Читать книгу Der chinesische Zwilling - Sarah Engell - Страница 4

Kapitel 1

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Es war verboten, noch mehr zu weinen. Der Kirschbaum blühte und rosa Schnee fiel auf uns herab, als wir uns ins Gras setzten.

Am besten wäre es, wenn einer sich freiwillig meldete. Ansonsten musste Vater wählen.

Wir wurden im Garten zurückgelassen, um darüber nachzudenken. Durften nicht hereinkommen, ehe er es sagte.

Das war jetzt lange her. Der Schatten des Baums hatte sich auf dem Rasen weit verschoben. Jedes Mal, wenn ich zum Haus blickte, bekam ich Bauchschmerzen.

„Ich muss Pipi“, flüsterte ich.

„Ich auch.“

Mehr Blütenblätter segelten durch die Luft. In der Ferne brüllte eine Kuh. Ein langer, klagender Laut, der lange über den ebenen Feldern mit gelbem Winterraps und frisch ausgetriebenen Erbsen hing.

Ich schloss die Augen. Wünschte mir, einschlafen zu können, doch meine Augen öffneten sich immer wieder. Wie bei Schwesterchens Puppe, wenn man sie aufsetzte.

„Vielleicht hat er uns vergessen“, flüsterte ich.

„Vielleicht.“

Ich blickte erneut zum Haus. Die dunklen Fenster. Die geschlossene Tür. Bei jedem Windhauch sah es so aus, als sträubte das Haus sein Fell. Die roten Backsteine waren überall von Schlingpflanzen bedeckt. Große, tiefgrüne Blätter mit weißen Linien, die wie Blutadern aussahen. Das Haus war fast ganz verschwunden. Das ließ mich an damals denken, als wir kleiner waren und einander im Sandkasten begruben. Das Gefühl, keine Luft zu bekommen.

Jetzt erhoben sich die Blätter erneut. Ich konnte es nicht lassen, das Haus und die geschlossene Tür anzublicken. Die Bauchschmerzen wurden stärker, und meine Füße gingen von allein hinüber.

Das Blut rauschte in meinem Kopf, als ich die Türklinke ergriff. Es war nicht abgesperrt, und obwohl mir graute, ging ich hinein.

Die Räucherstäbchen hatten seit gestern früh gebrannt. Dennoch lag ein fauler Geruch über dem Haus. Meine Fingerspitzen strichen über die raue Backsteinwand in der Diele. Ich wagte es nicht, Licht zu machen. Ging auf Zehenspitzen und gab mir Mühe, auf die richtigen Fußbodenbretter zu treten, vorbei an geschlossenen Schirmen und Veloursschuhen mit dünnen Riemchen. Hier war es dunkel. Alle Gardinen waren zugezogen.

Es knarrte und ich erstarrte. Betrachtete meinen Fuß, der verkehrt getreten war. Da war ein schwaches Zischen. Wie jemand, der atmete, und ich dachte an schlafende Drachen. Geister und Affen und geschuppte Schlangen mit Löwenköpfen.

Lass die Fantasie nicht mit dir durchgehen. Das würden die Erwachsenen sagen, wenn sie hier wären.

Die Räucherstäbchen rochen nach Patschuli. Schwesterchens Lieblingsduft.

Meine Füße begannen wieder zu gehen, ohne dass ich es ihnen erlaubt hatte.

Das Haus war wirklich kalt. Wie hatten sie es nur so kalt gemacht? Draußen war es Mai, und der ganze Garten blühte.

Die Küchentür war angelehnt. Auf dem Herd zischten blaue Gasflammen unter einem Topf mit Gemüse. Das war das Geräusch, das ich gehört hatte. Es roch angebrannt. Ich wollte hingehen und den Herd abschalten, traute mich aber nicht.

An der Wohnzimmertür hing eine Zeichnung von einem Tiger. Sie war mit Klebeband befestigt. Die Zähne des Tigers waren sehr lang. Je länger sie waren, desto verbotener war es, hineinzugehen.

Ich drückte die Klinke so vorsichtig herunter, wie ich konnte. Das Wohnzimmer war weg. Das Einzige, was ich sehen konnte, waren weiße Laken, die von der Decke bis zum Boden hingen. Ich ging in die Hocke und hob den Rand eines Lakens hoch. Mir wurde flau im Magen, als ich sie entdeckte. Ich hatte überhaupt nicht gehört, dass hier drinnen jemand war. Sie saß mucksmäuschenstill auf der Couch. Nur ihre Hände bewegten sich. Sie faltete Papierblumen. Weiße, pinke und rote. Sie tat es schnell und ohne aufzublicken. Mein Herz hämmerte, während ich unter dem Lakenrand saß. Ich konnte den Blick nicht abwenden.

Ihre Haare. Sie waren so lang. Ich hatte sie noch nie lose hängen gesehen. Sie waren schwarz und glänzend und ebenso schön wie die Scherenschnitte in unserem Märchenbuch. Ich hatte Mutter noch nie zuvor so gesehen.

Sie hob den Kopf und erblickte mich.

Ein paar elektrische Sekunden starrten wir einander an.

Sie legte eine halb fertige Blume weg und kam mit schnellen Schritten auf mich zu. „Habe ich nicht gesagt, dass ihr nicht hier drinnen sein dürft?“ Sie schob mich zurück durch die Diele. Ihr Nachthemd war zerknittert, und sie war barfuß auf dem kalten Boden.

„Dein Essen brennt an“, sagte ich. Sie schob mich hinaus in den Garten, ohne zu antworten. Es war ein Klicken zu hören, als zugesperrt wurde.

Ich lief um das Haus herum zum Küchenfenster. Mutters Hand erschien, als sie es einhakte. Ich konnte das verbrannte Gemüse riechen. Die Gardinen bewegten sich schwach im Wind, und ich schlich zu dem offenen Fenster, um hineinzusehen.

Mutter schaufelte mit einem Bambuslöffel im Topf herum. Sie zog etwas heraus, das verkohlt aussah. Stand lange da und betrachtete es. Dann legte sie den Löffel weg und presste sich die Hände auf die Augen.

Es fühlte sich an, als presste sie auch meine Augen, und ich musste etwas anderes ansehen. Die Päckchen mit getrockneten Pilzen und den Dampfkocher. Soja, Essig, Fischsoße. Die scharfen Messer, die an der Wand hingen.

Erst jetzt erblickte ich sie. All die Schüsseln, die auf den Esstisch gestellt worden waren. Ich hatte nie zuvor so viel Essen gesehen. Nicht einmal zum Mondfest.

Ich versuchte, mich hungrig zu fühlen. Doch ich spürte nur Übelkeit

Ich zuckte zusammen, als das Fenster geschlossen wurde. Ich konnte gerade noch Mutters feuchte Augen sehen, ehe die Küche verschwand

Ich steckte die Hände in die Tasche. Trat nach einem gelben Löwenzahn. Auf der anderen Seite der Erbsenfelder standen die Windräder still. Die Sonne brachte die Wolken dazu, orange zu leuchten.

Mit den Händen in den Taschen ging ich zurück in den Garten hinter dem Haus. Mein Bruder erhob sich unter dem Kirschbaum.

„Hast du etwas gesehen?“, fragte er.

„Nicht richtig. Aber es steht jede Menge Essen in der Küche.“

„Hundertjährige Eier?“

Ich nickte.

Er schlug gegen einen Zweig, sodass es noch mehr schneite. Die rosa Blütenblätter segelten hinunter ins Gras um uns.

„Du bist der Ältere“, sagte er. „Natürlich wählt Vater dich.“

„Doch du bist ihr Lieblingssohn. Er wählt ganz sicher dich.“

Wir blickten einander scheel an. Es lag eine zitternde Stimmung in der Luft. Ich dachte an Geisterbeschwörer und Golddrachen und lärmende Umzüge, die mit Trommeln und farbenprächtiger Seidenkleidung durch gepflasterte Straßen marschierten.

Hier war es still. Ebene Felder, strohgedeckte Häuser und rot-weiße Fahnen, die eingeholt werden mussten, wenn es dunkel wurde. Weit entfernt brüllte erneut die Kuh des Nachbarn.

„Vater wählt dich“, wiederholte er. „Das spüre ich.“

„Ich spüre, dass du lügst“, sagte ich

Im selben Moment wurde die Tür geöffnet, und Vater tauchte auf.

Die zitternde Stimmung verstärkte sich. Als ob er die Luft zusammendrückte, während er durch den Garten auf uns zuging. Seine schwarzen Haare waren mit Wasser angelegt. Der Seitenscheitel war wie mit dem Lineal gezogen. Er sah müde aus.

„Wu-Chao. Wu-Kang.“ Er lächelte uns an. Erhob die Hände, um uns heranzuholen.

Wir gingen langsam vorwärts und stellten uns vor ihn hin.

„Meine Söhne.“ Vater legte eine Hand auf die Schulter meines Bruders und eine auf meine. Sein Körper ähnelte unserem, auch wenn wir erst acht Jahre alt waren: schmächtig und nicht besonders groß.

„Die Familie ist das Wichtigste“, sagte er. „Immer.“

Wir nickten.

„Versteht ihr das?“, fragte er.

Wir nickten erneut.

Er kniff die Augen zusammen, sodass sie noch kleiner wurden, als sie es sowieso schon waren.

„Heute ist ein Festtag. Und ich möchte gern, dass ihr das respektiert. Keine weiteren Tränen. Keine weiteren Diskussionen. Heute sind wir fröhlich. Alle zusammen. Okay, Jungs?“

Mein Bruder sah nach unten ins Gras. Mein Bauch drehte und drehte sich wie die Waschmaschine beim Schleudern.

„Etwas für seine Familie tun zu können, ist die größte Freude, die ein Mensch erleben kann. Wir wohnen in einem Land, in dem man das nicht immer versteht. Ein Land, in dem man sich selbst der Nächste ist. Doch wir haben Glück. Wir haben eine starke Kultur. Eine Kultur, die uns unüberwindbar macht. Nicht zuletzt an einem Tag wie heute.“

Diesmal nickte nur ich. Mein Bruder stand mit gebeugtem Nacken da. Versuchte sicherlich, sich kleiner zu machen, als er war.

„Vergesst nicht, dass euer Großvater für den Kaiser selbst gearbeitet hat. Ihr seid in ein mächtiges Geschlecht hineingeboren.“

Das sagte er immer, wenn wir etwas tun sollten, wovor wir Angst hatten. Wir wussten sehr wohl, dass Großvater nur in der Verwaltung gearbeitet hatte. Er hatte den Kaiser nicht einmal getroffen.

„Wie sieht’s aus?“, fragte Vater. „Meldet sich einer von euch?“

Seine Augen sahen aus wie Feuersteine. Schwarz und hart. Mein Bauch drehte sich immer schneller, während ich in sie hineinblickte.

„Na gut“, sagte er. „Dann muss ich also wählen.“ Er betrachtete uns abwechselnd. Seine beiden achtjährigen Söhne.

„Lächelt, Jungs“, sagte er. „Vergesst nicht, es ist ein Festtag. Einen traurigen Bräutigam können wir nicht gebrauchen.“

Der chinesische Zwilling

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