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Kapitel 6

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Die Adresse von Steens Mutter liegt auf dem Couchtisch. Jedes Mal, wenn ich vorbeigehe, sehe ich sie mir an. Kaue schwer auf der Handvoll Ga-Jol herum, die ich mir in den Mund geworfen habe, sobald die Polizei gegangen war, habe aber nach wie vor einen eigenartigen Geschmack im Mund.

Ich richte mir im Schlafzimmer die Sachen zum Wickeln her und beginne, Steen auszuziehen. Seine Haut ist feucht vor Schweiß und hat eine fahlgelbe Farbe, die mich an Modellierwachs und Palmin denken lässt, an die deutschen Kinder, die so lange eingesperrt waren, dass sie fast an Vitamin-D-Mangel starben.

Während ich an den Knöpfen von Steens Schlafanzugjacke herumfummele, bekomme ich Lust, sie erneut zu googeln. Einfach jemanden googeln. Jemanden, der vielleicht verstehen würde.

Steen und ich sollten über die Sache mit seinem Vater reden, aber ich schaffe es nicht, den Friedhof zu erwähnen. Ertrage es nicht, an diesen Ort zu denken.

Die Knöpfe rutschen mir immer wieder durch die Finger. Das ist die Unruhe in meinem Körper. Die Adresse auf dem Couchtisch.

Steens Atemzüge gehen schnell. Als ob er wegen meines Gefummels außer Atem geriete.

Ich lächle ihn an, aber er lächelt nicht zurück. Sein Körper ist bettwarm, und die kleinen gelockten Härchen auf der Brust sind platt gedrückt und kleben an der Haut. Die Arme sind schwer und schlaff, und ich muss ihn laufend unter dem Kopf unterstützen. Auch wenn ich es jetzt schon viele Male gemacht habe, stelle ich mich immer noch ungeschickt an. Wie ein kleines Mädchen mit einer allzu großen Puppe.

Im Wohnzimmer läuft der Fernseher. Der Ton ist laut aufgedreht. Es wird immer schwerer, die Stille zu übertönen. Sie häuft sich an, so wie die Pappkartons im Vorgarten, und ich vermisse ihn. Selbst jetzt, wo ich ihm die Unterhose ausziehe, vermisse ich ihn.

Ich wringe ein Schwammtuch aus und beginne, ihn zu waschen. Anfangs legte ich die Windel verkehrt an, sodass sich der Kot seinen Rücken hoch presste. Ich versuchte zu lächeln, während ich sauber machte. Ich weinte nur, wenn ich allein war.

Jetzt weine ich nicht mehr. Jetzt friere ich nur.

„Bist du bereit?“, frage ich.

Er blinzelt einmal. Ja.

Ich lege mir seine Beine auf meine Schultern und hole tief Luft. Stemme mich mit den Füßen ab und achte auf meinen Rücken, als ich ihn hochhebe und die neue Windel richtig hinlege. Meine Arme zittern, und der Puls hämmert vor Anstrengung und Angst, ihn zu verlieren.

Es gibt garantiert eine einfachere Methode. Irgendeine Ausrüstung. Aber ich traue mich nicht, die Gemeinde anzurufen.

„Wie fühlt es sich an?“, frage ich.

„Keine Ahnung.“

Mit einem Finger überprüfe ich, dass die Windel nicht zu straff sitzt.

Er weicht meinem Blick aus. Schaut zur Decke, als ob er darauf wartet, es hinter sich zu bringen.

Ich nehme die Babybürste und kämme sein tolles, schwarzes Haar. Auf der einen Seite steht es weiterhin ab.

„Du brauchst kein so großes Ding daraus machen“, sagt er.

„Natürlich tue ich das.“

Ich schmiere Vaseline auf seine Lippen und versuche, wieder Blickkontakt zu bekommen, doch sein Ausdruck ist fern, als ob er nicht richtig anwesend wäre.

„Sollen wir mit deiner Arbeit noch warten?“, frage ich.

„Ist schon gut. Ich bin bereit.“

„Ich kann dir stattdessen auch etwas vorlesen?“

„Bringen wir es hinter uns.“

Ich erhebe mich und hole meinen Computer. Setze mich auf die Bettkante und logge mich in sein Gmail-Konto ein.

Hallo, Steen. Uns fehlt ein CMS-Mitarbeiter ab November für drei Monate. Hast du Zeit?

Steen räuspert sich. „Vielen Dank für deine Anfrage. Wie ich auf meiner Homepage geschrieben habe, übernehme ich derzeit keine neuen Aufgaben. Ich hoffe, …“

„Augenblick“, sage ich und schreibe die letzten Wörter.

„Ich hoffe, ihr findet jemand anderen. Mit freundlichen Grüßen Steen“ Der Fußballklub hat etwas von einem Turnier geschickt. Die lösche ich. Es ist auch eine Mail von der Gemeinde gekommen.

Denk dran, dein Kind bei einer Krippe anzumelden …

Ich lösche, ehe ich mehr lesen kann.

Hallo, Steen. Hast du die Einladung zum Ehemaligen-Fest erhalten? Wir wollen nur wissen, wie viel Essen und Alkohol wir kaufen müssen. Grüße Claus.

Steens Blick trifft meinen. Es hat etwas Klaustrophobisches, als ob er in den schwarzen Augen gefangen ist.

„Hallo, Claus. Vielen Dank für die Einladung, und entschuldige bitte, dass ich erst jetzt antworte. Ich kann an jenem Tag leider nicht, wünsche euch aber einen lustigen Abend.“

Ich klicke auf Senden und scrolle weiter. Kann währenddessen seinen Blick spüren.

Erinnerung vom Zahnarzt. Löschen.

Angebot für Wellness-Aufenthalt. Löschen.

Hallo, Steen. Du bist zu deinem Termin bei Psychologin Rikke Villemose nicht erschienen, und wir …

Ich gerate ins Stocken.

„Und wir was?“, fragt er.

„Entschuldige, können wir den Rest später machen?“

Einmal Blinzeln.

Ich klappe den Computer zu und lege ihn weg. Atme in meine Handflächen und reibe sie aneinander.

Als ich zu Steen hinsehe, liegt er wieder da und blickt zur Decke. Sein Gesicht glänzt.

„Schwitzt du?“, frage ich.

Einmal Blinzeln.

Ich ziehe die Bettdecke von ihm.

„Ich finde eigentlich, dass es hier so kalt ist“, sage ich.

Er ist eine Weile still.

„Musst du morgen wieder zurück?“, fragt er. „Zur Arbeit?“

„Ich gehe nicht weg von dir. Niemals.“

Ich lege ihm die Hände um das Gesicht und halte es fest.

„Niemand darf dich mir wegnehmen. Das habe ich versprochen. Und das halte ich auch.“

Er zieht die Mundwinkel nach oben. Das ist fast ein Lächeln, und ich halte ihn noch fester.

„Wir zwei gegen den Rest der Welt“, sage ich. „Das kann durch nichts geändert werden.“

„Es tut ein bisschen weh.“

„Was?“

„Deine Hände.“

Ich lasse ihn unvermittelt los. Richte mich auf.

Sein Brustkorb bewegt sich mit jedem Atemzug auf und ab.

„Schwitzt du immer noch?“, frage ich.

„Ich glaube nicht.“

„Du kannst eine Weile ohne Bettdecke daliegen. Möchtest du das?“

„Das kannst du entscheiden.”

Ich stecke einen Finger unter den Gummibund der Windel und prüfe noch einmal, dass sie nicht zu straff sitzt. In der ersten Woche bekam er rote Abdrücke, und ich dachte immer wieder: Hätte ich mich überhaupt um ein Kind kümmern können?

Ich streichle ihn am Bein. Lasse die Hand mehrmals auf und ab streichen.

„Spürst du immer noch nichts?“, frage ich.

Zweimal Blinzeln. Nein.

Wir dachten uns die Blinzelsprache in den ersten chaotischen Tagen aus, als wir keine Ahnung hatten, ob sich die Lähmung verschlechtern würde. Ob sie ihm mit der Zeit auch die Stimme nehmen würde.

Ich weiß nicht, ob es die Müdigkeit ist, die ihn jetzt mit Blinzeln kommunizieren lässt, oder ob er immer noch fürchtet, dass die Stimme verschwindet.

Das Bett knarrt, als ich mich zu ihm lege. Ich streichle ihm über die glatte Wange. Er hat einen kleinen Schnitt unter dem Kinn, aber ansonsten habe ich auch das Rasieren im Griff.

Mit dem Zeigefinger folge ich seinem feinen, flachen Nasenrücken und den Lippen, die immer nach unten zeigen, jedoch mit einem kleinen Schnörkel auf jeder Seite, als ob sich ein Lächeln darin verbärge. Ich vermisse dieses Lächeln.

Es ist, als wären seine Augen schwärzer als je zuvor geworden. Als ob etwas tief in ihm drin gebrochen wäre, und manchmal habe ich Angst, dass es sich nicht wieder zusammensetzen lässt.

Wieder sehe ich vor mir, wie die Polizei hereinkam. Ihre Uniformen und unsteten Blicke, als sie ihn im Bett liegen sahen mit Windel und verfilztem Haar.

„Entschuldige bitte, dass ich sie hereingelassen habe“, sage ich. „Sie haben nicht aufgehört zu klingeln, und ich glaube, sie haben mich am Fenster gesehen.“

Dreimal Blinzeln. Das ist okay.

„Glaubst du, sie schicken jemanden hierher?“, frage ich. „Die Sozialverwaltung, oder wie das heißt?“

„Es war doch Torben.“

„Aber die andere vielleicht?“ Er antwortet nicht. Sieht bloß hinauf zur Decke.

„Was glaubst du, was sie bedeuten?“, sage ich. „Diese chinesischen Zeichen?“

„Keine Ahnung.“

„Vielleicht ist es Zufall, dass es gerade dein Vater war. Es soll Leute geben, die für ein paar Schmuckstücke und Goldzähne alles tun.“

„Vielleicht.“

„Aber es ist natürlich eigenartig, dass sie sich die Zeit genommen haben, mit einem Pinsel zu schreiben.“

Er schneidet ein Gesicht.

„Entschuldige“, sage ich. „Sollen wir es lassen, darüber zu sprechen?“

Einmal Blinzeln.

Im Wohnzimmer wiederholt der Fernseher dieselben monotonen Lachkonserven.

„Jeden Tag wünsche ich mir, dass wir über etwas Gewöhnliches sprechen können“, sage ich. „Ich habe ganz vergessen, wie man über etwas Gewöhnliches spricht. Worüber haben wir früher gesprochen?“

„Kann ich einen Schluck Wasser bekommen?“

Ich lehne mich über ihn und nehme die Schnabeltasse. Kippe sie vorsichtig, damit es nicht läuft.

„Mehr?“, frage ich.

Zweimal Blinzeln.

„Wir bekommen dich schon wieder hin“, flüstere ich.

„Glaubst du?“

„Ich verspreche es.“

Ich kann hören, dass er schluckt, und mein Magen krampft sich zusammen. Wie die Tage vergehen, wächst die nagende Furcht, dass wir dieses Gespräch den Rest unseres Lebens führen.

Ich denke an den Zettel im Wohnzimmer.

„Vielleicht sollten wir deine Mutter kontaktieren?“, sage ich.

„Warum sagst du das?“

„Ich dachte nur, dass es gut für euch wäre. Sie muss sicherlich auch mit jemandem darüber reden, was auf dem Friedhof passiert ist?“

Zweimal Blinzeln.

„Hast du Angst, dass sie bemerkt, was mit dir passiert ist?“

„Wir sprechen nicht mit meiner Familie.“

„Aber damit könnten wir vielleicht beginnen? Vielleicht weiß sie ja, was mit dir nicht stimmt. Vielleicht ist es etwas Erbliches? Vielleicht kann sie uns helfen?“

Er blinzelt zweimal fest.

„Schatz … Ich versuche, dir zu helfen. Möchtest du nicht gerne wieder gesund sein?“

„Ich brauche nur Ruhe.“

„Das sagst du jedes Mal, aber bisher ist ja noch keine Besserung eingetreten.“

„Können wir es nicht lassen? Ich bin so müde.“

Ich beuge mich vor und küsse ihn auf die Stirn.

„Wir werden es schon schaffen“, flüstere ich. „Wenn wir nur zusammenhalten, dann werden wir es schon schaffen.“

Und den Rest muss ich allein tun.

Der chinesische Zwilling

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