Читать книгу Der chinesische Zwilling - Sarah Engell - Страница 7
Kapitel 4
Оглавление„Das Grab ist geöffnet worden?“ Ich schüttele den Kopf. „Wie geöffnet?“
„Es war, wie gesagt, der Küster, der entdeckte, dass etwas nicht stimmte“, sagt Torben. „Und es war leider schlimmer, als wir befürchteten.“
Er räuspert sich. Verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
„Ich bedaure wirklich, das hier sagen zu müssen, Steen. Aber dein Vater … ist nicht mehr da.“
Lange Zeit sagt niemand etwas. Nur das Summen der Schmeißfliege unterbricht die Stille, als sie von der Wand abhebt und durch das Schlafzimmer fliegt.
„Soll das heißen …“ Steen sieht vom einen zum anderen. „Jemand hat die Leiche gestohlen?“
Torben nickt. „Beziehungsweise … das, was noch übrig war.“
Der Gedanke verursacht mir Übelkeit. Eine vier Jahre alte Leiche.
„Aber“, sage ich, „wer kommt denn auf so was?“
„Wir bedauern, dass wir noch nicht so viel sagen können“, sagt Dagmar. „Die Kriminaltechniker arbeiten mit Volldampf daran, den Sarg zu untersuchen, und hoffentlich finden wir auch bald heraus, was die chinesischen Zeichen bedeuten.“
Das Doppelbett knarrt, als ich mich neben Steen fallen lasse.
Beim Reden über den Friedhof schwindelt mir.
„Es tut mir wirklich leid.“ Torben sieht ebenso elend aus, wie ich mich fühle. „Können wir irgendetwas für euch tun?“
„Das weiß ich gerade nicht“, sage ich. „Das ist ein ziemlicher Schock.“
„Die Kriminaltechniker haben natürlich alles so schön wie möglich hinterlassen“, sagt Dagmar.
„Danke“, antwortet Steen.
„Der Küster konnte nicht erkennen, ob vom Grab irgendwelche Gegenstände gestohlen worden sind“, sagt Torben. „Also Leuchter und Vasen und so. Er schlug vor, dass du selbst vorbeikommst und nachsiehst, ob etwas fehlt. Aber das ist ja …“ Er betrachtet die Zudecke, die Steens Körper bedeckt.
„Egal“, sagt Steen. „Auf dem Grab war nichts Besonderes. Darauf braucht ihr keine Zeit mehr zu verschwenden.“
„Ich kann es tun“, sage ich. „Ich kann ein paar Fotos vom Grab machen, damit du sehen kannst, ob alles in Ordnung ist.“
„Ich kann mich kaum erinnern, wie es aussah.“ Ein Zucken durchfährt sein Gesicht.
„Ich werde morgen eine Blume hinlegen“, sage ich. „Von uns beiden. Welche Art von Blumen mochte dein Vater?“
„Das weiß ich nicht.“
Torben streckt Steen die Hand hin. Klopft ihm mehrmals auf die Schulter.
„Er spürt es nicht“, sage ich.
„Was?“
„Wenn du ihm auf die Schulter klopfst. Er spürt nichts.“
„Ach so, nein. Natürlich.“ Torben zieht seine Hand zu sich zurück.
„Bist du okay?“, sagt er zu Steen.
„Ich weiß nicht recht.“
„Das ist auch eine ausgemachte Sauerei. Wenn ich wüsste, welches kranke Hirn …“ Torben unterbricht sich selbst. Schielt zu Dagmar und richtet seine Mütze.
„Wir melden uns, sobald wir mehr wissen“, sagt er. „Der Sarg wurde zur Untersuchung geschickt, und wir tun natürlich alles, was in unserer Macht steht. Und bitte ruft an, wenn ich euch irgendwie helfen kann.“
„Danke“, sagt Steen.
„Wollt ihr die sonstigen Angehörigen selbst benachrichtigen“, fragt Torben.
„Nein“, sagt Steen.
„Ja, du bist ja Alleineigentümer des Grabes, es ist also deine Entscheidung. Aber wir kontaktieren gerne andere in der Familie. Deine Adoptivmutter lebt immer noch, oder? Sollen wir sie benachrichtigen?“
„Tut, was ihr wollt. Hauptsache, ich werde nicht reingezogen.“
Das Geräusch der Türklingel unterbricht uns.
„Ich geh schon.“ Dagmar geht hinaus.
Steen schließt die Augen. Als ob es ihn zu sehr erschöpft, sie länger offen zu halten. Der Geruch seiner vollen Windel hängt schwer in der Luft, und Torbens Blick flackert durch den Raum wie die Schmeißfliege, die die ganze Zeit abhebt und landet. Es fühlt sich falsch an, dass sie hier sind. Als säße man mit offener Tür auf einer öffentlichen Toilette. Doch unter der Scham befindet sich etwas anderes. Eine aufkeimende Idee.
„Also“, sage ich. „Wenn es sonst nichts gibt, glaube ich, dass Steen jetzt etwas Ruhe braucht.“
„Natürlich. Ich melde mich bei euch, wenn wir mehr wissen. Gute Besserung.”
„Danke“, murmelt Steen.
„Und falls ihr euch anders entscheidet mit der Lasagne, dann ruft einfach an.“
„Das werden wir.“
Wir verlassen das Schlafzimmer und ich schließe die Tür hinter uns. Ziehe ein zweites Mal an der Türklinke, um sicher zu sein, dass sie nicht wieder aufgeht.
Torben blickt auf den Wäscheständer, an dem Steens Schlafanzugjacken mit schlaffen Armen hängen. Er zupft an seinem Kragen. „Wir hatten zwar darüber gesprochen, dass man euch nicht mehr so oft sieht. Aber man will sich ja nicht aufdrängen, und wir hatten wirklich keine Ahnung …“
„Mach dir keine Gedanken”, sage ich. „Doch ich wäre froh, wenn ihr etwas zurückhaltend wärt. Die Leute blicken sich schon genug nach mir um.“
Er macht eine Bewegung, als verschlösse er seinen Mund.
„Sagst du das auch Dagmar?“
„Natürlich.“
„Danke. Wärst du so lieb, mit hinaus in die Küche zu kommen?“
Er schielt zur Tür hinter uns. Nickt.
Die Küche riecht nach überreifen Bananen. Das Spülbecken ist voll von halb leeren Kaffeetassen. Auf dem Gasherd steht die Pfanne mit Speck und Spiegelei von heute Morgen. Ich hatte eigentlich gedacht, sie in den Kühlschrank gestellt zu haben.
„Ich bedaure, dass wir zurzeit nicht sehr redselig sind“, sage ich. „Alles ist etwas chaotisch. Aber ich werde Steens Mutter schon kontaktieren. Darauf braucht ihr keine Zeit zu verschwenden.“
„Aber Steen …“
„Steen ist im Moment nicht ganz er selbst. Verständlicherweise. Aber natürlich kümmere ich mich darum. Da wäre nur eine Sache.“
„Ja?“
„Ich weiß nicht, wer die Mutter ist.“
Er hebt die Augenbrauen.
„Wir haben den Kontakt verloren. Besser gesagt, ich habe sie, ehrlich gesagt, nie kennengelernt. Aber ich denke, dass jetzt ein guter Zeitpunkt ist. Falls du ihre Adresse hast.“
„Du hast Steens Mutter nie kennengelernt? Wie lange seid ihr schon zusammen?“
„Acht Jahre.“ Ich zucke mit den Schultern. „Du kennst doch Steen. Wenn er erst einmal etwas entschieden hat, ist er stur.“
Torben lächelt. Sagt, dass das auf jeden Fall stimmt.
„Entschuldigt!“ Dagmar kommt zu uns in die Küche. „Der Postbote ist da. Er benötigt eine Unterschrift. Ich versuchte, ihm klarzumachen, dass es ein schlechter Zeitpunkt sei, aber er bestand darauf.“
Ich folge ihr zur Eingangstür, wo ein Postbote einen großen Pappkarton zu seinen Füßen stehen hat.
„Tag, Tag“, sagt er. „Eva Hegner?“
„Das bin ich.“
„Post aus dem großen Ausland.“ Er zeigt mir den Lieferschein.
In mir dreht sich alles um, als ich sehe, was es ist. Der Autokindersitz. Der, den wir von einer deutschen Homepage bestellt haben, nachdem wir Hunderte von Bewertungen gelesen hatten, um das sicherste Modell zu bekommen.
„Stellen Sie ihn einfach dorthin.“ Ich deute auf die regennassen Pappkartons im Vorgarten.
Der Postbote folgt meinem Blick.
„Sind Sie sicher?“
Ich nicke.
Torben kommt zu mir. Betrachtet den Lieferschein.
Ich ignoriere seinen Blick.
„Kann man es nicht zurückschicken?“, fragt er den Postboten. „Hat man nicht die Möglichkeit, die Annahme des Pakets einfach zu verweigern?“
„Ist schon okay“, sage ich.
Er sieht mich fragend an, aber ich kann es nicht erklären. Ich ertrage es ganz einfach nicht, es zurückzuschicken.
„All righty. Dann brauche ich hier noch eine Unterschrift.“ Der Postbote hält mir einen Touchscreen hin, und meine Handschrift ist fast so wie immer.
„Schönen Tag noch.“ Er legt einen Finger an seinen breitkrempigen Hut und geht die Einfahrt zurück.
Ich stecke die Hände in die Taschen des Morgenmantels. Bleibe stehen und betrachte die Pappkartons.
Jetzt sind es fünf.
„Bist du okay?“, fragt Torben.
Ich zucke mit den Schultern.
Wir gehen wieder hinein und ich schließe die Tür hinter uns. Bemerke, dass ich dastehe und meine Atemzüge zähle.
Torben tätschelt mir den Arm und macht ein Zeichen, dass ich stehen bleiben soll. Er holt sein Telefon heraus und setzt es ans Ohr.
„Torben“, sagt er. „Wir sind immer noch bei den Angehörigen. Könnt ihr nicht schnell mal die Adresse von Steens Mutter heraussuchen? Ich weiß nicht, wie sie heißt.“
Er klopft sich auf die Taschen und fischt einen kleinen, zerknitterten Block heraus. Drückt die Spitze eines Kugelschreibers heraus und gerät ins Stocken.
„Was?“, sagt er.
Die Falten in seiner Stirn werden tiefer, während die Stimme am anderen Ende spricht.
„Seid ihr sicher, dass das der richtige Name ist?“, fragt er.
Die Stimme am anderen Ende ist ein schwaches Murmeln. Ich kann nicht hören, was gesagt wird.
„Okay“, sagt Torben. „Vielen Dank auch.“
Er beendet das Gespräch und schreibt etwas auf den Block. Reißt die oberste Seite ab und faltet sie in der Mitte.
„Hier“, sagt er und reicht sie mir. „Die Adresse von Steens Mutter.“
Ich schnappe mir das Papier und drücke es in der Hand, ehe ich es in eine Tasche des Morgenmantels stecke.
Er tätschelt mir noch einmal den Arm.
„Und könnte es sein, dass wir euch jemanden von der Gemeinde schicken sollten? Damit ihr mehr Hilfe bekommt.“
„Wir bekommen all die Hilfe, die wir benötigen. Aber vielen Dank.“
Er blickt sich im Wohnzimmer um.
„Meine Schwester kommt laufend“, sage ich. „Sie ist Ärztin.“
Sein Telefon beginnt zu klingeln.
„Entschuldige bitte.“ Er hält es sich ans Ohr und signalisiert zwei Minuten, ehe er sich in eine Ecke des Wohnzimmers verzieht und Hallo?, sagt.
Ich berühre das Papier in der Tasche.
„Liest du viele Bücher?“ Dagmar geht an unseren Bücherregalen entlang.
„Habe ich mal gemacht.“
Sie zieht ein Buch heraus. Schiebt es wieder hinein.
Torben hat eine Wäscheklammer vom Wäscheständer genommen. Steht da und macht sie auf und zu, während er telefoniert. Sagt, das ist doch unglaublich, und ja, wir sind jetzt hier draußen.
„Ich schaffe es auch nicht, so viel zu lesen, wie ich gerne möchte“, sagt Dagmar. „Das ist schwierig, wenn man so viel zu tun hat, nicht wahr?“
Ich nicke, ohne sie anzusehen. Mein Körper fühlt sich unter dem Morgenmantel kalt an, und ich denke an Steen im Schlafzimmer. Der Grabstein mit der Künstlerfarbe und Ich bedaure wirklich, das hier sagen zu müssen, Steen. Aber dein Vater … ist nicht mehr da.
Ganz egal, wie sehr ich die Hände aneinander reibe, bekomme ich sie nicht warm.
„Der hier ist wirklich toll.“ Dagmar ist zum Kamin gegangen. „Habt ihr ihn selbst gemauert?“
Sie lässt die Finger über die Schnitzereien gleiten. Sieht mich an, als ich nicht antworte.
„Der war schon im Haus“, sage ich schließlich.
Torben beendet den Anruf und kommt zu uns.
„Das waren die Kriminaltechniker“, sagt er. „Wegen des Sargs.“
„Ja?“ Dagmar wendet sich vom Kamin ab.
„Auch auf der Innenseite des Deckels ist etwas aufgemalt. Die rote Künstlerfarbe ist schlecht zu sehen auf dem Holz, das ja schon am Verfaulen ist. Daher ist es ihnen beim ersten Mal durch die Lappen gegangen.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass nach vier Jahren überhaupt noch was vom Sarg übrig ist“, sage ich.
„Er wurde in einem massiven Eichensarg begraben, der lange hält.“
„Massive Eiche“, sage ich. „Das klingt teuer.“
„Tja. Warum?“
„Ich habe nur nie den Eindruck gehabt, dass Steens Eltern besonders viel Geld hatten.“
„Sie haben anscheinend Wert auf einen guten Sarg gelegt.“ Torben zuckt mit den Schultern.
„Was hat denn dort gestanden?“, sagt Dagmar. „Auf dem Sargdeckel?“
„Es waren dieselben chinesischen Zeichen wie auf dem Grabstein. Mit dem Unterschied, dass sie leichter zu entziffern waren. Wir sollten innerhalb kurzer Zeit eine Antwort bekommen, was sie bedeuten.“