Читать книгу Der chinesische Zwilling - Sarah Engell - Страница 12
Kapitel 9
ОглавлениеWu-Lin blieb im Wohnzimmer, während ich Mutter und Vater half, die Geschenke hinauszutragen. Das Haus. Das Pferd. Den Kühlschrank. Es gab sogar zwei kleine Babys. Eines in blauer Kleidung und eines in roter.
Wir legten sie vorsichtig ins Gras und Vater ging in den Schuppen. Auf beiden Seiten des Hauses erstreckten sich die Felder, groß und menschenleer. Meinen Bruder konnte ich nirgends sehen.
Ein Windhauch wehte durch den Garten. Mutter nahm meine Hand und deutete auf die Zwergwachtel, die sich im Vogelkäfig bewegte. Die Babys lächelten mit großen roten Mündern. Daneben stand der purpurfarbene Palast. Eine Tür von der Größe eines Mauselochs war herausgeschnitten. Mutter und Vater mussten die ganze Nacht auf gewesen sein, um ihn fertig zu bekommen. Sie mussten mehr oder weniger alles, was wir an Papier, Bambus und Stoffresten besaßen, verwendet haben.
Vater kam mit einem Benzinkanister und einer Schachtel Sturmstreichhölzer aus dem Schuppen.
„Was ist mit Wu-Lin?“, fragte ich.
Mutter und Vater sahen einander an. Dann stellte Vater die Dinge ab und ging zurück ins Haus.
Als er wieder herauskam, musste er seitwärts durch die Tür gehen, damit Wu-Lins Kopf nicht dagegen stieß. Das Seidenkleid wogte um ihre Beine, als er mit ihr über den Rasen ging. Die eigenartigen lila Verfärbungen, die sich auf ihrer Haut ausgebreitet hatten, waren unter den Nylonstrümpfen sehr deutlich.
Vater mühte sich ab, sie in einen weißen Plastikgartenstuhl zu bekommen. Musste sich anstrengen, den steifen Körper zum Sitzen zu bringen.
Er drehte den Stuhl so, dass ihr Gesicht den Geschenken zugewandt war. Es schwappte, als er Benzin über sie goss. Das Pferd. Den Kühlschrank. Die Babys. Das Streichholz war eine kleine leuchtende Sternschnuppe, und weißer Rauch stieg zum Himmel auf. Bald würden die Dinge auch dort hinaufsteigen. Auf uns warten.
Es war schwer zu verstehen.
Vater legte mir die Hand auf die Schulter und erklärte es erneut. „Das Feuer ist eine heilige Kraft. Wenn wir einen Gegenstand verbrennen, lassen wir dessen Seele frei. So wie du einen Vogel aus einem Käfig freilässt.“
Er deutete auf den Rauch, der in den Himmel stieg. „Die Seele nimmt die Form von Rauch an, damit wir sehen können, dass sie auf dem rechten Weg ist. Sie steigt zum Himmel auf. Ganz hinauf.“
Ich legte den Kopf in den Nacken und folgte dem Rauch mit den Augen.
„Im Himmel wird alles in seine richtige Form zurückkehren“, sagte Vater. „Papierhäuser werden zu richtigen Häusern. Federn werden zu Vögeln. Tote werden lebendig. Ist das nicht schön?“
Ich versuchte, es vor mir zu sehen.
„Oben im Himmel wird Wu-Lin also wieder lebendig?“
Vater nickte. Oben im Himmel würde Wu-Lin spielen und lachen und singen und mich umarmen können.
„Aber wie kommen wir dort hinauf?“, fragte ich. „Ich und Wu-Lin?“
Vater betrachtete das Feuer. Die Flammen waren jetzt hoch. Ihre Hitze brannte in meinem Gesicht, und ich blickte zu dem weißen Gartenstuhl. Wu-Lins Augen loderten, groß und schwarz mit dem Spiegelbild des Feuers darin.
Wieder spürte ich das drehende Gefühl im Bauch. Ich war froh, dass Wu-Lin bald wieder spielen konnte. Doch das Feuer. Mir behagte es nicht, es anzusehen.
„Ist deshalb ein Tiger in unserem Kamin?“, fragte ich. „Weil alles Mögliche passieren kann, wenn man Dinge verbrennt?“
„Mit dem Feuer soll man nicht spielen“, sagte Vater.
Wir standen schweigend da und betrachteten das Feuer.
Als die Flammen die Geschenke richtig erfassten, begann Vater, mit den Silberglöckchen zu klingeln, und Mutter nahm den Holzfisch in die Hand. Er war hohl und hatte die Form eines Karpfens, und sie schlug mit einem Stab im Takt zu Vaters Silberglöckchen auf ihn.
Die beiden Babys sahen aus, als bewegten sie sich. Einen Augenblick erleuchteten sie den ganzen Garten.
Ich sah zum Himmel. Versuchte, sie dort oben zu erblicken.
Jetzt begann der purpurfarbene Palast zu brennen. Der Rauch wirbelte um mich herum. Seelen krochen aus dem Gras und tauchten direkt hinter mir auf, schwebten um meinen Kopf und machten mich schwindelig.
Ich betrachtete Wu-Lin durch den dichten Rauch. Der Schein der Flammen ließ den Gartenstuhl tanzende Schatten werfen. Die Papierlilie in ihrer Hand schaukelte und begann, sich vom Klebeband zu lösen.
Das Klingeln hörte auf, und Vater stellte die Silberglöckchen ab. Jetzt waren alle Dinge hoch in den Himmel geschickt, und die letzten Funken wurden zu grauen Flügeln, die wegflatterten.
Mutter und Vater halfen Wu-Lin hinunter aufs Gras. Man durfte normalerweise nicht auf der Erde liegen, wenn man weiße Kleidung trug. Heute gab es viele neue Regeln.
Sie drehten sie, sodass ihr Gesicht nach Westen gewandt war. Klebten die Lilie besser an ihrer Handfläche fest.
Vater hob die Streichholzschachtel auf und klapperte mit ihr. Begegnete meinem Blick und deutete auf das Gras neben Wu-Lin.
Ich wollte den Kopf schütteln, aber mein Körper war vollkommen gesperrt. „Komm“, sagte er. „Ihr müsst zusammen liegen.“
Seine Augen waren schwarze Feuersteine, so wie gestern früh, als wir sie fanden. Sie lag in ihrem Bett und wurde nicht wach. Vater brauchte lange Zeit, bis ihre Augenlider offen blieben.
Während er herumfummelte, sagte ich: „Vielleicht hätten wir doch einen Arzt rufen sollen.“
Es war das erste Mal, dass Mutter mir eine Ohrfeige gegeben hatte.
Ich dachte daran, während ich in die Feuersteinaugen sah. Die schneidende Wärme auf der Wange und die Umarmung danach.
Über uns war der Himmel dunkler geworden. Er hatte beinahe dieselbe Farbe wie der purpurfarbene Palast.
Die Familie war das Wichtigste. Entweder gehörte man dazu, oder aber man war allein, und ich schluckte einen Kloß.
Dann ging ich zu Wu-Lin und legte mich neben sie.