Читать книгу Die Schwelle - Sascha Heeren - Страница 5

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Die Erinnerung ist kein roter Faden.

Sie ist eher wie Konfetti:

bunt und wild umherschwirrend,

kaum zu fassen!

Er mochte den Park.

Der Kirschlorbeer bildete als immergrüne Hecke eine natürlich anmutende Barriere zum Rest der Anlage. Er wusste, dass nichts derart in der Spur wächst, deshalb war ihm das Gestrüpp lieber als jede noch so anmutige künstliche Form. Sie blieb kalt und hart.

Nichts übertraf seine kleine grüne Insel. Weder der verkrüppelte Baum in der Mitte des Parks noch das Backsteingebäude in seinem Rücken. Beide ragten beeindruckend empor und verkörperten eine längst vergangene Zeit. Doch wirklich verbunden fühlte er sich nur dem Baum, auch wenn es das Gebäude war, das ihm ein Dach über dem Kopf bot. Ein kaltes, hartes Dach.

Jedes Mal, wenn er sich auf die Parkbank gesetzt hatte, warf er dem hölzernen Greis einen anerkennenden Blick zu. Ey, Kumpel, ich fühl mich, wie du aussiehst! Dabei war er vermutlich nicht einmal halb so alt wie dieser Amberbaum. Ein Zaubernussgewächs, hatte ihm Beth verraten. Sie wusste viel. Für ihn hatte der Baum einfach nur nach einem Krüppelbaum ausgesehen, doch wenn sie vom Amberbaum sprach, klang es wie ein magisches Versprechen. In diesen Momenten vergaß er, dass er an einem Ort lebte, der nicht weiter von der Magie hätte entfernt sein können. Das war verzwickt. Im besten Fall verhext. Er erinnerte sich nicht, diesem Ort Versprechen abgerungen zu haben, und wenn doch, dann hatte er seine Wünsche und Sehnsüchte ohnehin bei seiner Aufnahme abgeben müssen.

Wann? Das lag hinter einer klebrigen Nebelmauer, die wie das Backsteinmonster die Wirklichkeit dort draußen abschnürte. Er war gefesselt wie die Zeit in diesem aseptischen Niemandsland zwischen Albtraum und Wirklichkeit, das seine Existenz ständig durch Erledigung von Formalitäten perpetuierte. Das Höchste der Gefühle.

Warten Sie hier, Sie werden gleich zur Erledigung Ihrer Formalitäten von Ihrer Bezugsperson abgeholt.

Damals hatte er auf Beth gewartet, die ihn zur Erledigung seiner Formalitäten abholen sollte. Danach kam sie regelmäßig, auch um ihn zum Park zu begleiten, wo sie schon recht bald von dem wunderschönen Amberbaum und seiner imposanten Herbstfärbung zu erzählen begann, die er nun niemals mehr zu sehen vermochte. Nie wieder würde er seine leuchtend violetten, feurig roten und gelben Blätter sehen können. Heute war er fast abgestorben, da hieß es, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Und das bedeutete noch immer: nicht sterben. Dazu brauchte man keinen farbenprächtigen Blätterschmuck.

Beth war an diesem verzwickten Ort seine Bezugsperson. Ihr musste er seine Wünsche anvertraut haben. Doch hütete sie sie auch für ihn? Er lebte an einem verzwickten Ort. Da hieß es, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren, nicht zu sterben. Dazu brauchte er keine Wünsche. Er brauchte eine Freundin.

Wenn Beth ihm auf der Bank Gesellschaft leistete, war sie der Mittelpunkt des Gartens und manchmal glaubte er, den Krüppelbaum in der vollen Blätterpracht des Amberbaums zu sehen.

„Die sehen aus wie Ahornblätter“, sagte sie und zeichnete die Form auf ihrer Hand nach. „Du kennst doch Ahornblätter, oder?“

„Ja, glaube schon.“

Seine Blicke klebten an ihren Fingerkuppen. Jede einzelne hatte sie mit dem Zeigefinger der anderen Hand berührt. Zärtlich abgezählt.

„Sehen ungefähr aus wie eine Hand. Und beim Zerreißen strömen sie einen herrlichen Duft aus.“

„Ahornblätter?“, fragte er.

„Nein, die Blätter von unserem Freund hier. Ein herrlicher Duft.“

Er würde diese Erfahrung niemals mehr machen können.

„Das möchte ich riechen“, sagte er und blickte zum Krüppelbaum.

Die Bitte eines Hoffnungslosen an einen Sterbenden.

„Ich weiß. Du hast es geschrieben.“ Beth berührte vorsichtig seinen Arm. Sie wollte ihn wieder zu sich holen.

Sein Blick bohrte sich in das morsche Holz. Dann war er wieder bei ihr. „Ich weiß.“

„Ich fand es sehr schön, wie du unseren Park beschrieben hast. Ich konnte ihn mir richtig vorstellen. Schade, dass wir hier keine Enten haben.“

„Ja, schade eigentlich. Ein Teich wäre wirklich schön.“

„Oh, ja. Aber so groß, wie du ihn beschrieben hast, hätte der hier keinen Platz. Dafür müssten wir anbauen, was?“

Sie umrundeten den Park mit ihren Blicken.

„Danke, dass ich es lesen durfte,“ sagte Beth nach einer Pause. „Wenn hier jetzt der Teich wäre, wo wäre dann der Baum mit dem Versteck?“

„Dort drüben ungefähr.“

„Nun ja, so groß hatte ich mir den Teich auch fast vorgestellt. Hier würde er wirklich nicht reinpassen, in unsere kleine grüne Oase.“

Sie sah ihn nachsichtig an.

„Du kannst gut schreiben, ich konnte es mir alles gut vorstellen.“

„Was?“

„Na, deinen Park. Die Büsche, den See, den Regen, das Versteck unter dem Baum …“

„Der heiße Regentag im Park, ja“, flüsterte er.

„Du weißt, dass das deine Fantasie ist?“

„Es ist ein Tagebuch.“

„Ein Tagebuch?“, fragte sie.

„So was in der Art. Es hilft mir, meine Gedanken zusammenzuhalten. Der Schädel reicht dazu nicht aus.“

Er lachte.

„Aber es ist deine Fantasie.“

„Ich fühl mich wie eine lose Blattsammlung.“

Er zog seine Hand an die Brust.

„Leicht zu zerfleddern. Von allem und jedem. Seiten können entfernt und vertauscht oder durch andere ersetzt werden. Das Buch hilft mir … mich zusammenzuhalten. Den Überblick zu behalten. Die Reihenfolge einzuhalten. Mich nicht zu verlieren.“

„Dich zu erinnern?“, fragte sie.

„Bloß nicht! Das verwirrt nur und macht Unordnung. Ich versuche, die Erinnerung zu kontrollieren.“

Sie ist sprunghaft, wirr. Sie kommt, wann sie will. Ständig auf der Flucht, wenn ich sie packen will. Ansonsten drängt sie sich in ihrer nutzlosesten Form auf: zusammenhangslos.

„Aber es ist Fantasie, nicht?“

„Oder die Kontrolle“, sagte er.

„Ja?“

Diese Frage war für ihn nur eine Formalität ohne Belang. Die Beantwortung brachte ihn nicht weiter. Nicht an diesem Ort. Hier stellten sich keine Fragen, um Dinge zu erklären. Aus seiner Perspektive zielte die Frage ausschließlich auf eine Entscheidung ab. Gebundene Fantasie oder zerfledderte Realität? Das galt es, zu entscheiden.

„Du hast schon viele Bücher vollgeschrieben. Weißt du, wie viele es sind?“

Er überlegte.

„Nein.“

Es war egal.

„Ungefähr?“, stocherte sie weiter.

„Nein.“

Das war für ihn ebenfalls unwichtig. Gebunden oder zerfleddert – lieber zwei gebundene, unverrückbare Seiten als tausend zerfledderte.

„Der rote Faden ist das Wichtige“, murmelte er vor sich hin. Seine Hand suchte unwillkürlich ihre Nähe. „Entweder schleift er einen durch den Schlamassel zum Ausgang, oder, falls nicht, dient er einem zumindest noch als Strick. Wie man es auch hält: Man muss durch den Schlamassel durch zum Ausgang.“ Er lächelte vorsichtig. „Schon allein deshalb sollte man stets einen reißfesten Faden bevorzugen.“

Gebundene Fantasie oder zerfledderte Realität? Das war eine Entscheidung zwischen Halteseil oder Strick.

Die Schwelle

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