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Kapitel 8

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Es klopft an der Tür. Drei schnelle Schläge, gefolgt von drei langsamen. Das Schwesterklopfen.

Ich decke Steen zu und gehe hinaus, um zu öffnen.

Es hat aufgehört zu nieseln. Klara drückt mich und gibt mir einen Beutel Koteletts, die so frisch sind, dass noch Blut an ihnen ist. Sie hat rote Wangen und loses Haar, das im Wind weht. Über der Schulter trägt sie ihre braune Tierarzttasche.

„Na“, sagt sie. „Etwas Neues bei ihm?“

„Leider nicht.“

Sie schlüpft in der Diele aus den Schuhen, hängt die Jacke auf und nimmt mir die Koteletts aus der Hand. Legt sie in den Kühlschrank.

„Du riechst nach Schweinestall“, sage ich. „Kommst du gerade von Mutter und Vater?“

„Da war eine Sau, die ferkeln sollte. Und jemand muss sie ja besuchen.“

Ich ignoriere ihren vorwurfsvollen Blick und gehe zum Schlafzimmer. „Ich habe ihm heute Morgen etwas Ei und Speck eingeflößt und knapp 200 Milliliter Wasser im Laufe des Vormittags. Aber ich finde, dass er immer blasser wird.“

Klara geht hinein und legt ihm eine Hand auf die Stirn.

„Tag, Steen.“ Sie öffnet die Metallscharniere der Tasche mit einem Klick. „Wie geht es dir heute?“

„Ungefähr so, wie ich aussehe.“

Sie zieht ein Vergrößerungsglas heraus und betrachtet ihn dadurch. Seine Augen, seine Zunge.

„Und dir ist seit letztem Mal nichts eingefallen?“, fragt sie. „Dass du mit dem Fahrrad gestürzt bist oder dir irgendwie den Rücken angeschlagen hast?“

„Nein.“

„Ein Verkehrsunfall? Ein Arbeitsunfall irgendeiner Art?“

„Als ITler?“

„Und du bist dir ganz sicher, dass es keine Anzeichen für ein Blutgerinnsel oder so etwas gab?“

„Müssen wir jedes Mal wieder dieselben Fragen durchgehen?“

„Ich finde es nur so erfrischend mit einem Patienten, der tatsächlich antworten kann.“

Sie blinzelt ihm zu und steckt sich das Stethoskop in die Ohren. Lauscht seinem Atem und seinem Herzen. Sie hebt seine Arme und Beine hoch, und ich stecke zwei Finger zwischen die Lamellen der Jalousie und blicke hinaus in den Garten hinter dem Haus.

Vor weniger als zwei Wochen ging er draußen im Gras umher. Er trug Sandalen und hatte die Sonnenbrille auf der Stirn und winkte mir durch das Fenster zu. Ich denke an unsere zwei Autos. Ob ich das eine verkaufen sollte. Wie trifft man eine derartige Entscheidung?

„Spürst du das hier?“, fragt Klara hinter mir.

„Auch nicht.“ In Steens Stimme liegt etwas Entschuldigendes, und mir fällt es immer schwerer, das anzusehen. Die Tierärztin, die meinen gelähmten Mann untersucht.

Ich ziehe die Luft durch die Nase ein. Habe Lust, das Fenster zu öffnen. Dieser eigenartige Geruch. Es ist, als sickere er aus den Poren meiner Haut und setze sich ins Mauerwerk. Mein Urin, mein Atem, das gesamte Gebäude. Als dringe er aus den Mauern und aus dem Keller hoch.

Ich denke an all die Dinge, die Klara für uns hinuntergetragen hat. Stapel von Pappkartons und Spielzeug, mit dem niemals gespielt wurde. Vielleicht sollte ich sie bitten, auch die neuen Kartons im Vorgarten hinunterzutragen. Klara zieht sich die Gummihandschuhe aus, drückt sich Desinfektionsmittel in die Hände und verreibt es sich zwischen den Fingern. Ihre Hände ähneln denen von Vater. Stark und breit.

„Das muss ich euch lassen“, sagt sie. „Du siehst verblüffend gut aus, Steen. Wärst du ein Hund oder ein Schwein, hätten deine Muskeln schon zu schwinden begonnen.“

„Danke für das Kompliment.“ Steen schenkt ihr ein leichtes, flaches Lächeln, und sie tätschelt ihm die Wange. Schüttelt die Bettdecke auf und deckt ihn zu.

„Warst du noch gar nicht im Bad?“ Sie blickt auf meinen Morgenmantel.

„Ich wollte zuerst Steen herrichten.“

Sie kommt her und nimmt meinen Arm. Drückt ihn.

„Du hast wieder abgenommen.“

„Nicht sehr viel.“

Sie bürstet mir etwas von der Schulter. Sieht an mir herab.

„Weißt du, warum man ihn Morgenmantel nennt, Schwesterherz? Weil man ihn am Morgen anhat, nicht den ganzen Tag.“

„Zum Glück kann man ihn ja auch Bademantel nennen.“

„Setzt aber voraus, dass du auch tatsächlich ins Bad gehst.“

„Okay. Wir könnten es auch bleiben lassen, über meine Kleidung zu sprechen.“

Sie breitet die Arme aus. Macht einen aufmunternden Zischlaut, wie wenn sie ein widerspenstiges Pferd zurück in den Pferch scheuchen soll.

„Komm, wir gehen raus und machen was zu essen. Was meinst du, Steen? Ich habe die selbst gemachte Leberpastete vom Schwiegervater dabei. Die mit Speck.“

„Nein danke.“

„Mit euch ist das Ausgehen wirklich billig. Na, eine Scheibe Brot müsst ihr aber essen.“

Sie tätschelt mir den Rücken als Zeichen, dass ich vorausgehen soll.

„Riecht mein Atem eigenartig?“, frage ich, als wir die Schlafzimmertür hinter uns geschlossen haben.

Sie kommt mit ihrer Nase ganz nah an meinen Mund. Schnüffelt ein paarmal.

„Er riecht nach Lakritze“, sagt sie.

„Er riecht nicht faulig?“

„Jetzt hör schon auf damit.“

„Ich möchte bloß gern sicher sein.“

„Ich hab doch gesagt, dass das in deinem Kopf passiert.“

„Und das sagst du nicht einfach so?“

„Komm jetzt mit und lass uns was essen. Wie ich dich kenne, hast du nichts gegessen, seit ich gestern hier war. Du musst einen Bärenhunger haben.“

Sie folgt mir hinaus in die Küche mit den gebrauchten Gummihandschuhen zwischen zwei Fingern. Der Mülleimer quillt schon fast über, also macht sie einen Knoten in den Beutel und setzt einen neuen ein.

„Bist du sicher, dass ich dir für deine Hilfe nicht etwas bezahlen darf?“, sage ich. „Was bekommst du pro Stunde als Tierärztin?“

Sie stellt den vollen Müllbeutel zur Küchentür. Dreht den Wasserhahn auf und beginnt, sich die Hände zu waschen.

„Wenn ich ehrlich sein soll“, sagt sie, „fühle ich mich nicht mehr wohl mit dem hier.“

„Dem hier?“

„Ich bin ja keine richtige Ärztin.“

„Ich vertraue dir.“

Sie dreht den Wasserhahn zu und trocknet sich die Finger an einem Geschirrtuch. Steht kurz da und schaut in die Luft.

„Ich vertraue dir“, sage ich erneut. „Und ich möchte dir deine Zeit gern bezahlen.“

Klara nimmt die Bratpfanne vom Gasherd und schabt die steif gewordenen Eier mit Speck in den Mülleimer. Öffnet den Kühlschrank und beginnt, den Imbiss herauszunehmen, den sie selbst eingekauft und hineingelegt hat. Hering in Curry. Italienischer Salat. Senfgurken.

„Er liegt jetzt seit zwölf Tagen so da“, sagt sie. „Zwölf Tage. Und du bist seitdem nicht aus dem Haus gegangen.“

„Ich war doch gestern im Krankenhaus. Und ich gehe oft zum Friedhof, wenn Steen Mittagsschlaf macht.“

„Du weißt, was ich meine. All deine Zeit verbringst du mit Windeln wechseln und Kleidung waschen und Füttern. Das ist nicht gut für dich.“

Ich zucke mit den Schultern. Darauf war ich ja vorbereitet. Monatelang hatte ich darauf gewartet, mich um einen anderen Menschen zu kümmern, der nichts selbst kann.

„Ich verstehe doch, dass es schwer ist nach allem, was ihr durchgemacht habt“, sagt Klara. „Und ich finde, dass ich auch geduldig war. Vielleicht geduldiger, als ich sein sollte. Jetzt aber …“ Sie riecht an einer Milch. Schüttet sie ins Spülbecken.

„Es gibt bei ihm überhaupt keine Besserung. Es ist Zeit für Fachleute. Ich finde, wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen. Er muss untersucht werden.“

„Ich vertraue dem System nicht.“

„Schwesterherz.“ Sie nimmt meine Hand. „Es war nicht die Schuld des Krankenhauses, dass es schiefgelaufen ist.“

Ich ziehe meine Hand zurück.

„Ich kann mich sehr wohl hier zu Hause um Steen kümmern. Du hast selbst gesagt, dass er verblüffend gut aussieht. Ich schaffe das schon.”

„Aber vielleicht benötigt er eine medizinische Behandlung. Und was ist mir dir selbst? Was ist mit deiner Arbeit? Solltest du morgen nicht anfangen?“

„Ich habe meine Krankmeldung verlängert.“

Sie seufzt, und ich betrachte den Imbiss, den sie hergerichtet hat. Fleischstücke in Plastik verpackt.

„Ich glaube einfach nicht, dass ich bereit bin“, sage ich. „All die Kinder.“

„Das wird schon gehen.“

„Aber was ist mit Steen?“

„Genau dafür haben wir Krankenhäuser, Schwesterherz. Für kranke Leute.“

„Er braucht Ruhe. Die bekommt er im Krankenhaus nicht.“

Klara seufzt erneut.

„Okay. Wir machen es so. Du rufst deine Chefin an und sagst, dass du morgen jetzt doch zur Arbeit kommst, und ich komme vorbei und schaue im Laufe des Tages nach Steen. Ich kann ihn zwischen eine Kastration und eine Ohrmarkierung einschieben.“

„Und du rufst nicht das Krankenhaus an?“, frage ich, während ich zum Badezimmer gehe.

„Jetzt schauen wir mal, wie es morgen geht, und dann sprechen wir darüber, okay?“

Im Badezimmerspiegel stehen wieder die grauen Haare ab. Sie fühlen sich dick wie Stahldraht und fremd gegen die Handfläche an und erinnern mich an den Pelz der toten Maus, die ich Weihnachten im Garten fand. Sie sah aus, als hätte sie sich absichtlich in den Schnee gelegt. Als ob sie keinen Sinn mehr darin erkennen könnte, sich zu erheben.

Zwölf Tage, denke ich, und sie flimmern eigenartig langsam vor meinem inneren Auge vorbei. Die Abende im Wohnzimmer, an denen ich apathisch in den Fernseher glotze und versuche, nicht daran zu denken, warum ich allein dasitze. Ich sehe Kochsendungen und Werbung und Quizsendungen, bis ich von der Sinnlosigkeit betäubt bin. Versuche, nicht zu googeln, tue es letzten Endes aber doch.

Lähmung. Totgeburt. Selbstmordgedanken.

Manchmal schmerzt mein Daumen furchtbar, wenn ich mich endlich losreiße. Googles Algorithmus glaubt immer noch, dass er mich mit Strampelanzügen und Namensschnullern locken kann, und ich klicke und klicke, um werbefreie Seiten zu finden. Ende bei obskuren Artikeln, die mir ein eigenartiges Gefühl der Zusammengehörigkeit geben.

Weltuntergangsdäne kann monatelang ohne Kontakt zur Umwelt leben.

Jedes Jahr sterben 2.000 Kinder im Bauch der Mutter.

Die Wissenschaft bestätigt, dass es ein Leben nach dem Tod gibt.

Erst wenn die Uhr 22:30 anzeigt, erlaube ich mir, meine zwei Schlaftabletten zu schlucken und lege mich neben Steen.

Ich zucke zusammen, als eine Schmeißfliege auf meiner Wange landet. Sie kriecht langsam an meiner Schläfe hoch und über meine Augenbraue. Ich stehe still vor dem Spiegel und sehe, wie sie sich über mein Gesicht bewegt. Das gerippte Netzwerk der Flügel sieht aus wie schwarze Blutadern. Der Saugrüssel bewegt sich hin und her. Dann hebt sie summend ab, fliegt in Richtung Licht und knallt gegen die Fensterscheibe.

Ich drehe mich vom Spiegel weg, ehe ich den Morgenmantel ausziehe. Drehe die Dusche auf und wasche mich schnell. Vermeide es, den Bauch zu berühren.

Klara legt eine Scheibe Schwarzbrot auf jeden der drei Teller und schiebt mir einen zu.

„Iss was.“ Sie stellt den Imbiss vor mich hin. Eine Auswahl an Presswurst, Röstzwiebeln und italienischem Salat.

„Warum betrachtest du die ganze Zeit meine Haare?“, frage ich.

„Am Pelz von Tieren kann man erkennen, wie es ihnen geht.“

„Aha.“

„Du bist also wirklich grau geworden, Schwesterherz.“

„Ich bin ja auch schon dreiundvierzig.“

„Aber vor zwei Wochen hattest du noch kein einziges graues Haar.“

„Seit wann interessierst du dich für meine Frisur?“

Sie langt über den Tisch und nimmt meine Hand.

„Ich verstehe dich gut. Das tue ich wirklich. Ich würde sicherlich genauso reagieren, wenn Alfred so daläge.“

Sie schneidet eine Scheibe Käse ab und steckt sie sich in den Mund. Betrachtet mich, während sie kaut.

„Ich habe gesehen, dass noch ein Karton gekommen ist“, sagt sie und nickt in Richtung Vorgarten.

„Der Autokindersitz“, sage ich. „Er soll einfach runter zu dem anderen Zeug, wenn du so nett wärst?“

„Was ist mit dem Wochenblatt? Hast du noch einmal darüber nachgedacht?“

„Ich möchte es lieber unten im Keller haben.“

„Aber es sind doch nagelneue Sachen. Warum sollen die da unten stehen?“

„Ich habe einfach keine Lust, etwas zu verkaufen.“

„Aber du willst die Sachen ja nicht mal anrühren. Sie stehen bloß draußen und gehen kaputt.“

„Deshalb sollst du sie ja auch runter in den Keller bringen.“

„Da bin ich dagegen. Es ist nicht gut für euch mit all den Dingen. Es ist, als wohnt ihr über einem …“ Sie bremst sich selbst, doch das Wort hängt dennoch zwischen uns. Grab.

„Ich habe Nein gesagt“, sage ich.

„Dann sage ich auch Nein.“

Sie steckt das Messer in die Leberpastete, und ich kann den Ausdruck in ihren Augen nicht durchschauen. Hat sie jetzt auch Angst, in den Keller zu gehen? Sie ist seit der Beerdigung nicht unten gewesen. Das ist fünf Tage her.

Sie bestreicht zwei Scheiben Brot mit Leberpastete und legt eine Senfgurke auf die eine. Die andere schneidet sie in kleine Häppchen, auch wenn Steen gesagt hat, dass er nichts will.

Wir sitzen schweigend da, während Klara isst, und ich blicke zur Schlafzimmertür. Die Türklinke. Ich stelle mir weiterhin vor, dass sie hinuntergedrückt wird. Dass Steen mit erhobenen Armen herauskommt, dass er sich die Windel herunterreißt und sie durch das Zimmer kickt, so wie er einen Fußball von der Seitenlinie reinkicken konnte.

Über dem kalten Kamin lächelt er immer noch. Vor dem Rathaus mit dem Ringfinger zur Kamera erhoben und meinem lächelnden Gesicht daneben. Wir mussten das Bild immer wieder neu machen. Während wir in der Sonne standen, bekam er einen seiner Tics. Eine unmotivierte Drehung des Oberkörpers, bei der der Kopf nach hinten dreht und die Schulter nach vorn gezogen wird. Als ob er versucht, sich über die eine Schulter zu sehen.

Er hat diese Tics, solange ich ihn kenne. Aber an diesem Tag war es schlimmer als sonst. Er wirkte fröhlich, aber auch eigenartig nervös. Als ich fragte, warum, sagte er, dass er mich so unendlich gernhat. Und je lieber man etwas mag, desto mehr fürchtet man, es zu verlieren.

Klara schenkt Buttermilch in zwei Gläser und reicht mir eines davon. „Hast du immer noch nicht mit Mutter und Vater gesprochen?“

„Nee.“

„Also haben sie keine Ahnung, was mit Steen passiert ist?“

„Sie haben sich nie für ihn interessiert. Warum sollte ich ihnen überhaupt irgendetwas erzählen?“

„Sie meinen es doch nicht so.“

„Schlimm genug, dass sie nicht einmal vorbeigekommen sind, als ich schwanger war.“

Die Senfgurke knirscht bei jedem Bissen, den Klara macht. Die Imbissauswahl steht wie eine Mauer zwischen uns, und ich bringe es nicht über mich, etwas davon zu essen. Stattdessen nehme ich mein Glas, um trotz allem etwas kooperationsbereit zu wirken. Zwinge mir ein Schlückchen von der dicken, säuerlichen Milch hinunter.

„Hast du daran gedacht, Waschwanne und Schnabeltasse zu kaufen?“, sage ich.

„Ich dachte, wir waren uns einig, dass die, die ihr habt, in Ordnung sind?“

„Ich ertrage sie doch nicht.“

„Okay.“

„Etwas Weißes“, sage ich. „Ohne Blumen und so. Kannst du nächstes Mal danach sehen?“

Sie nickt. Tätschelt mir die Hand.

„Du hast einen Milchbart“, sagt sie und reicht mir ein Stück Küchenrolle.

Sie isst den Rest ihres Essens. Sagt, dass ich die selbst gemachte Leberpastete also wirklich probieren sollte. Dass sie es nicht mag, Perlen vor die Säue zu werfen.

„Haben sie eigentlich überlebt?“, frage ich.

„Wer?“

„Du hast gesagt, da war eine Sau, die ferkeln sollte. Wie ist es gelaufen?“

„Zwölf Stück. Quicklebendig.“

„Zwölf. Das sind viele.“

„So ist es eben.“

Ich nicke.

„Es waren Schweine, Eva.“

„Warum sagst du das auf diese Art?“

„Weil deine Gedanken wie ein Hund sind, der seinem eigenen Schwanz nachjagt. Daher wird es dir auch guttun, in die Arbeit zu kommen. Ein paar andere Menschen zu sehen. An etwas anderes zu denken. Bloß ein paar Stunden.“

„Ich weiß nicht, ob ich das kann.“

„Wir haben die Beerdigung geschafft. Wir haben das Schlimmste geschafft. Es ist überstanden. Okay?“

„Es fühlt sich nicht so an.“

„Das verstehe ich gut, aber mehr passiert jetzt nicht. Du brauchst nicht die ganze Zeit in Alarmbereitschaft zu sein.“

„Hast du gehört, was auf dem Friedhof passiert ist?“

„Nein?“

„Die Polizei war heute Vormittag da. Jemand hat Steens Vater ausgegraben.“

„Ist er weg?“

Ich nicke.

Sie lässt ihr Essen auf den Teller fallen. Sitzt eine Weile schweigend da.

„Sie haben gefragt, ob wir Steens Adoptivmutter Bescheid geben wollen“, sage ich. „Steen hat natürlich Nein gesagt. Aber ich habe mir gedacht, dass es vielleicht meine Chance ist, sie endlich zu treffen.“

„Und was sagt Steen dazu?“

„Es gibt keinen Grund, ihm noch mehr zum Grübeln zu geben.“

„Du willst es hinter seinem Rücken machen?“

Ich zucke mit den Schultern.

„Also“, sagt Klara. „Er muss doch einen Grund haben, sie nicht sehen zu wollen. So wie du einen Grund hast, Vater und Mutter zu meiden.“

„Vielleicht. Ich möchte bloß gern mit jemandem sprechen, der ihn kennt. Ich werde fast wahnsinnig davon, mit all meinen Gedanken allein herumzulaufen.“

Klara sitzt da und betrachtet mich.

„Okay“, sagt sie. „Ich muss gestehen, dass klingt weit hergeholt. Aber es ist schön, dich wieder so zu sehen. Mit Hoffnung in den Augen.“

„Wenn ich verspreche, morgen in die Arbeit zu gehen“, sage ich, „darf ich dann fahren, wenn wir gegessen haben? Bleibst du und schaust unterdessen nach Steen?“

„Jetzt?“

Ich nicke.

„Willst du jetzt zu Steens Mutter fahren?“

Ich nicke erneut.

Sie reicht mir dasselbe Stück Küchenrolle wie zuvor.

„Dann rufst du auch sofort deine Chefin an. Während ich es höre.“

„Danke, Klara.“

Ich lächle, und sie deutet auf meinen Mund.

„Steht dir“, sagt sie.

„Der Milchbart?“

„Der auch.“

Wir lächeln einander an, und ich wische mir mit der Küchenrolle den Mund ab.

Eigentlich hatte ich es aufgegeben, Steens Familie jemals kennenzulernen. Hatte mir direkt eingebildet, dass es so leichter wäre.

Jetzt sind die alten Fragen mit erneuter Kraft zurückgekehrt. Und sie wurden verstärkt, als ich das Papier entfaltete und sah, was Torben geschrieben hatte.

Seid ihr sicher, dass das der richtige Name ist?

Ich hatte Torbens Handschrift lange angestarrt. Gespürt, wie sich eine Unruhe im Körper ausbreitete.

Ja, der Name ist wirklich eigenartig.

Doch die Adresse ist mindestens ebenso beunruhigend.

Der chinesische Zwilling

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