Читать книгу Die Schwelle - Sascha Heeren - Страница 11

Оглавление

3

„Hallo! Guten Morgen, Casanova. Was war denn gestern Nacht? Hast du dir Mickey-Mouse-Filme angesehen oder deine Briefmarkensammlung umsortiert?“

Stew stand in Sams Büro. Ohne anzuklopfen oder auf eine Antwort zu warten, schnappte er sich das Allheilmittel gegen Bills Brechmittel-Stimme: die Boxerhandpuppe Muhammad Ali. Sie lag ständig auf dem Regal über dem Monitor parat. Ready to rumble …

Bill Coon war nicht einfach der Inbegriff eines Arschlochs. Bill Coon war seine absolute Krönung. Sams Augen wollten sich jedes Mal übergeben, wenn er ihn zu Gesicht bekam, und der Atem wollte ihm jäh stocken, wenn Bills Aftershave wie ein giftiger Schimmel den Flur verpestete. Im direkten Gespräch hätte ihn Sam am liebsten erwürgt.

„Ich war früh auf!“, antwortete Sam. „Zu deiner Beruhigung, Stew: Dizzy hat mir die Brieftasche geklaut, deswegen konnte ich nicht früher kommen.“

„Ja, natürlich, Katzen klauen Brieftaschen, entwenden die American Express Card und gehen shoppen. Das weiß man doch.“ Stew boxte in Sams Richtung. „Bloß hat diese Ausrede einen entscheidenden Nachteil: Sie ist so originell, dass man von vornherein ausschließen kann, ihr Glauben zu schenken.“

„Ja, mein Gott, Frank hat’s geschluckt!“

„Bill hätte sie dir jedenfalls in den Rachen gestopft und dich daran ersticken lassen“, sagte Stew. Er ließ Sam nicht aus den Augen.

„He–he–he, du hast ganz einfach deinen faulen Hintern nicht aus dem Bett gekriegt!“, rief er und schloss mit einer Rechts-links-rechts-Kombination ab. „Ich dagegen habe ein Privatleben.“

„Aha.“

„Ja, ich hab gestern Nacht bis zum Morgengrauen getanzt.“

Er holte zum Hüftschwung aus.

„Ja, ja.“

Sam befreite Muhammad Ali aus Stews Fängen und warf ihn auf den Tisch. Diese Waffe musste geschont werden. Für den Ernstfall mit Bill.

„Und?“, brüstete sich Stew. „Trotz des grauenhaften Morgens steh ich pünktlich wie eine Schweizer Uhr an meinem Platz und trotze der Müdigkeit wie ein frischer Fisch, der aus dem Wasser dem jungen Tag entgegenspringt.“

Er präsentierte stolz seinen Traumkörper. Eine Drehung nach links, eine nach rechts, fehlte nur noch eine Pirouette.

„Wie der junge Tag, he?“

„Ist schon gut, Stew. Ein Delfin könnte jedenfalls dem jungen Tag nicht so geschmeidig entgegenspringen wie du.“

„Das hast du lieb gesagt. Wir sehen uns später … Du böser Junge!“

Computer hochfahren. Monitor und Schreibtischlampe anschalten. Die Neonröhren an der Decke bescherten den Augen eher Krebs als brauchbare Informationen. Alles in allem waren es die typischen Arbeitsbedingungen eines Brotjobs. Man nahm es, wie es kam.

Sam wollte die letzten Ausdrucke der Vitando-Daten nochmals kontrollieren, um sicherzugehen, dass Bill ihm nicht in die Suppe gespuckt hatte.

Als er die Ausdrucke durchblätterte, sah er, dass es nicht die aktuellsten Versionen waren. Auf die endgültige digitale Fassung des Reports – die Arbeit der letzten Woche – gewährte ihm das System momentan keinen Zugriff. Aller Wahrscheinlichkeit nach pfuschte Bill gerade in der Datei rum. Aber Sam war nicht ganz unschuldig an der bereits seit längerem ausartenden Kollegenbeziehung zwischen ihnen. Er erinnerte sich nur zu gut an seine eigenen Übeltaten. Denn Sam war für Bills Rückwärtsessen auf der legendären Weihnachtsfeier verantwortlich gewesen. Er war überzeugt davon, dass es verdient und angemessen war, einen solchen Unsympathen auf diese Art zur Rechenschaft zu ziehen. Vielleicht war er aber auch einen Schritt zu weit gegangen? Weißer Rum, heiße Musik und schlechtes Essen bekam damals den wenigsten gut, nur in Bills Gulaschsuppe hatte sich noch eine weitere Zutat eingeschlichen. Genauer: Ipecacuanhawurzelsirup, selbstverständlich ein hochwertiges Qualitätsprodukt der New York Pharmaceutical Laboratories. Die auswurffördernde und brechreizerregende Wirkung konnten danach alle auf der Tanzfläche begutachten. Im ersten Moment klang diese Aktion gut. Von der ersten Idee bis hin zum plätschernden Geräusch.

„Als technischer Redakteur in einem Pharmaunternehmen sollte man seinen Job ernst nehmen und sich über die Wirkungen der zu beschreibenden Arzneimittel ein Bild machen“, so hatte er sich mit einem breiten Grinsen vor Stew gerechtfertigt. Sam wollte wissen, wovon er schrieb, natürlich.

„Und da die Gulaschsuppe beinahe einer Vergiftung gleichkam, war der Einsatz eines Brechmittels auch nicht ganz von der Hand zu weisen. Vielmehr war es eine notwendige Heldentat!“, verbrüderte sich Stew mit einem Gesichtsausdruck, der nicht eine Sekunde imstande war, die Ernsthaftigkeit zu spiegeln, die seine Worte betonten.

Darüber hinaus hielt Sam Bill von der ersten Begegnung an für einen Idioten – reines Bauchgefühl. Sie waren von vornherein nicht gut gestartet, und die Sache mit der Weihnachtsfeier, die irgendwann irgendwer Bill gesteckt hatte, verbesserte das Klima zwischen beiden nicht wirklich. Es war ein dummer, unüberlegter Jungenstreich, das wusste Sam natürlich. Und er hätte sich auch gerne entschuldigt, doch als Bill ihm mit den Worten: „Dafür krieg ich dich dran. Irgendwann, wenn du nicht damit rechnest. Und du wirst dir wünschen, du dürftest nur kotzen. Ich krieg dich, verlass dich drauf!“, offen den Krieg erklärt hatte, empfand Sam jede Form der Entschuldigung als überflüssig.

Idiot bleibt halt Idiot.

„Hey, Bill, könntest du mir vielleicht die Vitando-Dateien überlassen, wenn du sie nicht mehr brauchst?“

Diese Frage, vor einer Viertelstunde in Bills Büro gestellt, war nichts anderes als die freundliche Bitte, die Dateien zu schließen, damit Sam darauf zugreifen konnte. Doch Bill hatte nur einen verächtlichen Blick für ihn übrig gehabt.

„Ich weiß gar nicht, was du von mir willst? Vielleicht kümmerst du dich lieber um deine Angelegenheiten. Beispielsweise deine Arbeit. Wenn du mich also entschuldigst … ich muss wirklich weiterarbeiten.“

„Danke, Bill, es war mir ein Vergnügen – wie immer!“

Sam wollte sich nicht mit ihm herumärgern. Nicht jetzt, und auch wenn er Bill für einen elenden Idioten hielt, so war Sam doch unterm Strich ein netter und freundlicher Kollege. Grundsätzlich. Das Weihnachtsfeiermalheur war ein jugendlicher Ausrutscher und jedes weitere Scharmützel nur eine Folge dessen.

Im Grunde war Sam ein netter Typ.

Bill war ein Idiot.

Und PharmaLaps Kotzsirup funktionierte einwandfrei. (Grundsätzlich funktionierten PharmaLaps Arzneimittel einwandfrei.)

Grundsätze waren was für Schwachköpfe, dachte Sam und musste daran denken, dass er eigentlich Beruf und Privatleben, PharmaLap und die Abneigung gegenüber Bill trennen wollte.

Grundsätzlich sollte auf sexuelle Beziehungen unter PharmaLap-Mitarbeitern verzichtet und das firmeninterne Mailsystem nicht zum Versenden privater Nachrichten verwendet werden, insbesondere nicht zur Übermittlung von Witzen und Verunglimpfungen anderer Mitarbeiter.

Grundsätzlich hielt Sam nun auch nicht seinen Hörer in der Hand und hatte die 1141 gewählt. Es war eine Ausnahme. Ein Akt, den er sich nicht erklären konnte, der beinahe wie von selbst geschah. Warum rief er Tess an? Um es noch komplizierter zu machen? Sie war viel zu gut für ihn, beschied ihm sein schlechtes Gewissen. Die Wahrheit war: Er wusste selbst nicht, was er wollte.

Sie ließ sich Zeit beim Abnehmen.

Das Freizeichen erinnerte an Bills Stimme. Den Mund sollte man ihm zutackern!

Tess’ Reaktion auf das Foto der Weihnachtsfeier hatte ihm zu schaffen gemacht. Wenn beide in der Firma aufeinandertrafen, behandelte er sie wie Dreck und versuchte, es dann mit einer dämlichen Ausrede glatt zu bügeln.

„Hi, Liebling!“

„Schhh! Nicht so laut!“

„Oh, Sam, was ist? Was soll die Heimlichtuerei? Schämst du dich wegen mir?“

„Nein, natürlich nicht! Ich mag das nur nicht in dem Laden hier, das ist alles. Ich will dich ganz für mich allein haben. Ich schlag vor, wir treffen uns nach der Arbeit.“

Meist kaufte sie ihm seinen Scheiß ab. Weil sie ihn zu sehr mochte und ihn nicht vergraulen wollte. Vielleicht hatte sie auch nur Angst, dass Sam wieder durchdrehen und in der Klapse landen könnte.

Endlich nahm sie den Hörer ab.

„Vielen Dank für gestern Nacht“, flüsterte er.

„Danke, Mr. Goforth. Sie waren echt toll.“

„Hey!“

„Ach, du bist es, Sam … Du warst auch ganz gut.“

Sam legte lachend auf. Er mochte ihren Humor.

Kurz darauf klingelte es.

„Samuel Gregg, ja bitte?“

Er ärgerte sich, dass er niemals so schlagfertig wie Tess sein könnte oder wie überhaupt irgendwer auf diesem Planeten.

Stille.

„Hallo Sam, du verlauster, dreckiger, kleiner –“, krächzte eine bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Stimme.

Sam schlug den Hörer aufs Telefon.

Stumm glotzte er die grüne Wand hinter dem Monitor an. Das Echo in seinem Kopf schoss ihm direkt ins Rückenmark. Dagegen war Bills Horrororgan Engelsgesang. Er musste sich verhört haben, auch wenn ihm eine innere Stimme unmissverständlich zubrüllte: Lauf!

Sammy „666“ Boy

HURENSOHN! Du verlauster, dreckiger, kleiner Hurensohn, wenn du noch mal auflegst, dann bringe ich dich SOFORT um!!!!!!!

Er starrte auf sein Handy. Der Blick wanderte wieder nach oben. Seine Augen starrten ziellos am Monitor vorbei. Oder der Monitor zog starr an seinem Blick vorbei. Das konnte nicht sein! Er musste sich verhört haben! Jede andere Erklärung griff zwangsläufig daneben. Das war nicht gut für ihn. Nicht gut nach einem Jahr. Keine Panik zulassen, hatte er in der Therapie gelernt. Wenn es vorbei war: wie gewohnt weiter machen. Nicht aus dem Konzept bringen lassen: Routine schaffen. Wenn es wichtig ist, wird man wieder anrufen. Nur nicht jetzt!, betete er im Stillen.

Er schielte zum Telefon. Dann aufs Handy.

Er setzte sich gegen die eintretende Starre zur Wehr. Stück um Stück. Er drehte den Monitor zu sich – Routine –, regulierte die Helligkeit – Routine –, gab sein Passwort ein – Routine –, der Login ins Firmennetz startete – Routine –, als ihm jemand eine saftige Ohrfeige verpasste.

Scheiße!

Dem Gefühl und der Reichweite der Blutstropfen nach, die sich über die Tastatur erstreckten, war es ein Fausthieb, der sein Gesicht von der Brille trennte und ihn mit dem Bürostuhl an die Wand rollte. Aber da war niemand. Niemand, der zwischen ihm und seinem Monitor hätte ausholen können. Keiner hatte ihn geschlagen. Trotzdem war er getroffen. Sam schmeckte Blut auf seinen Lippen, Adrenalin in seinen Adern, Panik in seinem Gesicht: keine Brille auf der Nase. Was war geschehen? Wer oder was hatte ihm …

Sammy „666“ Boy

FREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAKFREAK

Ein Lachen durchzog das Büro und hallte unnatürlich laut in seinen Ohren wider.

Obwohl er den Telefonhörer aufgelegt hatte, hörte er die verzerrte Stimme, ihr schallendes Gelächter. Und die Nachrichten im Handy … Waren sie weg?

Da half weder ein Tacker noch ein Muhammad Ali.

Die Schwelle

Подняться наверх