Читать книгу Liebe mit Nebenwirkungen - Sassika Büthe - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеNach langer Zeit wachte Tina am nächsten Morgen in ihrem Bett wieder einmal nicht alleine auf. Sie spürte deutlich einen zweiten Körper auf der anderen Seite ihres Bettes. Mit einem Lächeln räkelte sie sich im Bett. Im selben Moment umschlang Henrys Arm ihre Taille und rückte ein Stückchen näher an sie heran.
„Guten Morgen“, raunte er ihr ins Ohr. Langsam öffnete Tina ihre Augen und drehte sich zu Henry um. Henry sah sie lächelnd an und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen.
„Guten Morgen.“
„Gut geschlafen?“
„Mmh, sehr gut. Danke“, murmelte Tina dicht an Henrys Lippen und schlang ihre Arme um Henrys Nacken um ihn dichter an sich heranzuziehen. Sie küssten sich eine halbe Ewigkeit, ehe sich Henry plötzlich aufsetzte und sagte:
„Hey, hast du heute nicht auch deinen freien Tag?“
„Ja, du etwa auch?
„Ja, was hältst du davon, wenn wir einen Ausflug machen?“
Tina musste lachen bei soviel freudiger Energie, die von Henry ausging,
„Gut von mir aus, woran hast du denn gedacht?“
„Ich weiß nicht genau, aber wie wäre es mit einer Schifffahrt, vielleicht nach Helgoland. Ich habe mir sagen lassen, dass es dort wunderschön sein soll. Ich bin jetzt schon eine ganze Weile hier, doch ich hatte kaum Gelegenheit mal den Strand zu genießen oder mit dem Schiff hinauszufahren.“
Tina lachte.
„Mit dem Schiff bin ich auch schon seit Jahren nicht mehr gefahren und auf Helgoland war ich bestimmt schon seit zehn Jahren nicht mehr.“
„Du wohnst so dicht am Meer und bist seit Jahren nicht mit dem Schiff gefahren?“
Tina dachte kurz nach. „Nein, aber wenn man am Meer aufgewachsen ist, sieht man, glaube ich, die schöne Dinge, die das Meer mit sich bringt, manchmal gar nicht mehr.“
„Wirklich? Ich glaube ich wäre ständig auf See, wenn ich hier leben würde.“
„Aber das tust du doch, hier leben meine ich.“
„Ja schon, aber bisher habe ich nur gearbeitet und alleine macht es nicht halb so viel Spaß. Also, was sagst du nun, machen wir diesen Ausflug? Komm schon, sag ja.“
Tina lachte auf, als sie Henrys Gesicht sah, das dem eines Kindes im Augenblick sehr ähnelte und dem man eine Bitte unmöglich abschlagen konnte.
„Gut… ja, wir fahren. Aber vorher mache ich uns Frühstück“, sagte Tina und schlang die Beine aus dem Bett.
„Super“, jubelte Henry und sprang ebenfalls aus dem Bett.
Tina zog sich einen Morgenmantel über und während sie die Treppe hinunterging, hob sie im Vorbeigehen die herumliegenden Klamotten vom Boden auf, die sie am Abend im ganzen Haus verteilt hatten. Während Henry unter der Dusche stand, deckte Tina den Tisch. Kurze Zeit später saßen sie beide am Frühstückstisch und genossen das gemeinsame Frühstück. Hin und wieder sahen sie einander lächelnd über den Tisch hinweg an, doch ansonsten sprachen sie nicht allzu viel. Tina hatte seit langem nicht mehr so viel gegessen. Gesättigt schob sie ihr Brett weiter auf den Tisch und stand auf.
„Wenn wir noch los wollen, sollte ich mich schnell noch fertig machen und duschen.“
„Gut, ich räume währenddessen hier auf“, sagte Henry und erhob sich ebenfalls.
Als Tina wenig später frisch geduscht nach unten kam, fand sie Henry auf ihrer Terrasse wieder. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand schaute er versunken in ihren Garten. Henry zuckte leicht zusammen, als Tina hinter ihm auf die Terrasse trat. Er sah sie über seine Schulter hinweg an.
„Schön hast du es hier.“
„Ja“, sagte Tina mit einem stolzen Lächeln.
„Du fühlst dich sehr wohl hier, oder?“
Tina nickte. „Ich liebe es. Hier bin ich zuhause.“
„Beneidenswert. Ich wünschte ich könnte das gleiche von mir sagen, aber bisher habe ich mich noch nirgends je wirklich zuhause gefühlt.“
„Nicht einmal in deinem Elternhaus?“, fragte Tina leicht verwirrt. Henry wich ihrer Frage jedoch aus und schüttelt leicht mit dem Kopf.
„Können wir los?“, sagte er stattdessen nur und Tina ging nicht weiter darauf ein. Er wollte anscheinend nicht darüber reden. Also beließ es dabei.
„Klar, los geht’s.“
Sie fuhren mit Henrys Wagen bis nach Büsum, um von dort die Fähre nach Helgoland zu nehmen. Eine halbe Stunde später befanden sie sich bereits auf einem Schiff Richtung Helgoland.
Der Morgen war sehr neblig gewesen und erst so langsam klarte sich der Himmel auf und die Sonne guckte dann und wann zwischen den Wolken hervor. Es würde ein schöner sonniger Tag werden, doch als sie an Bord des Schiffes gingen war die Feuchtigkeit des Nebels noch deutlich zu spüren. Aus diesem Grund waren Tina und Henry auch einer der wenigen Fahrgäste, die sich nicht unter Deck verkrochen. Sie gingen ganz nach vorne des Schiffes und sahen schweigend dabei zu, wie das Schiff ablegte und aus dem Hafen verschwand. Sie standen dicht beieinander, doch sie berührten einander nicht, bis Henry sich plötzlich von der Reling abstieß und sanft über ihren Arm strich.
„Ich hole uns einen Kaffee, ja?“, sagte Henry dicht an ihrem Ohr. Tina nickte nur. Sie wusste nicht, worauf dieser Tag hinaus laufen sollte. Sie war sich unsicher. Zum einen wünschte sie sich Henry einfach in die Arme zu nehmen, ihn zu küssen und den Tag einfach zu genießen. Zum anderen wünschte sie, sie könnten einfach wieder zusammen ganz ungezwungen rumalbern wie früher. Am meisten aber wünschte sie, dass dieses beklemmende Schweigen zwischen ihnen endlich ein Ende haben würde und sie irgendetwas von den anderen Möglichkeiten tun konnten.
Wenige Minuten später erschien Henry wieder mit zwei Styroporbechern in der Hand. Tina stieß sich nun ebenfalls von der Reling ab und drehte sich zu Henry um. Er überreichte ihr einen Becher.
„Danke.“ Tina nahm einen kleinen Schluck und verbrannte sich ein wenig die Zunge am heißen Kaffee. Sie zuckte zusammen. Henry sah sie grinsend an.
„Heiß?“
„Ja, verdammt heiß“, lachte Tina. Dann sahen sie sich kurz in die Augen, doch Tina ließ den Blick schnell wieder zu Boden sinken. Die ganze Situation war ihr unangenehm. Sie hatte gehofft, die Fahrt würde ihr Spaß machen, doch nun war sie sich nicht mehr so sicher, ob es eine so gute Idee gewesen war.
Henry sah sie jedoch weiter an. Tina spürte seinen Blick sehr genau und hob ihren Kopf schließlich wieder ein wenig. Henry lächelte und strich zärtlich mit der Hand über ihre Wange. Bei der Berührung wurde Tina augenblicklich heiß.
„Wie kommt es eigentlich, dass du nicht verheiratet bist oder einen Freund hast?“, fragte Henry mit rauer Stimme.
Tina lachte leicht auf. „Mmh… ich habe ehrlich gesagt absolut keine Ahnung“, scherzte sie dann.
Henry grinste. „Ich meine es ernst, Tina. Wie kommt es, dass du alleine bist? Ich meine, du bist sehr liebenswürdig, du bist witzig und du bist hübsch.
Tina freute sich über dieses Kompliment von Henry, doch bei den letzten Worten schüttelte sie nur den Kopf. Doch Henry widersprach ihr sofort.
„Doch Tina Wagner, du bist sehr hübsch. Warum also?“
Tina lächelte. „Vielleicht will ich ja gar keinen Mann haben, hast du daran schon einmal gedacht?“
„Nein“, sagte Henry frech und grinste.
Tina wandte ihren Blick dem Meer zu. Dann sagte sie:
„Ach, weißt du Henry, dass war nicht immer so. Es gab schon mal lange Zeit einen Mann an meiner Seite.“
„Was ist passiert?“
Tina sah Henry wieder an und zuckte mit den Schultern.
„Das Übliche, denke ich. Wenn eine Beziehung schon sehr lange anhält und das anfängliche Kribbeln nicht mehr vorhanden ist, aber es plötzlich bei jemand anderem wieder auftaucht.“
„Er hat dich verlassen, oder du ich?“
„Nein, er mich.“
„Was für ein Blödmann“, sagte Henry mit ernster Miene und Tina musste erneut lachen.
„War es was Ernstes mit ihm?“
„ Ja, wir wollten heiraten.“ Tina lachte bitter auf, bevor sie weiter sprach. „Er hat mich praktisch vorm Altar stehen lassen.“
„Im ernst?“
„Na, nicht ganz. Eine Woche vor unserer Hochzeit hat er seine Sachen gepackt und ist gegangen, aber es hat sich ähnlich angefühlt.“
„Das tut mir leid“, sagte Henry aufrichtig. Tina lächelte ihn gequält an. Es tat immer noch weh, darüber zu sprechen. Sie trank einen weiteren Schluck von ihrem mittlerweile abgekühlten Kaffee und sah wieder hinaus aufs Meer. Die Sonne stieß erneut durch die Nebelwaden hervor. Tina schloss für einen Augenblick die Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Dann sah sie Henry wieder an und begann zu erzählen.
„Ich kannte Tim schon eine ganze Weile, ehe wir ein Paar wurden. Ich habe ihn durch meinen Bruder kennen gelernt, kurz nachdem ich gerade eine recht unschöne Beziehung hinter mir hatte. Wir waren anfangs nur gute Freunde und sind zusammen mit meinem Bruder und zwei, drei anderen Freunden oft um die Häuser gezogen, ehe wir anfingen miteinander auszugehen. Irgendwann haben wir dann herausgefunden, dass wir ähnliche Ansichten vom Leben hatten und bald mussten wir feststellen, dass wir mehr füreinander empfanden, als nur Freundschaft. Nach einem Jahr sind wir zusammen in unsere erste gemeinsame Wohnung gezogen, und wir haben uns wunderbar verstanden. Streit gab es bei uns so gut wie nie. Wir waren uns beide einig, dass wir Kinder wollten, doch Tim hatte darauf bestanden zuerst ein Haus zu kaufen. Die Haussuche wurde aber ziemlich schwierig, und dann ergab es sich, dass meine Großmutter mir ihr Haus vermachte. Für mich war sofort klar, dass ich in ihrem alten Haus leben wollte, ich hatte dieses Haus schon als Kind immer geliebt. Tim wollte hingegen unbedingt ein eigenes Haus kaufen, aber da wir nichts geeignetes fanden und er merkte, wie wichtig es mir war, ließ er sich schließlich doch dazu überreden. Es war natürlich eine Menge an dem alten Haus zu machen. Wir haben viel Geld in das Haus hineingesteckt und es von Grund auf saniert, bevor wir überhaupt eingezogen sind. Doch dann wurde alles gut und wir haben uns beide schnell eingelebt und uns ziemlich wohl gefühlt. Zumindest hatte ich angenommen, dass Tim sich ebenso wohlfühlte wie ich, denn kurz nachdem wir eingezogen waren, hat Tim mir schließlich einen Heiratsantrag gemacht. Ich weiß nicht, was dann plötzlich passiert ist oder warum. Einen Monat vor unserer Hochzeit klingelte sein Handy und ich ging ran, warum auch nicht? Das hatte ich schon öfter getan. Doch es meldete sich niemand auf der anderen Seite. Die Telefonnummer, die auf dem Display erschien kam mir jedoch bekannt vor. Ich wusste nur nicht woher. Im Nachhinein wusste ich, dass ich die Nummer schon öfter auf dem Display unseres Telefons gesehen hatte, aber auch da schon nie einzuordnen wusste. Ich sprach Tim darauf an, doch er wich mir aus und war aufgebracht, warum ich an sein Telefon gehe. Sein Verhalten hat mich stutzig und misstrauisch gemacht, doch er sagte es wäre alles in Ordnung und er wolle mich auf jeden Fall heiraten. Eine Woche vor unserer Hochzeit, hatte er es sich dann plötzlich anders überlegt. Er gestand mir, dass er bereits seit einem halben Jahr eine Affäre hätte und er nicht wusste, wie er es mir hätte sagen sollen. Er wollte mich nicht verletzten, also hat er bis eine Woche vor unserer Hochzeit gewartet.“
„Und es hat trotzdem weh getan?“
„Ja, sehr.“ Tina sah zu Boden, da sie fürchtete, dass ihr sonst die Tränen kommen würden, so sehr verletzte es sie noch immer. Dann atmete sie tief durch und sah aufs Wasser, wo bereits in einiger Entfernung die Insel sichtbar wurde.
„Ich hatte mein Leben komplett mit ihm geplant.“
„Aber das Leben kann man nicht planen.“
„Ich weiß und trotzdem. Ich bin vierunddreißig Jahre, Henry. Ich meine, ich habe mir immer Kinder gewünscht.“
„Dafür hast du doch noch immer Zeit.“
„Ja klar, das ist ohne Mann aber vielleicht etwas schwer. Aber ich habe mich mittlerweile eigentlich schon damit abgefunden, wahrscheinlich niemals Mutter zu werden.“ Tina schwieg. Sie wollte Henry nichts von ihren Sehnsüchten auftischen. Sie wollte außerdem nicht, dass er davor zurückschrak und sich vor allem von ihr zurückzog. Es fing an ihr langsam zu gefallen, was sich zwischen ihr und Henry abspielte und wie er sie nun ansah. Sie selbst hatte mit dem Thema, Kinder zu bekommen auch tatsächlich schon längst abgeschlossen, eigentlich schon vor ihrer Trennung von Tim. Denn den Versuch mit dem Kinderkriegen hatten sie bereits hinter sich, war jedoch ohne Erfolg geblieben war. Henry riss sie plötzlich wieder aus ihren Gedanken.
„Du hast nicht damit gerechnet, dass Tim dich verlassen würde?“
„Nein, gar nicht. Wie auch immer, er hat dann seine Sachen gepackt und ist ausgezogen. Es lag dann an mir, die Hochzeit abzusagen und die Gäste wieder auszuladen. Abgesehen von den Schmerz, den ich empfand, war es zudem auch noch ziemlich peinlich.“
„Wie lange wart ihr zusammen?“
„Zehn Jahre.“
„Wow, dass ist eine lange Zeit.“
Tina lächelte und sah Henry herausfordernd an.
„Ja. Aber genug von mir. Was ist mit dir? Irgendwelche Frauen?“
Henry schüttelte den Kopf.
„Nichts, was erzählenswert wäre. Da war nie etwas Ernstes.“
Tina zog skeptisch die Stirn kraus, das konnte er seiner Großmutter erzählen.
„Ach komm schon, das glaube ich dir nicht.“
„Ist aber so“, sagte Henry und machte ein bockiges Gesicht, so dass Tina losprustete vor Lachen. Henry stimmte in ihr Lachen ein.
„Mal im ernst, ich habe dir auch von meiner grauenhaften Erfahrung erzählt.“
„Na gut. Es gab da mal Jemanden. Ihr Name war Laura und ich war wirklich verliebt in sie.“
„Weiter“, bohrte Tina, als Henry aufhörte zu reden. Henry lächelte sie an.
„Nichts weiter. Ich war siebzehn und wir sind eine Zeit lang miteinander gegangen. Dann hat sie mir das Herz gebrochen.“
„Du hältst dich ziemlich kurz mit deinen Aussagen, finde ich.“
„Was soll ich sagen, Tina? Es ist lange her, wir waren zwei Jahre zusammen, dann hatte sie die Nase voll von mir und ist gegangen. Es hat lange gedauert bis ich mich davon erholt habe und danach habe ich versucht, nie wieder jemandem mein ganzes Herz zu schenken. Danach gab es nur immer kurze Geschichten. Ich bin niemand für immer, schätze ich.“
„Das glaube ich dir nicht. Wünscht du dir nie mehr?“
„Nein, bisher bin ich damit ganz gut gefahren.“
„Mmh…“
„Wie lange bist du jetzt alleine?“
„Seit eineinhalb Jahren, aber warum sind wir jetzt schon wieder bei mir?“, fragte Tina, doch Henry ging nicht weiter darauf ein.
„Und genießt du es nicht manchmal allein zu sein? Zu tun, was du willst, ohne jemandem Rechenschaft abzulegen.“
Tina lächelte. „Manchmal. Ich denke, ich habe eine Weile gebraucht mich wieder an das Alleinsein zu gewöhnen nach so vielen Jahren Beziehung, aber ich komme auch ganz gut alleine zu recht, das stimmt. Dennoch fühle ich mich schon manchmal einsam, du nicht?“
„Ja, aber ich habe gute Freunde, zumindest in Innsbruck. Hier scheine ich nicht allzu viele Freunde zu haben. Ich hatte noch nicht viel Gelegenheit unter Menschen zu gehen und bei der Arbeit scheine ich nicht allzu beliebt zu sein.“
„Quatsch, natürlich mögen sie dich.“
„Nein nicht wirklich. Nenn mir einen Einzigen, der mich wirklich mag und nicht nur höflich zu mir ist.“
„Na, ich zum Beispiel.“
„Echt, du magst mich… wirklich, so richtig?“ Henry sah Tina lächelnd an und Tina grinste.
„Na ja, ein bisschen.“
Henry lachte und riss Tina in seine Arme. Dann beugte er seinen Kopf zu ihr hinunter und gab ihr einen langen Kuss. Tina umschlang seinen Nacken mit ihren Armen und erwiderte seinen Kuss, der so leidenschaftlich und berauschend war. Tina konnte sich nicht erinnern, jemals so geküsst worden zu sein. Das Schweigen zwischen ihnen schien nun Gott sei Dank ein Ende zu haben. Sogar rumalbern konnten sie wieder. Nun war sich Tina sicher, dass es doch, entgegen allen Erwartungen, ein guter Tag werden würde.
Nur mit Mühe konnten sie sich wieder voneinander trennen, doch sie waren die letzten Passagiere an Bord. Die übrigen waren bereits von Bord gegangen und wenn sie nicht wieder mit diesem Schiff gleich wieder ablegen wollten, mussten sie sich beeilen. Henry nahm Tinas Hand und gemeinsam rannten sie lachend zum Ausgang des Schiffes und stiegen dann in ein Börteboot, das sie an Land der Insel brachte. Das Ausbooten der Passagiere mit kleinen Booten war eine einmalige Touristenattraktion und gehörte einfach zu einem Besuch auf Helgoland dazu.
Nachdem sie trockenen Fußes die Insel erreicht hatten, gingen sie eine Weile händchenhaltend spazieren und ließen sich die Sonne auf den Kopf scheinen. Sie genossen das schöne Wetter und die wundervolle Insel mit allen ihren Schönheiten und Sehenswürdigkeiten. Sie gingen auf einen Rundweg, der auf dem Oberland entlang der Steilküste führte. Vorbei an dem von tausenden Seevögeln bevölkertem Lummenfelsen, auch Lange Anna genannt, bis hin zum Leuchtturm von Helgoland und der St.-Nicolai-Kirche. Vor allem aber genossen sie die schöne Landschaft.
Später suchten sie sich ein Restaurant und studierten die Speisekarte. Sie entschieden sich beide für ein Fischgericht Henry bestellte für sich Hummermedaillons mit Lauchkartoffen und Tina den gedämpften Heilbutt mit grünem Spargel. Dazu tranken sie Weißwein. Während des Essens sahen sie sich ständig in die Augen und mussten dann immer wieder lauthals lachen. Sie alberten wie zwei Teenager herum, und es war ihnen egal. Tina hatte sich lange nicht mehr so jung gefühlt. Erst als die Gäste der umliegenden Tische ihnen böse Blicke zuwarfen, weil sie sich gestört fühlten, ergriffen Tina und Henry die Flucht. Sie gingen zu dem kleinen Badestrand, der sich im Süden neben der Landungsbrücke befand. Als sie dort ankamen mussten sie immer noch lachen, wegen der empörten Ausrufe der Restaurantbesucher, als Henry sie lachend durch die Stuhlreihen des Restaurants gezogen hatte und Tina dabei einen Stuhl umgeworfen hatte. Henry hatte ihr keine Gelegenheit gegeben den Stuhl wieder aufzuheben. Er hatte sie einfach weitergezogen.
„Hast du gehört, was die Frau mit dem Hut gesagt hat?“, sagte Tina und wischte sich die Tränen fort, die ihr vor Lachen in den Augen standen.
„Welche Frau mit Hut? Ich habe keine Frau außer dir gesehen.“
„Sie hat gesagt, dass wir vollkommen betrunken wären und die jungen Leute von heute überhaupt kein Benehmen mehr hätten.“
„Na immerhin hat sie uns jung genannt. Ich meine, dass ist doch schon mal etwas. Ich bin schließlich schon sechsunddreißig Jahre und so jung bist du ja nun auch wieder nicht“, sagte Henry grinsend.
Tina boxte ihn auf den Arm, doch Henry hielt ihren Arm fest. Dabei gerieten sie ins Stolpern und fielen der Länge nach in den weichen Sand. Lachend lagen sie nebeneinander und sahen in den nun vollkommen blauen Himmel hinauf. Dann beugte Henry sich über Tina und gab ihr einen langen Kuss. Augenblicklich hörte Tina mit dem Lachen auf und erwiderte seinen Kuss. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass sie das alles tatsächlich mit Henry tat, ihrem Arbeitskollegen. Sie hatte sich geschworen, niemals etwas mit einem Arbeitskollegen anzufangen, niemals wieder. Aber es fühlte sich so gut an, dass sie jetzt einfach nicht damit aufhören wollte.
Sie fuhren mit dem letzten Schiff zurück Richtung Heimat und kosteten auf dem vorderen Deck des Schiffes die letzten Sonnenstrahlen aus. Sie hatten sich auf eine Bank gesetzt und ließen sich den Fahrwind auf ihren von Sonnenbrand leicht geröteten Wangen wehen. Tina saß mit dem Rücken zu Henry und dieser hatte sie eng von hinten umschlugen. Tinas Kopf lag an seiner Brust und sie hatte ihre Augen geschlossen. Henry unterbrach plötzlich die Stille.
„Was machen wir morgen bei der Arbeit?“
„Was meinst du?“, sagte Tina.
„Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht sollten wir das mit uns vorerst für uns behalten.“
„Oh… na gut“, sagte Tina und konnte nichts dagegen tun, dass sie enttäuscht klang. Dabei war Tina sich selbst nicht sicher, ob sie wirklich wollte, dass die gesamte Belegschaft des Hotels von ihrem Techtelmechtel mit Henry erfuhr bevor sie selbst wusste, wohin das Ganze letztendlich führte. Was Tina vor allem aber missfiel war, dass sie es somit auch ihrer besten Freundin nicht sagen konnte. Doch es musste wohl sein. Es würde ihnen vermutlich schon schwer genug fallen, ihre Beziehung geheim zu halten und wenn es erst einmal jemand wusste, würde es zweifelsohne schnell die Runde machen und schließlich auch an die Ohren ihrer Chefin dringen. Das wollte Tina auf jeden Fall vermeiden.
„Bist du enttäuscht?“, fragte Henry, der Tinas Reaktion sehr wohl aufgefallen war.
„Nein, ist schon okay.“
Henry gab ihr einen Kuss auf die Wange und drehte ihr Gesicht in seine Richtung, so dass sie ihn ansehen musste.
„Es ist nicht so, dass es mir unangenehm wäre, doch ich würde einfach gerne noch etwas warten. Zum einen geht es niemand etwas an und ich wünsche mir, dass es etwas ganz privates zwischen uns ist und ich möchte, dass uns das niemand nimmt. Außerdem würde ich gerne meine Prüfung in drei Wochen abwarten, ehe wir uns outen.“
„Welche Prüfung?“
„Ob ich zum Küchenchef geeignet bin. Du weist ja, dass das Hotel meiner Tante zu einer Hotelkette gehört und du hast wahrscheinlich auch gehört, dass ich das Hotel irgendwann einmal übernehmen soll. Dafür muss ich mich allerdings vorerst bewähren und meiner Tante zeigen, dass ich es ernst meine. Sie möchte mich als Küchenchef sehen und ich würde nichts lieber tun als das, doch dafür muss ich so ´ne Art Prüfung ablegen und ein Essen vorbereiten, dass von den sogenannten Managern der Hotelkette abgenommen werden muss.“
„Dafür muss du echt eine Prüfung ablegen?“
„Ja. Ich muss ein ganz besonderes Menü kochen und es wird dann von diesen Leuten bewertet.“
„Machst du dir deswegen Sorgen? Ich meine, du bist ein guter Koch, das schaffst du doch mit links.“
„Ja, ich weiß, dass ich das kann. Trotzdem mache ich mir auch so meine Gedanken. Was ist, wenn ich versage? Ich liebe es zu kochen und ich möchte nichts anderes tun als das. Deswegen möchte ich gerne, dass wir uns vorerst bedeckt halten, bis die Prüfung ausgestanden ist.“
„Einverstanden, es bleibt also unser Geheimnis.“
„Danke“, sagte Henry lächelnd und gab ihr einen zärtlichen Kuss, den Tina sofort erwiderte. Sie verstand Henry und vielleicht war es so auch am besten, sie hoffte nur, dass es nicht allzu schwer werden würde ihr Versteckspiel aufrecht zu erhalten.
Nachdem Tina und Henry von Bord gegangen waren, fuhr Henry sie nach Hause. Eine ganze Weile saßen sie noch im Auto und konnten sich schwer voneinander lösen, doch Henry musste nach Hause. Sie gaben sich noch einen langen Kuss und verabredeten sich für den nächsten Tag nach ihrer Arbeit.