Читать книгу Die Schwelle - Sascha Heeren - Страница 10

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Auch wenn sich der Weg nicht weit anhörte und er zu Fuß, mit schnellem Schritt und keinem Trotteln auf dem Gehweg, zweiundzwanzig Minuten zu PharmaLap brauchte, entschied sich Sam heute für den Bus. So wie jeden Morgen, denn die sieben Minuten, die sein Chauffeur benötigte, waren nicht zu schlagen. We’ll Get You There, versprach Nassau Inter-County Express mit dem Schriftzug neben der Bustür. Für zwei Dollar wurde dieses Versprechen Wirklichkeit.

Sam hatte die Uhrzeiten im Kopf eingefräst. Er wusste auf die Minute genau, wann er die Appartementtür zuschlagen musste, um aufspringen zu können. Doch heute zählte das nicht, denn mittlerweile war jede seiner Uhrzeiten verstrichen, da kam es nicht auf die eine oder andere Minute an.

Shore Rd und Pleasant Ave warf ihn der Bus verspätet raus. Bevor er seinen Turboschritt anwarf, atmete er kurz noch mal tief ein.

„Ja, das Bummeln ist uns wirklich nicht gegeben“, seufzte er, als wäre Dizzy an seiner Seite.

Mit Betreten des Firmengrundstücks überkam ihn der Wunsch, auf dem Absatz kehrtzumachen. Reine Routine. Nichts weiter als der tägliche Morgenkoller zum Arbeitsanfang. Dabei bot PharmaLap, genauer: NYPL – New York Pharmaceutical Laboratories Pvt. Ltd., nicht wenig. Eine Krankenversicherung, gutes Gehalt, und auch die Wohnung in der Nähe war der Firma zu verdanken gewesen. Als er vor einem Jahr aus dem Kings County Hospital Center entlassen wurde, hatte sein Boss, James Michael Goforth, alle Hebel in Bewegung gesetzt, dass er das möblierte Mittelklasse-Appartement bekam. Sein Job als technischer Redakteur stellte ja nun auch keine übermäßig große Herausforderung dar. Ein gottverdammter Brotjob, den man ihm wie eine Eisenkugel ans Bein gehängt hatte. Dabei wollte er gar nicht undankbar sein.

Die Firma war ihm allerdings unsympathisch. Das schloss Goforth mit seiner seifigen väterlichen Art durchaus ein. Auch Bill Coon, ebenfalls technischer Redakteur und das weltweite Oberhaupt einer wachsenden Arschlochverschwörung, stand auf der Liste seiner Lieblings-Unsympathen. Ansonsten war PharmaLap ein normales Unternehmen, das Arzneimittel herstellte, diese vermarktete und eine eigene Abteilung für Forschung und Entwicklung in den unergründlichen Taschen seines Portefeuilles parat hielt.

Wie bei jedem Unternehmen, das bereits seit Jahrzehnten bestand, gab es auch über PharmaLap unzählige Gerüchte und Verschwörungslegenden. Von Experimenten für biologische Kampfmittel bis zu beabsichtigten Nebenwirkungen aktueller Medikamente war jedenfalls alles an Verschwörungsfama im Angebot, was der überreiche Gerüchtenährboden der hart umkämpften Pharmaindustrie lieferte.

Das umfangreiche und nicht für jeden zugängliche Kellerlabyrinth führte selbst bei den eigenen Mitarbeitern zu den blühendsten Spekulationen. Stew hatte sich zum Kellergeschoss im Alcatraz-Look einmal geäußert:

„Wenn’s nach mir geht, muss ich da gar nicht hin. Da züchten sie vermutlich zwei Tonnen schwere Hamster oder irgendetwas in dem Stil.“

Zu allem Überfluss war sein Büro eigentlich kein richtiges Büro. Es waren sechs Quadratmeter, auf denen ein Schreibtisch über Eck mit PC und Telefon stand, die zu drei Seiten mit grünen Stellwänden umzäunt waren. An der Stelle, wo ein richtiges Büro eine Tür hat, also an der vierten Seite der giftgrünen Box, klaffte ein Nichts. Sein Büro war für jeden zugänglich, und wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte man dem Nebenmann oder der Nebenfrau auf den Schreibtisch spucken. Der einzige Trost war, dass sein Abteilungsleiter Frank McDowell baugleich untergebracht war und mit seiner Statur wie ein ins Laufrad gequetschter Hamster aussah.

Sam zog seine ID-Karte durch das Lesegerät und wartete, bis das grüne Lämpchen den Weg freigab.

Wie jeden Tag drängte sich ihm bei Arbeitsbeginn die Frage auf, wer für die Farbzusammenstellung im Büro verantwortlich gewesen war. Hässlich war gar kein Ausdruck. Dieser Angriff auf die ästhetischen Grundwerte grenzte zweifellos an Körperverletzung.

Frank war trotz seiner Leitungsfunktion glaubwürdig geblieben. Ein Typ, den jeder mochte und der auch mit seinem Umfeld menschlich und fair umging. Er war Ende dreißig und damit zehn Jahre älter als Sam. Vielleicht lag es an diesem Umstand, dass die Verbindung zwischen der Abteilung und ihrem Leiter nicht riss.

Als Sam an Franks Box klopfte, stand er bereits drinnen.

„Frank? Tut mir leid, dass ich störe, aber ich werde heute mit dem Vitando-Report fertig. Da dachte ich, du hast vielleicht was Neues für mich.“

Angriff war bekanntlich die beste Verteidigung, sich nicht erst mit Kleinigkeiten abzugeben, verspäten konnte sich schließlich jeder, dachte Sam. Dennoch dürfte es Frank kaum entgangen sein, dass er erst vor drei Sekunden hier angetanzt war, doch Gott sei Dank gehörte Frank nicht zu jenen Vorgesetzten, die groß darauf rumhackten.

Frank griff sich einen Ordner vom Regal über dem Schreibtisch und blätterte darin herum.

„Sekunde. Ja, ich glaube, du könntest dich auf die Dokumentation über Pestwurz stürzen. Kelly hatte zuletzt damit gearbeitet. Ich meine, sie hat es unter Petasites oder so was abgelegt.“

Vom Hustensaft zur Tablette!

„Toll, danke.“

Sam meinte es nicht so verächtlich, wie es sich anhörte. Anderes Produkt, gleiche Arbeit, nichts weiter. Er sah es emotionslos. Sams Dank galt in dieser Situation vielmehr Franks ausbleibendem Anschiss.

Danke, dass du mir nicht den Arsch hochgebunden hast.

„Gute Arbeit, Sam.“

Sam kramte das Portemonnaie aus der Gesäßtasche hervor und wedelte damit. „Ähm, tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin. Das klingt blöd, aber Dizzy, meine Katze, hatte mir die Brieftasche geklaut … also verschleppt, gewissermaßen.“

Bevor er seine Ausrede in Gänze vorgetragen hatte, war ihm klar, dass ihn jeder andere Chef unangespitzt in den Boden gehauen hätte.

„Diese Ausrede ist jedenfalls originell, das muss man dir lassen. Du siehst geschafft aus, Sam. Alles in Ordnung?“

„Ja, alles okay. Ich kann nur in letzter Zeit nicht besonders gut schlafen.“

„Ich hoffe, du weißt, dass ich jeder Zeit für dich da bin, falls du mich mal brauchen solltest. Du bist ein tüchtiger Mann, und wenn ich dir helfen kann, tue ich das jeder Zeit.“

Ein tüchtiger Mann, dem man seine Zeit in der Klapse ansieht. Aber warum auf den Behindertenparkplatz verzichten, wenn er einem angeboten wird?

„Da wäre vielleicht was. Ich wollt mich mal mit dir über meine Sicherheitseinstufung unterhalten. Ich komme damit nicht mal in die Cafeteria!“

Die Cafeteria lag hinter einer Sicherheitsglastür, die noch andere Bereiche einschloss: Keller, waffenfähiges Material, Hamster, das Übliche.

„Soll das ein Witz sein?“

Frank verzog das Gesicht.

„Nein, kein Witz.“

„So ohne Weiteres geht das natürlich nicht. Aber ich werde sehen, was ich für dich tun kann, Sam.“

Nachdem der formale Teil mit Frank geklärt war, schaute Sam in Tess’ Büro nebenan rein.

Als Sam sie mit angehaltenem Atem und zusammengepressten Lippen beobachtete, konnte er nicht anders, als sich einzugestehen, dass dieses entzückende fünfundzwanzigjährige blonde Geschöpf etwas Engelhaftes ausstrahlte. Er kam sich ihr gegenüber wie ein gerupfter Vogel vor. Aber auch wenn sie gebrechlich wirkte, unter dieser Anmut verbarg Tessa Louis ein mächtig tiefes Gewässer.

Er berührte sie am Hals.

„Sam, mein Gott, hast du mich erschreckt!“

„Genau wie du mich gestern Nacht. Weißt du, was ich meine?“

„Ja, gestern Nacht, das war …“

Sie erhob sich von ihrem Bürostuhl und zog sich an ihm hinauf. Sie lächelte und küsste ihn. Kurz. Abwartend. Prüfend. Heftig, als hätte sie auf ihn gewartet. Dabei war Sams Zurückhaltung kein Hindernis.

„Ich liebe dich“, sagte sie und zog ihn runter zu ihren Lippen.

Zwanglos und unkompliziert gehörten der Vergangenheit an. Spätestens seit Marilyn Monroe. Mit einem Mal war ihm klar, dass das Gedicht von ihr war. Verdammt, sie meinte es ernst.

Seine Brieftasche noch in der Hand, kramte er das Foto der letzten Weihnachtsfeier raus. Wenn es eine gute Party war, dann sollte man auch ein Foto davon mit sich rumschleppen. Es zeigte Tess, Stew und ihn. Kichernd mit Santa-Claus-Mützen.

Er hatte ein schlechtes Gewissen. Er sollte sie mehr in sein Leben lassen. In den Teil, der gesund war. Oder zeigte er ihr das Foto, um der Verlegenheit zu entkommen?

„Die Weihnachtsfeier, weißt du noch?“ Er wedelte mit dem Foto.

Sie lächelte. „Oh ja, Sam, ich weiß auch noch, was nach der Feier passierte … Dass du ein Foto davon hast!“

Sie zog ihr Smartphone aus der Handtasche. Wenige Handgriffe später strahlte ihn das Foto von ihrem Display aus an.

„Zieh’s dir endlich auf dein Handy!“

„Ich weiß“, grinste er, „ich bin eher der altmodische Typ.“

Er wedelte nochmals mit dem zerschlissenen Foto.

„Tja, dann wundert’s mich eigentlich, dass es dir nichts ausmacht, wenn man uns in der Öffentlichkeit fotografiert!“, sagte sie, setzte sich zurück an ihren Schreibtisch und ließ Sam überrascht stehen.

Er hatte Stew damals als Erstem das Foto gezeigt.

„Das war ’ne Party, Stew, was? Erinnerst du dich?“, hatte er erinnerungsselig geschwärmt und das Foto vor seiner Nase geparkt.

„Nein, ich erinnere mich nur noch an einzelne Bilder“, hatte Stew geantwortet. „Weißer Rum, heiße Musik und verdammt schlechtes Essen. Ich bin froh, dass immer du darauf bestehst zu fahren, Sam.“

„Ich hänge halt an meinen Gehirnzellen. Die Anzahl derer, die korrekt ihre Arbeit verrichten, wird immer überschaubarer. Da wird man halt vorsichtig.“

„An ein Bild kann ich mich allerdings noch ganz genau erinnern: wie Bill auf die Tanzfläche gekotzt hat!“

„Da muss ich dich leider enttäuschen, Stew“, hatte Sam damals geantwortet. „Von Bills Rückwärtsessen hab ich nämlich bedauerlicherweise keinen Abzug.“

Sam stand immer noch wie bestellt und nicht abgeholt hinter Tessa. Sie ignorierte ihn und arbeitete weiter.

„Vielen Dank für die Karte!“, flüsterte er ihr ins Ohr und hielt die Monroe vor den Monitor.

Tess studierte die Liebesbotschaft hinter Marilyn mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Und? Von mir ist sie jedenfalls nicht.“

„Wirklich?“

Er hätte es schwören können.

„Nein.“

„Tja, dann hat sich wahrscheinlich jemand einen Scherz erlaubt. Stew! Ich wette, er war’s. Ja. Wer sonst? Aber der kann was erleben!“

Stew Turner, Sams bester Freund, schwul, Systemprogrammierer, von geschmeidig männlicher Schlankheit, die auch einen Hetero-Mann hätte schwach machen können, mit einer hinreißenden Frisur, einer Art wuscheligem Nest aus dunklen, anthrazitfarbenen Haaren, genoss es, den Status der maximalen Sicherheitsstufe innezuhaben – verdient, wie er zu betonen nicht müde wurde. Dafür genoss Sam das Privileg, dass Stew ihm den Kaffee aus der Cafeteria servierte. Ein seltener Fall, dass der Unter den Ober schlug.

Stew Turner

Kommst du heut noch mal rein, oder überlässt du mich heute allein dem Wahnsinn? Nicht, dass der Laden auch ohne dich laufen würde!

Sam Gregg

In der Zeit hättest du schon Kaffee holen können!

Die Schwelle

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