Читать книгу Die Schwelle - Sascha Heeren - Страница 13

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Die Pranke aus dem Monitor schleuderte Sam nach hinten. Sein Bürostuhl rollte geräuschvoll über den Boden. Niemals zuvor hatte er einen realeren Schub erlebt. Das Gefühl der Klaue in seinem Gesicht, die Hitze, die in seine Wangen gestiegen war, der Schmerz … alles wirkte zu echt, um seinen angeschlagenen Hirnwindungen entsprungen zu sein.

Er fand sich in einer Zwangsjacke und in einem Rollstuhl wieder. Sam saß noch immer in seiner Büronische – doch gleichzeitig auch nicht. Als hätte die Szene einen neuen Anstrich erhalten und sich die fehlerhafte Farbeinstellung seines Monitors auf seine Welt übertragen. Abgedunkelt und falsch eingefärbt kauerte er mit verschnürten Armen und starrem Blick nach vorn. Die Pranke hatte ihn in das Zentrum eines Wirbelsturms gezerrt.

Nun war der Moment der Stille eingetreten. Es hatte keinen Sinn, um Hilfe zu schreien. Egal, was gerade passierte, ob er halluzinierte oder etwas anderes dafür verantwortlich war, dies würde eine der Geschichten werden, die einem erwachsenen Mann keine Heldenbestätigung in Aussicht stellte. Sam blickte sich vorsichtig um. Er wartete darauf, zurückgeworfen zu werden. Zurück durch den Hurrikan an seinen Schreibtisch, ohne Zwangsjacke.

Er presste angestrengt die Augen zu. Bitte … nicht, flehte er innerlich. Routine. Vielmehr war dieser Gedanke zur Gewohnheit geworden.

Plötzlich hörte er wieder die verzerrte Stimme aus dem Telefon.

„Hallo, Sam, du elender, geistesgestörter Hurensohn.“

Er sah sein Bürotelefon auf dem Schreibtisch stehen. Der Hörer war aufgelegt. Die Schnur verdreht wie zuvor. Nicht mal das rote Lämpchen flackerte, um einen Anruf zu signalisieren. Und doch hörte er die Stimme, als läge der Hörer direkt auf seiner Ohrmuschel.

„Ich bin nicht geistesgestört!“, rief Sam.

Der fahle Beigeschmack dieser Standardfloskel frischer Psychiatriepatienten holte ihn ein. Abgesehen davon: Er diskutierte im besten Falle mit sich selbst. Das hoffte er, denn darin hatte er Erfahrung. Das war ihm zumindest vertraut, damit wusste er umzugehen. Falls es sich hierbei um etwas anderes handeln sollte … war er aufgeschmissen. Oder diskutierte er vielleicht mit einer glitschigen Missgeburt dieser Firma, die es auf ihn abgesehen hatte?

„Du bist verrückt, deine Mutter ist verrückt. Miese Veranlagung bleibt miese Veranlagung.“

„Das war nicht immer so!“ Sams eigene Worte klangen verzerrt in seinen Ohren.

„Da hast du recht, sie war nicht immer die gewalttätige, sabbernde, lallende Irre, zu der sie geworden ist. Das war ganz allein dein Werk.“ Die Stimme aus dem Telefon war so von Hass erfüllt, dass Sam ihn förmlich spüren konnte.

„Nein! Ich war erst sechs Jahre alt!“

„Ein sechs Jahre altes kleines Monster, das seine Mutter in den Wahnsinn und in den Selbstmord trieb!“ Der Hass blieb an Sam haften, durchdrang ihn von Kopf bis Fuß und fraß sich in seine Gedanken.

„NEIN!“

Sam schreckte hoch und zuckte heftig zusammen. Er befand sich an seinem Schreibtisch. Der Vitando-Entwurf gaffte ihn verschwommen an, das Bild brannte sich in seine Netzhaut.

„Freak.“

Sam hob den Kopf. Es war Bill Coon. Grinsend gaffte er in Sams Büro, bevor er kopfschüttelnd weiterging.

Arschloch.

Es war Zeit für Mittag. Sam war der Appetit vergangen. Dieser Montag war zum Kotzen. Noch war es zu früh, denn grundsätzlich sollte erst ab halb eins in die Pause aufgebrochen werden. Scheiß drauf!, entschloss Sam und ging zu Stew.

„Stew, entschuldige, aber … Wir müssen unbedingt quatschen. Irgendwas stimmt nicht mit mir. Ich … ich glaube, ich bekomme allmählich Halluzinationen.“

Normalerweise hätte so etwas Eindruck gemacht. Aber die beiden kannten sich zu gut. Sie unterschieden sorgsam zwischen Scherz und Ernst. Stew kannte Sams Geschichte. In groben Zügen zumindest. Da hörte der Spaß auf. Aber Sam musste jämmerlich aussehen – jämmerlich genug jedenfalls, um sofort Gehör zu finden.

„Sam, Sam. Hör zu, das wird schon wieder“, beruhigte ihn Stew und sah auf die Uhr.

„Lass uns doch ein paar Minuten früher gehen“, sagte Sam. „Ich schicke Frank eine Mail. Der hat bestimmt nichts dagegen, okay?“

Das Little Donkey lag ebenso wie PharmaLap an der Shore Road, ein paar hundert Meter weiter oben. Vom PharmaLap-Firmengelände brauchten die Mitarbeiter, für die das Little Donkey unverzichtbar geworden war, nur wenige Minuten. Aber sie waren es wert, wenn man nicht in der Firmenkantine seine Pausen verplempern wollte. Sam hatte eh keinen Zutritt dazu, und er empfand diesen technischen Fehler als Geschenk Gottes. Wer wollte denn schon unter den Augen seines Arbeitgebers speisen? Außerdem bestand kein Zweifel daran, dass die Kantine videoüberwacht war. Zur Sicherheit der großen PharmaLap-Familie. Deswegen war für jeden, der seine Privatsphäre liebte und noch zu keinem hauseigenen Sklaven von PharmaLap geworden war, das Little Donkey die bessere Variante. Bis auf Bill fanden das alle in Sams Abteilung. Dabei hatte Bill Coon noch andere Charakterzüge, die es ihm verboten, diesen Laden zu betreten.

Das Little Donkey war der Himmel. Nur sah es nicht so aus. Es war dunkel und schlecht beleuchtet. Nach dem Betreten hatte man keinen Schimmer, wie spät es war. Es hätte auch zwölf Uhr nachts sein können.

Die Wände waren aus dunkelrotem Backstein. Die Stühle, Bänke und Tische bestanden aus dunklem und schwerem Holz. Das gelbliche, über den Tischen baumelnde Licht der Lampen verbreitete nur einen schwachen Schein.

Mit der Zeit, wenn man die unterschiedlichsten Typen kennengelernt, den Dreck ignoriert und das Chaos lieben gelernt hatte, wurde es zum traumhaftesten Ort auf der Welt.

Ähnlich verhielt es sich mit dem Kellner. Er war nicht älter als Stew und Sam, groß gewachsen, muskulös mit Bauchansatz, den die Frauen liebten, und den das Shirt nicht mehr verdecken konnte. Jeder mochte ihn.

Er baute sich grinsend vor Stew und Sam auf.

„Sieh an, sieh an! Die Herren machen also blau. Wirklich, ihr solltet euch schämen.“

Sie saßen an einem Tisch nicht weit vom Eingang.

Stew sah durch ihn hindurch.

„Schämen gehört nicht zu meinem Vokabular.“

„Offenbar doch, du hast es gerade benutzt.“

„Man sollte seine Weisheit nun mal nicht an Heteros verschwenden!“

„Dann will ich euch Süßen nicht weiter stören, was? Einfach schreien“, zwinkerte der Kellner und machte sich aus dem Staub.

Bei Stammkunden, und das waren sie, musste man wissen, wann es an der Zeit war, rechtzeitig zu verschwinden.

Stew rutschte zu Sam rüber.

„Na los, sag schon, was ist heute passiert?“

„Nein, nein … Ich hab was gesehen, das dann doch gar nicht da war. Das war alles.“

Sam sah dem Kellner nach.

„Sam, verdammt, ich bin dein bester Freund. Du kannst mir alles sagen, das weißt du.“

„Ja, ich weiß.“

Das Übliche, wollte Sam sagen, das ist wie immer los, aber das hätte es nicht getroffen. Da war mehr los.

„Ich hab dir doch erzählt, dass meine Mutter durchgedreht ist und meinen Vater und mich verlassen hat, als ich klein war, oder?“

„Ja.“

Stew nickte.

„Das ist nicht wahr, dass sie uns verlassen hat, obwohl ich es selbst glauben wollte, aber … Vor ein paar Tagen, da hab ich mich erinnert, dass sie sich im Schlafzimmer erhängt hat.“

„Ach du …! Fuck! Das ist ja schrecklich! Jetzt verstehe ich, dass du ausgerastet bist. Sam, versteh mich bitte nicht falsch, aber hast du schon mal daran gedacht, das richtig aufzuarbeiten? Mit ’nem richtigen Psychologen?“

Sam wusste, die damalige Zwangseinweisung hatte mit einer Therapie nichts zu tun.

„Ich meine, das mit deiner Mutter ist so hart, damit wird kein Mensch allein fertig!“

„Ja, ich hab dran gedacht, aber … Ich will nicht zurück in die Anstalt, Stew, eher würde ich sterben.“

„Niemand hat gesagt, dass du wieder zurück musst! Ich dachte nur an einen Therapeuten oder so was.“

„Ja, okay, ich denk drüber nach, Stew.“

Der Kellner wischte einen der Nachbartische ab.

„Hör zu, außer dir hab ich das noch niemandem erzählt. Du sagst es nicht weiter, oder?“

„Äh, was? Spinner! Natürlich nicht. Was glaubst du denn? Meine eigene Therapie hat mir so gut geholfen, ich meine – sieh mich an! Ich verrate nie Geheimnisse, ich kann ja nicht mal mehr lügen!“, grinste Stew. „Scheißen muss ich auch nicht mehr. Wenn ich aufs Klo gehe, entwinden sich meinem Anus Rosenblätter“, flötete er und machte eine passende Handbewegung, auf die ein schallendes Lachen folgte, als hätte er es eigenhändig entkorkt.

Sam prustete los.

„Hör auf!“, keuchte er, „ich hatte eigentlich vor, noch etwas zu essen. Den Rosenblätter-Abgang behalt ich mir fürs Firmenscheißhaus vor. Ich sehe schon vor meinem geistigen Auge, wie ich anschließend zum Zeichen meiner Verehrung Bill ein Rosenblatt auf seinen Schreibtisch lege.“

Der Mittagsstopp im Little Donkey tat Sam gut. Eine kurze Erholungspause vom Wahnsinn. Die eigentliche Wohltat an diesem merkwürdigen Vormittag war jedoch Stew. In seiner Gesellschaft fühlte sich Sam sicher und geschützt. Mit Stew war egal, wo oder in welchem geistigen Zustand er sich befand. Alles war gut, und keine Spritze oder Tablette dieser Welt konnte mit der Wirkung ihrer Freundschaft mithalten. Besser noch als Routine.

„Danke“, sagte Sam.

„Immer gerne.“ Stew lächelte verständnisvoll. „Aber ab nächstem Jahr erhöhen sich meine Stundensätze, nur schon mal zur Info.“

„Okay. Apropos Info: Ich hab noch jede Menge zu tun. Ich stürz mich wieder in die Arbeit, so lange ich noch dazu in der Lage bin.“

„Ich auch, gut dass du mich daran erinnerst. Und ich dachte schon, du hältst mich von der Arbeit ab.“

Die Schwelle

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