Читать книгу Die Schwelle - Sascha Heeren - Страница 14
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Das Unliebsame an Sams Job war die Pflicht, sämtliche E-Mails lesen zu müssen. Goforth persönlich hatte vor nicht allzu langer Zeit einen Erlass herausgegeben – per E-Mail, versteht sich –, in dem er auf die Disziplinarmaßnahmen bei Nichtbeachtung explizit einging. Für PharmaLap ist es unumgänglich, dass jeder Mitarbeiter seine Informationen gemäß seiner Sicherheitsstufe auf dem Laufenden hält. Das bedeutete, dass Sam jeden Siegeszug der Rechtsabteilung, aber auch die familiären Ausartungen eines J. M. Goforth lesen musste. Das unwichtige Gewäsch war ihm vorbehalten. Mit anderen Worten: Er durfte grundsätzlich nur das lesen, was nicht gesendet werden sollte. Die Sicherheitsüberwachung ging gerüchteweise angeblich so weit, dass das Computersystem registrierte, wie lange eine Nachricht ungeöffnet beim Empfänger im Posteingang lag. Zwar waren das bis jetzt alles nur Gerüchte, und das Ganze überschritt auch deutlich Sams Sicherheitsstufe, aber ganz so abwegig erschien es ihm trotzdem nicht.
Sam fuhr das Computersystem hoch, loggte sich ein und tat das, was er – seit heute – am meisten hasste: E-Mails checken, den Vitando-Report abschließen und hoffen, nicht wieder von seinem Monitor eins in die Fresse zu bekommen. Er legte Muhammad neben die Tastatur. Die Brille nahm er ab, auch wenn er dafür näher an den Bildschirm musste.
Tess Louis
Hey Maus, ich weiß, du hast einen schweren Tag. Mach dir keine Sorgen, das kommt schon alles wieder klar. Heute Nacht werde ich dich einer Spezialbehandlung unterziehen, und dann wirst du sehen, dass du den ganzen Scheiß aus der Firma vergisst.
In Liebe, Tess
PharmaLap war ein Dorf. Und er war der Dorftrottel. Hätte er vorhin leiser mit seinem Monstermonitor kämpfen sollen? Hatte Frank McDowell etwa was durchschimmern lassen? Egal, Hauptsache, irgendjemand dachte an ihn. Dass er das nötig hatte, wurde ihm spätestens bei der nächsten E-Mail bewusst. Er hätte kotzen können.
Von: Bill Coon
An: Samuel Gregg
Betreff: Ups!
Sam,
statt im Verzeichnis „Markteinführung“ fand ich die Vitando-Tool-Dokumente bei „Produktentwicklung“. Wie die dorthin gelangt sind, kann ich mir beim besten Willen nicht erklären. Beim nächsten Mal wäre ich dir sehr verbunden, wenn du deine Arbeit mit mehr Engagement ausführen würdest. Vielleicht solltest du deine Arbeitsweise mit einer anderen Einstellung angehen oder es einfach mal mit Vitando probieren. Ich kann nämlich nicht all meine Zeit dafür verschwenden, dir hinterherzuräumen.
Herzliche Grüße
Bill
Mit einem Stirnrunzeln beugte sich Sam weiter vor. Er konnte nicht glauben, was er dort auf dem Bildschirm flackern sah.
Von: Samuel Gregg
An: Alle Angestellten
Betreff: Selbstanzeige
Hallo,
ich wollte euch bloß darüber informieren, dass ich ein Mörder bin. Ich habe meine Mutter in den Selbstmord getrieben. Sie hat sich aufgehängt, weil ich ein MONSTER bin. Ihr hättet sie mal sehen sollen! Ihre Augen sind wie faulende Kirschen aus ihren Höhlen getreten, ihre Zunge hing wie ein fetter dunkellila Lappen aus dem Fenster, und ihre Pisse konnte gar nicht schnell genug an ihrem Bein hinab bis auf den Teppich tropfen. Sam
Sam Gregg
Du erinnerst dich, Sam! Erinnerst du dich nicht? DOCH DU ERINNERST DICH, DU MISSGEBURT!!!
Er blickte auf sein Handy. Dann wieder auf den Bildschirm. Hatte er die Botschaft gelesen? Er erinnerte sich nicht. Aber da standen etliche Zeichen, die zu Wörtern – oder gar Sätzen – verdichtet waren. In Zeilen eingraviert zum schrillen Glockenklang. Wer außer Stew wusste, dass seine Mutter nicht einfach nur gegangen war? Konnte sich dieser Jemand auch ins System eingeloggt und die Nachricht in seinem Namen gesendet haben? Oder war er auf dem besten Wege, durchzudrehen? Besten Wege? Haha. Er befand sich bereits mitten in der Hölle!
Er klickte die nächste E-Mail an. Die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit verkündete: Keine Tierversuche mehr. Und deshalb müsse man Mitarbeiter entlassen. Scheiß Tiere!, kommentierte er die Mitteilung, dass es für Dr. Fritz „Rhesus“ Haarmann nächsten Freitag um 12:00 Uhr eine Abschiedsfeier geben solle. Im Konferenzzimmer. Vierter Stock.
Sam wartete auf Prügel.
Doch der Monitor hielt sich zurück.
Von: Charles Gregg
An: Samuel Gregg
Betreff: Dein Beruf
Hi Sam,
Mann, aus dir ist ja echt was geworden, ich bin richtig stolz auf dich! Wenn man bedenkt, dass du eigentlich im Bauch deiner Mutter hättest sterben sollen, um uns damit viel Kummer zu ersparen! Aber jetzt ist es an der Zeit, in meine Fußstapfen zu treten. Doch vorher wirst du noch ein Vorbereitungsseminar in Monrovia absolvieren und dich gegen Ebola impfen lassen. Das Seminar findet im Ducor Hotel statt. Es ist zwar eine Ruine. Aber mit Schlafsack kann man es sich in der Trockenzeit dort richtig gemütlich machen.
Pack deine Koffer, ich hol dich heute um Mitternacht ab. Dad
P.S.: Ich hab ziemlich viel Fleisch verloren, kann sein, dass du mich nicht wiedererkennst. Ich bin der mit der Kette aus Augen und Zähnen.
Der gleiche Typ. Will mich fertigmachen. Meinetwegen. Willkommen in der Hölle. Ich reiß dir die Augen und die Zähne aus, das verspreche ich dir. Und anschließend reihe ich sie zu einer Modeschmuckhalskette auf, damit du immer ein Andenken von mir hast!
Die Verkaufsabteilung schrieb, dass die Umsätze in diesem Monat erfreulicherweise gestiegen seien. Man lobte den familiären Zusammenhalt aller Abteilungen und verwies darauf, dass solch eine Leistung immer nur das Ergebnis aller sein könne. Im selben Satz bedankte sich die Verkaufsabteilung bei Goforth, dem auch für die Zukunft ein glückliches Händchen bei den Personalentscheidungen gewünscht wurde.
Heil Goforth! Wünsch dir ein glückliches Händchen beim Runterjodeln, damit dir der Tennisarm erspart bleibt!
Von: Der Hölle
An: Samuel Gregg
Betreff: Berufliche Chancen
Sehr geehrter Mr. Gregg,
wir beobachten seit einiger Zeit Ihre berufliche Entwicklung und möchten Ihnen ein Angebot unterbreiten. Sie arbeiten gegenwärtig als Texter, wir sind jedoch davon überzeugt, dass Ihre eigentlichen Talente im Bereich Mord überwältigend sind. Deshalb glauben wir, dass Sie der nächste Ted Bundy oder Jeffrey Dahmer werden könnten. Wer weiß, vielleicht schaffen Sie es auch, ein zweiter Hitler oder Stalin zu werden! Bitte übersenden Sie uns Ihre Bewerbungsunterlagen sowie einen zerhackten Mittelfinger. Auch im Auftragskiller-Segment haben wir interessante Angebote für Sie.
Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit Ihnen!
Luzifer & Belial Corp.
PharmaLap feierte im nächsten Monat sein dreißigjähriges Jubiläum. Die Personalabteilung verlangte kreative Vorschläge aus den Reihen der Belegschaft.
Ganz schön alt. Dreißig Jahre. Aber schau dich selber an, schaust aus wie ein dreißigjähriges verhärmtes Muttersöhnchen mit Brille. Klugscheißermuttersöhnchen. Jede Lebensfreude ausgeschissen. Mann, du passt so was von hierher! Bist ja geradezu ein PharmaLap-Sklaven-Prototyp.
Zurück zu Vitando.
Gottverdammte Scheiße!
Fieberhaft durchsuchte er sämtliche Ordner, auf die er Zugriff hatte, doch er konnte die Vitando-Datei nirgends finden.