer war der? Kein Star. Sie hatte gelernt, grau angezogen waren meist nicht die männlichen Stars. Stars waren weiß glitzernd, schwarz oder bunt. Sie war noch zu keinem Entschluss gekommen, als Heinz aus der Gruppe rief: „Theresa komm, du bist gefragt.“
Langsam ging sie hin, eine starke Spannung im Steißbein. Sie musste sich völlig gerade halten, ihr Gang sollte leicht wirken, schwerelos. Die Schmerzen bremsten den Schritt. Kunstgriff der Leichtigkeit: Sie hatte gelernt, wie leichte Schritte auszusehen hatten. Sie hob die Beine wie eine Marionette an Fäden. Es war wichtig, denn da schien es einen Job zu geben. Sie wusste, da würde ein Angebot kommen. Die Schmerzen schütteten Stoffe in ihren Körper, wie Alkohol. Sie wurde leichtfertig. Schwerelos leichtfertig, völlig unrealistisch. Sie würde jetzt und hier um die Gage pokern.
Udo sagte: „Das ist Walter von Ponhomy. Ihm gehört die Burg. Hier wird ein Film entstehen. In den Mauern und im Park wird gedreht werden und wir sind mit dabei. Er hat uns engagiert und wir werden unsere Modeschau als Teil des Filmes zur Verfügung stellen. Aber außerdem möchte er, dass einige von unseren Damen sich beim Dinner unter die Gäste mischen. Dekor, Glamour, die Freude am Schönen.“
Das war eine andere Form von zusätzlicher Arbeit „zu den üblichen Preisen“. Nein! Diesmal nicht. Sie raffte alles an Selbstbewusstsein zusammen, das sie greifen konnte und fragte still: „Wie soll das sein?“
Theresa überragte die Runde, weil kein anderes Mannequin dabei stand. Sie wirkte überzeugend in dem dunklen, glatten Kleid und ihrer Samenkapsel-Krone. Aufrecht, ausdruckslos und einen Kopf größer als die anderen.
Udo sah Walter von Ponhomy an, er reichte die Frage weiter – wie sollte das sein?
Nun, der war ein wenig überrannt, ein wenig zu schnell gefragt. Aber er war Geschäftsmann genug, um solchen Situationen gewachsen zu sein, dachte er. Er begann, sich festzulegen. „Gewohnt wird im Haupthaus, die Dreharbeiten beginnen in der Früh und laufen bis Abend durch, manchmal bis in die Nacht. Jeder bekommt einen Zeitplan, wann er anwesend zu sein hat, am Filmset und für Empfänge im Haus. Einen Termin nicht erfüllen bedeutet Vertragsbruch. Die Dreharbeiten werden ungefähr vierzehn Tage dauern“, ratterte er herunter.
Theresa hatte einmal gehört, dass solche Dreharbeiten nie so verliefen wie geplant. Am Anfang, so hatte ihr eine Schauspielerin erzählt, hatten der Regisseur und der Produzent immer sehr klare Vorstellungen davon, in welch kurzer Zeit alles gut und geordnet in die Kamera zu bringen war. Diese Vorstellungen überholten sich nach einer Woche, waren nach zwei Wochen meistens indiskutabel. Das hieß, hier ging es um einen längeren Job, dessen Dauer nicht abzusehen war. Und die anfangs geplanten Einsätze stimmten nicht. Das Zauberwort hieß Tagesgage, keine Pauschale.
Sie sah Herrn von Ponhomy daher mit großen Augen vertrauensvoll an und sagte: „Aber ich nehme an, ich muss einen Vertrag für einzelne Tage unterschreiben.“
Von Ponhomy hatte sich darüber noch nicht den Kopf zerbrochen. Er war schließlich weder der Regisseur noch der Produzent. Er stellte seine Burg und die Mode zur Verfügung, und auch sein Hotel, und er würde beim Filmteam ein- und ausgehen und auch ab und an mit einer Schauspielerin schlafen... Aber er war nur teilweise Organisator. Zwischendurch würde er die Models für seine eigenen Veranstaltungen einsetzen, oder für seine eigenen Bedürfnisse, die Kosten trug der Film. So war das geplant. Er stimmte daher zu.
Theresa wirkte nachdenklich, sie strich ihre Handschuhe glatt. „Ich denke, dass ich in der Zeit kein anderes Engagement annehmen kann, und jetzt müsste ich wissen, wann das stattfinden wird und wie viel ich jeden Drehtag bekomme.“ Ruhig und sachlich.
Von Ponhomy war überfordert, hatte das Bedürfnis, sie einfach niederzubrüllen, aber gleichzeitig das Gefühl, dass er das unter den Augen all der Anwesenden nicht tun konnte, nicht ohne Prestigeverlust. Er hatte sich aber mit den Details noch nicht auseinandergesetzt. Wie sollte er eine Entscheidung treffen, wenn er keine Ahnung hatte. Er musste aber antworten, diesem dummen Luder. Gott, waren diese Modepuppen dämlich! „Liebes Fräulein, das wird auch nicht anders sein wie eben jetzt. Sie haben hier auch einen Tagesvertrag und eine Tagesgage und so wird es auch am Filmset sein“, meinte er scharf und ungehalten, wie man mit blöden Fragen eben umging.
„Ich wollte nur klar sehen, für mich, ob weiter zu gleichen Bedingungen gearbeitet wird hier in der Burg. Aber wenn Sie es mir sagen, dann bin ich beruhigt, dass die gleichen Bedingungen weiterlaufen“, lispelte Theresa mit kleinem Stimmchen. „Wann muss ich denn unterschreiben und wann beginnen die Dreharbeiten?“
Sich mit geistig Minderbemittelten herumzuschlagen, gehörte wohl zu solchen Projekten, sagte sich Ponhomy. „Morgen früh reist eine Jagdgesellschaft an, die bleiben übers Wochenende und ab Montag kommt das Filmteam. Die Arbeit beginnt also morgen“, sagte er schroff. Im Hinausgehen meinte er noch: „Verträge also zeitlich morgen früh.“ Er hatte hier das Sagen und wollte die Sache schnell in den Kasten bekommen.
Theresa dachte, dass sie die Situation für ihren augenblicklichen Zustand ziemlich gut hingekriegt hatte. Immerhin hatte Ponhomy vor allen, auch vor Udo gesagt, dass er zu den gleichen Bedingungen wie in dieser Nacht Verträge abschließen wollte. Besser ging es nicht. Sie wusste zwar nicht, was sie tun würde, wenn er sich dann an nichts erinnern konnte, aber sie hoffte auf Udo, und darauf, dass er auch interessiert war. Er sollte darüber wachen, dass die Abmachung eingehalten wurde.
Inge hatte ihr ein nachtblaues, kurzes Modell aus Samt ausgehändigt, ärmellos. Nicht nur ärmellos, stellte sie fest, mit großen Löchern wo der Ärmel hätte beginnen sollen und ihren Körper und seine Schadstellen vor kritischen Blicken schützen. Das war ein Problem. Inge hatte das letzte Modell an sie vergeben, für sie aufgehoben, weil sie nicht im Raum war. Panik kreiste im Hinterkopf. Das Modell so anzuziehen, war nicht möglich!
Theresas armes, müdes Hirn brummte. Es kam ihr vor wie eine uralte Lok, die einen elendig langen Zug auf den Berg ziehen sollte, einen steilen Berg. Ihr war schlecht, Müdigkeit umschlang sie wie eine Anakonda. Sie brauchte lange Handschuhe. Bei einem Samtkleid waren Handschuhe ja durchaus eine Möglichkeit, auch wenn sie eigentlich nicht vorgesehen waren. Es gab aber keine nachtblauen, das wusste sie. Ihr Kopf suchte fieberhaft nach Möglichkeiten, während ihr Körper sich in den Samt hineinwand.
Ihr Samenkapsel-Kopftuch war in mattem graugrün mit nachtblauen Samteinsätzen. Sie wusste, wo Inge ihren Handschuhfundus hatte. Sie schlich durch die Kleiderständer-Alleen. Während Inge eine Samenkapsel feststeckte, krallte sie sich den Karton.
Schnelle Durchsicht aller Lagen - nur ein einziges Paar Handschuhe kam farblich in Frage. Die waren zu kurz für ihren Defekt am Oberarm, reichten nur bis zum Ellenbogen, konnten daher den schwarzblau schimmernden Fleck nicht verdecken. Keine Zeit für komplizierte Lösungen. Sie schnitt ein Stück des Ansatzes von einem der Handschuhe ab und befestigte den über der Schadstelle. Eine Oberarmspange wie eine Keltin, ein längerer Handschuh links, der kurze rechts, und Udo musste man klar machen, dass das seine Kreation war. Asymmetrisch, bewegt, extrem…
Schnell – das nächste Problem. Es waren farblose Strümpfe vorgesehen. Knapp über ihren Knöcheln gab es rote Druckringe, wo die Hände an ihr gezerrt hatten. Sie wusste, Inge hatte nachtblaue Strümpfe in ihrem Fundus, die wenig durchsichtig waren. Sie verschwand zwischen den Kleidern, stellte die Handschuhschachtel zurück und lief mit der Strumpfschachtel davon. Nachtblaue mit Naht, wenig durchsichtig – schnell, die Zeit war am Auslaufen. Sekundengenau kam sie zwischen den Kleiderständern heraus. Da war schon wieder Besichtigung. Unschuldig stellte sie sich in die Reihe, den Arm über dem großen Fleck an der Rippe.
Udo hatte seinen Künstlerblick. Bei Theresa verharrte er. Theresa schaute so leer wie möglich. Drehte sich ein wenig, spielte mit der Handschuhkreation. Udo versuchte sich zu erinnern, wann er auf diese Form gekommen war. Es fiel ihm nicht ein, war wahrscheinlich ein Missverständnis, aber sah eigentlich interessant aus. Er musste nochmals darüber nachdenken.
Da kam Ponhomy zurück. Ihm war eingefallen, dass auch bei Ankunft der Gäste am Vormittag Damen in Udos Kreationen bei den Gästen stehen konnten, irgendwas würde er von Udo dafür verlangen. Und am Abend wäre dann die richtige Modeschau, Reklame für seine Burg und eine gute Einleitung zu dem neuen Filmprojekt. Udo sollte darüber nachdenken.
Die Stimmen waren in weiter Ferne für Theresa. Müdigkeit hüllte sie inzwischen ein wie ein Kokon. Sie spürte, wie sie langsam wegbrach. Die Gesichter vom Vortag drängten sich ins Bild. Ihre Abwehr schwächelte. Alle lachten durch ihre Schmerzen hindurch, besoffen, schrill. Sie konnte sehr schlecht sitzen, vor allem nicht auf diesem Hocker. Die Gesichter veränderten sich, bösartig schreiend. Es war ein Fehler gewesen, sich als Dekoration auf dieser Party anheuern zu lassen. Im gleichen Moment spürte sie die Hände an den Fußknöcheln, die Hände, die die schmerzenden, roten Druckstellen erzeugt hatten – und gleichzeitig kam wieder die Atemnot, der Druck auf der Brust. Dann war der da, den sie aus ihrem Kopf heraushalten wollte. Der, der auf ihrem Rückgrat kniete und ihr die Luft wegpresste. Er saß plötzlich vor ihren Augen, durch den Riss im Vorhang musste sie ihm zuschauen. Eisige Kälte breitete sich über ihren Körper aus.
Eine Fotorunde noch. Und was dann?
Udo kam zu ihr. „Sag den anderen, die beim Filmprojekt mitmachen, dass es Zimmer gibt – und morgen Abend ist ein Auftritt geplant.“ Dann lief er weiter. Ende der Durchsage, sie hatte keine Ahnung, wo die Zimmer waren.
Wer war wohl bei dem Projekt dabei, und wo konnten Zimmer sein? Sie suchte Rod im Saal, ließ den Blick über die betriebsamen Menschen im Licht gleiten, bis sie ihn gefunden hatte. Dann kroch sie schwerfällig von dem Hocker und versuchte, einen geraden Schritt vor den anderen zu setzen. „Udo sagt, wir sollen allen, die beim Filmprojekt mitmachen, sagen, dass es Zimmer gibt, und morgen Abend ist Auftritt. Ich kann nicht – muss zum Foto. Wo sind denn die Zimmer?“
„Zimmer sind oben.“ Rod eilte davon, um den Auftrag auszuführen. Wo oben? Zimmer klang wie Ruhe, wie Schlaf, aber sie wusste es, sie konnte noch nicht nachlassen, noch nicht dem schmerzenden Körper nachgeben. Wo genau war oben? Kein Mensch würde dafür sorgen, dass sie das Zimmer fand. Sie musste sehr genau darauf achten, wo die anderen hingingen, damit sie nicht vergessen zurückblieb.