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Port Washington

New York 11050

USA

Als Samuel Gregg an diesem Montagmorgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich weder zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt noch auf einem panzerartig harten Rücken liegend vor. Das täuschte. Auch wenn sich Sam so vorkam, als läge er hilflos und zum Käfer verwandelt in seinem Bett, entsprach es nicht der Realität. Er hob den Kopf, sein Blick glitt zu seinem bleichen Bauch, der das eine oder andere Kilo mehr vertragen konnte und stellte fest, dass ihn nur der Anschein mit Kafkas Samsa1 verband.

Sam fühlte die großen, roten Wülste unter den Augen, die ihn ermahnten, weiterzuschlafen und es in zwei Stunden noch mal zu versuchen. Ein typischer Montag.

Er ließ den Kopf ins Kissen fallen. Die Tränensäcke beschwerten seinen Schädel zusätzlich und drückten ihn mit aller Gewalt zurück in die süße Umnachtung, aber auch das war nur ein Gefühl. Etwas aus der Vergangenheit.

Tess war weg. Der Platz neben ihm war kalt. Sie musste früh gegangen sein.

Die Sache zwischen Tess und ihm lief völlig zwanglos und unkompliziert, aber er hätte lügen müssen, wenn er sich ausgerechnet jetzt wünschte, sie könnte ihm in die Augen sehen. In die Montagmorgenvisage. Doch je zwangloser und unkomplizierter man eine solche Sache auch anging, desto verworrener wurde sie.

Das Handy brummte auf dem Nachttisch.

Stew Turner

Gucken zwei Blondinen einen Cowboyfilm, in dem ein Cowboy auf ein riesiges Kakteenfeld zureitet!

„Ich wette mit Dir um 10 Dollar, dass der da durchreitet!“, sagt die eine. „Ich wette, der reitet da nicht durch!“, sagt die andere. Der Cowboy reitet durch! Sagt die erste: „Schon gut! Kannst Deine Kohle behalten! Ich hab den Film schon mal gesehen!“ Sagt die zweite: „Ich auch! Aber ich hätte nicht gedacht, dass der da noch mal durchreitet!“ Schönen Montag, Stew …

Sam Gregg

… und die Woche nimmt kein Ende! Bis nachher ☺

Der erste Blick in den Schlafzimmerspiegel schenkte Gewissheit. Nein, er war nicht zu einem Käfer mutiert. Und ja, große, rote Wülste hatten sich unter den Augen breitgemacht. Ey, Kumpel, ich fühl mich genauso, wie du aussiehst!

Der zweite Blick zwang ihm Tessa ins Hirn. Zwanglos und unkompliziert. Er lächelte, auch wenn es nichts mit letzter Nacht zu tun hatte.

Sam blieb am Bild seiner Eltern hängen. Ein Polaroid, das beide in jüngeren und besseren Tagen zeigte. Seine Mutter in ihrem gelben Lieblingskleid, sein Vater zugeknüpfter, leicht spießig und verwechselbar. Mutter mit Geschäftspartner, der passende Untertitel. Dennoch entdeckte Sam jedes Mal, wenn er das Bild betrachtete, einen warmen Blick in den sonst so kühlen Augen seines Vaters.

„Dein Vater hat was, echt … sexy“, hatte Tess auf das Bild reagiert. „Aber weißt du was? Du gleichst eher deiner Mutter“, hatte sie gemeint und ihm mit ihrem Finger über die Brust gestrichen, geradewegs auf dem Weg nach unten.

Er löste den Klebestreifen, der das Foto am Holzrahmen des Spiegels hielt und legte es sofort auf die darunter stehende Kommode. Keine Zeit. Die Kommode mit dem Spiegelaufsatz erinnerte mit den Verzierungen an ein fehlplatziertes Möbel. Tess schoss ihm durch den Kopf. Sie hatte einfach ihre blonden Locken abgeschnitten, weil sie sie nervten. Jetzt sah sie wie ein verkorkstes Idol aus. Er musste an Stewart Turner denken, seinen besten Freund, der auch meinte, dass sein Vater zwar ziemlich sexy aussähe, er aber eher seiner Mutter gleiche.

„Keine Angst, Sam“, hatte Stew ihn daraufhin beruhigt, „du bist eh nicht mein Typ!“

Es war ein Montag im Herbst. Die ersten Sonnenstrahlen drangen in sein Schlafzimmer und versprachen heute einen milden Herbsttag, der auch als Sommertag hätte durchgehen können. Jetzt war es noch kühl. Die Tage waren vorbei, an denen man bereits morgens nur mit der Klimaanlage im Auto die Fahrt zur Arbeit überlebte. Strahlende achtzehn bis zwanzig Grad, gestand Sams Blick aus dem ersten Stock diesem Wochenanfang zu. Aber was wusste er schon? Er hatte ja kein Auto. Er brauchte auch keins, denn den Weg zu PharmaLap schaffte er leicht zu Fuß. Da war Tess schon schlechter dran. Sie musste mit dem Auto zur Firma, danach zu ihm, in einer Nacht- und Nebelaktion wieder zurück nach Hause, und anschließend ins Büro.

Du bist ein Arsch, Sam, echt!

Er hätte sie zum Frühstück einladen sollen. Aber warum mit Gewohnheiten brechen?

Sam öffnete die Nachttischschublade und schielte auf einen Müsliriegel. Schoko-Banane. Daneben ein ungebrauchtes Kondom.

Dizzy sprang auf den Nachttisch. Klar, sie war auf den Müsliriegel scharf. Schoko-Banane ging immer, selbst für eine Katze.

„Na, Dizzy, alles klar, meine Kleine?“

Er hob sie hoch, drückte sie an seine Stirn und wartete darauf, dass sie schnurrte. Das war ihr eingespieltes Morgenritual.

Dizzy schnurrte wie eine frisch geölte Singer-Nähmaschine und machte wie jeden Morgen einen wohligen Buckel. Das war das Zeichen, sie abzusetzen.

Er ahnte schon, warum sie heute schneller einen Buckel machte als sonst. Der Grund hieß Schoko-Banane-Müsliriegel.

Er schlurfte in den Flur zum Briefkasten, holte die Post und ging zurück ins Wohnzimmer. Vorbei am Bücherregal.

Ein Blick über die verstaubten Wälzer. Jeden Morgen das Gleiche, aber Sam hatte den Eindruck, als faszinierte dieser Zwischenstopp Dizzy immer aufs Neue.

„So, da wären wir, Dizzy. Mal sehen, was wir hier so haben: Das Ende der Kindheit, Das Haus nebenan, Mord am Strand … Ich hab jedes mindestens zweimal gelesen. Wie steht’s mit dir, Dizzy? Willst du dir eins über den Tag ausleihen?“

Er lachte.

„Du hast sie wahrscheinlich auch schon alle zweimal gelesen, was? Du hast recht: Wer liest heute noch Bücher, he? Nun gut, schauen wir mal, wer uns heute geschrieben hat.“

Das Erste, was ihm ins Auge fiel, war die Monroe, die ihn von einer Postkarte aus anstarrte. Gegen Marilyn in Schwarz-Weiß hatten Rechnungen freilich keine Chance. Also verbannte er die Plagen auf den Wohnzimmertisch, um sich voll und ganz den sinnlichen Schriftzügen der Postkarte zu widmen.

Oh wie sehr bist Du mir nah,

jetzt, wo ich fort von Dir bin!

Als wärst Du mit Deinem Schatten mir gefolgt,

um mich in Einsamkeit noch zu trösten!

Nun sitz ich ganz allein

in meinem Schattenzimmer

und sehn mich

nach dem erlösenden Strahl Deiner Gegenwart!

War das von Marilyn? Sie hatte ja auch gedichtet. Er wusste es nicht. Von Tess war ihm jedenfalls nichts dergleichen bekannt. Egal: Von wem auch immer, es ehrte ihn. Keine billige Liebeserklärung.

Wer verschickt heutzutage noch Postkarten?

Sam kannte niemanden. Aber dann war die Sache zwischen Tess und ihm doch nicht kompliziert, wenn sie ihn liebte.

„So, Dizzy, das Bummeln ist uns nicht gegeben, aber wem sage ich das, was? Wir haben uns ja nicht umsonst so früh aus den Federn gequält, wird also Zeit, an die Arbeit zu gehen, meine Liebe. Ich würde dich ja gern mitnehmen, aber Bill, die fette Ratte, würde dir nur im Halse stecken bleiben. Hoffen wir also einfach, dass irgendwer Erbarmen zeigt und einen Blitz schickt, was?“

Am fetten Billy Boy zu ersticken?

Das könnte Sam seiner Dizzy niemals antun.

1 Gregor Samsa, der Typ, der eines Morgens ebenfalls aus unruhigen Träumen erwacht war, sich aber im Gegensatz zu Sam wirklich in einen riesigen Käfer verwandelt hatte.

Die Schwelle

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