Читать книгу Die Schwelle - Sascha Heeren - Страница 12

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„Hey, Stew …“

Sam tastete sich vorsichtig zu Stews Büro vor. Routine, bloß Routine.

Stew winkte ihn abgelenkt zu sich. „Hey, alter Knabe. Was gibt’s?“

Er grinste Sam an, als wollte er fragen, ob er nur zum Quatschen bei PharmaLap angestellt wäre und arbeiten heute überhaupt noch auf der Tagesordnung stünde.

„Ach du Schande, wie ist denn das passiert, Sam!? Dein Gesicht!“

Stew sprang von seinem Stuhl auf. Er traute sich nicht, die geröteten Stellen zu berühren.

„Ich weiß es nicht“, sagte Sam, „ich glaub, ich werde verrückt.“

„Wieso, was ist passiert? Wer zum Teufel hat dich geschlagen?“

„Ich schwör’s dir, ich hab nur an meinem Tisch gesessen und … Und dann hat mich jemand geschlagen – aber da war keiner! Das klingt verrückt, stimmt’s? Ich … ich – ich bin total durchgeknallt –“

„Nein, natürlich nicht. Weißt du noch, als ich die Grippe hatte und dachte, Britney Spears säße mit der Kettensäge im Wandschrank? Vielleicht hast du dir nur ’nen Virus eingefangen und mehr nicht.“

Sam beschlich das dumme Gefühl, es besser zu wissen. Vielleicht täuschte das aber auch. Das Ungünstigste, was er jetzt machen konnte, war, sich in die Sache hineinzusteigern. Das endete niemals gut. Er kam sich vor wie das aus dem Schlaf gerissene Kind, das zitternd zu seiner Mutter ins Bett kriecht, weil es im Schrank die Stimme eines Monsters gehört hat.

Ein Virus. Und wer auch immer am Telefon war, es war mit Sicherheit nicht Britney.

„Ja, so was wird’s wohl sein …“

Sam ließ sich auf Stews Mütterlichkeit ein, denn die hatte dieser, neben seiner teilweise arroganten Art, verdammt gut drauf. Keinem anderen als Stew hätte er sich anvertraut.

Er schüttelte den Kopf. Er wollte den Schwachsinn abschütteln.

„Ach, bevor ich’s vergesse: danke für die Karte!“, sagte Sam.

Routine.

„Welche Karte?“, fragte Stew.

„Die mit der Monroe drauf. Als wärst Du mit Deinem Schatten mir gefolgt, um mich in Einsamkeit noch zu trösten!“, deklamierte er.

„Sam, ich fühle mich echt geehrt, aber ganz so ein leichter Junge bin ich nun auch wieder nicht.“

„Ach, komm schon! Ich weiß, die Karte ist von dir, Stew. Gib’s zu. Der Witz ist aufgeflogen.“

„Vielleicht ist Shakespeare ja wieder eingeflogen“, sagte Stew und machte Anstalten, nun doch vorsichtig Sams gerötete Stellen am Kopf zu betasten. „Lass mal sehen. Und du bist wirklich nicht krank?“

Sam zuckte weg.

„Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest“, fuhr Stew fort. „Ich verschicke keine Karten, und schon gar keine mit der Monroe drauf. Das ist billig. Wir hatten doch schon erörtert, dass du dir einen Virus eingefangen hast und jetzt raus hier! Es gibt tatsächlich Menschen in diesem Sklavenhaus, die arbeiten müssen. Also …“

„Ist ja gut, bin ja schon weg. Aber ich behalte dich im Auge, mein Lieber“, drohte Sam mit einem Zwinkern und verließ erleichtert Stews Büro.

Tess Louis

Hi, Baby, ich brauch Dir keine Karte zu schreiben: Ich graviere Dir eigenhändig mit meinen Fingernägeln in Dein Herz, dass ich Dich liebe! Tess

Er wagte sich zurück an seinen Arbeitsplatz und legte Muhammad Ali neben die Tastatur, falls ihm der Monitor noch eine verpassen wollte. Sein Handy mit Tess’ Nachricht hielt er festumklammert in der Faust auf seinem Oberschenkel, während er die E-Mails auf dem Bildschirm las. Gerne hätte er behauptet, dass das in der Therapie Gelernte – Routine – ihn nun beruhigte, ihn die Merkwürdigkeiten dieses Tages verdrängen ließ, aber es war wohl viel einfacher. Es war Tess, die ihn davon abhielt, den Kopf zu verlieren.

Er hoffte, dass ihm beides irgendwie helfen würde.

Von: Dexter C., Rechtsabteilung

An: Alle Angestellten

Betreff: Erfolgreiches Urteil in letzter Instanz

Wir möchten Sie darüber informieren, dass New York Pharmaceutical Laboratories Pvt. Ltd. das Verfahren, das Mrs. Judy Lagrand gegen uns in der Pronopax-Angelegenheit angestrengt hat, gewonnen hat. Letzten Endes folgte das Gericht den Stellungnahmen der von uns beauftragten Gutachter, die zu dem Ergebnis kamen, dass:

1. Mrs. Lagrands Leber-Insuffizienz nicht auf die Anwendung von Pronopax, sondern eines übermäßigen Konsums von Jelly Belly Tutti Frutti zurückzuführen ist;

1. Mrs. Lagrand nicht wegen Pronopax erblindete, sondern wegen einer Obliteration der Augennerven, die ursächlich mit 1. in Zusammenhang steht.

Wir begrüßen es ausdrücklich, dass der Ruf unseres ausgezeichneten und hinsichtlich der Kontraindikationen völlig harmlosen Produkts somit erfolgreich und medienwirksam rehabilitiert werden konnte. Um Sie an unserem Erfolg teilhaben zu lassen, gibt es Pronopax in unserem Firmenladen ab heute eine ganze Woche lang zum halben Preis.

Pronopax zum halben Preis. Nein danke. Mrs. Lagrand konnte froh sein, dass ihr PharmaLap nicht die zwei Tonnen schweren Hamster auf den Hals gehetzt hatte.

Von: James Michael Goforth

An: Alle Angestellten im dritten Stock

Betreff: Beschränkter Zugriff

Um unnötigen Gerüchten über die Bereiche, zu denen die Angestellten im dritten Stock keinen Zutritt haben, entgegenzutreten, möchte ich betonen, dass der Zutritt einzig und allein zu Ihrer Sicherheit eingeschränkt wurde. Die Hygieneräume im Untergeschoss sind unbedingt steril zu halten und werden von der Gesundheitsbehörde strengstens kontrolliert. Die Labore im sechsten Stock sind wegen der teilweise hoch toxischen Chemikalien hingegen ausschließlich den sicherheitslegitimierten Mitarbeitern vorbehalten. Die Sicherheitsbeschränkungen beinhalten keinerlei hierarchische Implikationen oder Ausgrenzungsmaßnahmen. Vielmehr wollen wir, dass Sie sich alle als Teil der PharmaLab-Familie verstehen.

Herzliche Grüße

Ihr James Michael Goforth

Wir sind alle eine Familie, liebe PharmaLap-Kinder! Hosianna, hosianna! Sammelt euch unter dem Brutus-Gewand von Onkel Goforth, er wird euch beschützen und wärmen, bis er mit seiner kalten Klingel eure Kehlen durchschneidet. Kehl amour, mes amours! Klingelingeling, der Dolch ist da! Blablabla! Sam besann sich darauf, lieber weiterzuarbeiten.

Nachdem er einen weiteren – deutlich schlechteren – Witz von Stew kommentiert hatte, machte er sich an das Vitando-Produkt. Der Brotjob. Das Motto lautete ab jetzt: Scheiß auf Bill.

Plötzlich schaltete sich der Monitor aus. Dunkel war’s, der Mond schien helle, als ein Auto blitzeschnelle … Stromausfall? Nein, konnte nicht sein. Die Schreibtischlampe, aber auch die restliche Beleuchtung tat noch ihren Job.

Sam drückte die Tasten am Monitor, vorsichtig, denn er wollte keine geballert bekommen. Schwachsinn. Das musste es gewesen sein. Er drückte energisch auf die Tasten unten am Monitor. Er ruckelte am Kabel, schaute hinter das Monstergerät. Die Kabel saßen. Er war kein Techniker, aber ein eingestecktes Kabel erkannte er.

„Das … wird schon wieder. Ich komme schon wieder auf die Beine. Warte, wird schon wieder. Ganz okay. Gut. Es ist hart“, flüsterte eine Frauenstimme.

Es hörte sich an, als weinte jemand nebenan.

Sam lauschte an der Wand. Stille. Da war niemand. Keiner, der schluchzte.

Plötzlich funktionierte der Bildschirm wieder.

Er starrte auf den Monitor. Der Vitando-Entwurf war weg. Stattdessen flackerte ein Film über den Monitor. Eine Frau im gelben Kleid fegte mit einem Reisigbesen über einen Teppich.

„Nein, weg damit, weg! Nein! Weg! Böser Junge, böser Junge, hilf mir doch! Warum hört er mich denn nicht?“

Jetzt erkannte er es: Es war ihre Stimme, die er eben gehört hatte!

Er hielt sich die Hand vor den Mund. Bloß keinen Mucks von sich geben. Im Hintergrund erkannte er die angelehnte Haustür. Die Frau fegte Richtung Tür. Dann gesellte sich jemand zu der Frau.

Durch das Glas der Tür sah er zwei Männer die Veranda heraufkommen. Kurz darauf erkannte die Frau die beiden und versuchte, die Tür abzuschließen. Zwecklos. Sam war Zuschauer einer vergangenen, entschiedenen Sache. Einer zu Ungunsten entschiedenen Sache.

Die Frau stöhnte angestrengt und stemmte sich vergebens gegen die Männer, die sie mitsamt der Eingangstür in den Wohnraum stießen. Sie stürzte zu Boden.

„Ich will meinen Sohn!“, schluchzte sie, doch sie ignorierten sie und trugen sie unbeeindruckt raus.

Mom

Gebt mir meinen Sohn wieder! Bitte!

Sam riss sich die Brille vom Gesicht. Er konnte sein Handy kaum halten, so kraftlos balancierte er es in der offenen Hand. Er presste die Tränen mit Daumen und Zeigefinger zurück. Er wollte sie nicht rauslassen. Es war egal. Es machte keinen Sinn. Was auch immer hier gespielt wurde, es war vergangen. Vergebens, sich dagegen zu wehren. Trotzdem empfand er dieses Schauspiel auf dem Bildschirm als einen persönlichen Angriff.

Irrsinn, das alles. Er sollte mittlerweile in der Lage sein, Irrsinn zu erkennen, wenn er sich vor ihm ausbreitete. Aber wenn er sich in ihm ausbreitete? Was konnte er schon dagegen unternehmen?

Als der Monitor wieder den Vitando-Bericht eingeblendet hatte, schoss eine glitschige, fleischfarbene Hand aus dem Schirm. Sams Augen weiteten sich vor Schreck, ein Schrei blieb ihm mitten im Hals stecken. Das, was gerade geschah, konnte nicht wahr sein. Und doch erkannte er die Hand mitten vor seinen Augen. Keine menschliche Hand. Eine Kralle. Sie griff Sam ins Gesicht, sog sich an ihm fest und legte sich über Mund und Nase. Panik erfüllte ihn.

Er rang nach Luft. Dann stieß ihn die Hand von sich.

Die Schwelle

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