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Kapitel 6

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Tina und Henry verbrachten die komplette Woche miteinander und auch die Woche danach. Tagsüber arbeiteten sie wie immer Seite an Seite und versuchten ihr Versteckspiel aufrecht zu halten und sich nichts anmerken zu lassen, was ihnen zugegebenermaßen nicht sehr leicht fiel. Dann nach Feierabend aber konnten sie die Finger nicht voneinander lassen und verbrachten die Nächte abwechselnd in Henrys Zimmer oder in ihrem Haus. Letzteres war um einiges leichter, so musste Tina sich nicht am nächsten Morgen aus Henrys Zimmer schleichen.

Was Tina und Henry nicht wussten war, dass bereits heftig im Betrieb über sie beide geredet wurde. Tina war ja von Anfang an aufgefallen, dass Stefan sie seit einiger Zeit merkwürdig ansah. Doch trotz ihres anfänglichen Vorsatzes Stefan zur Rede zu stellen, war sie bisher noch nicht dazu gekommen. Sie hatte auch das starke Gefühl, dass Stefan ihr aus dem Weg ging und eigentlich verspürte sie auch keine große Lust auf so ein Gespräch.

Es hatte ein paar Tage gedauert, bis das Gerücht, dass Tina und Henry etwas miteinander hätten, an Mareikes Ohren gedrungen war. Schließlich war es Julia, die ebenfalls als Küchenhelferin arbeitete, die Mareike auf das Gerücht ansprach. Mareike brach zu allererst in schallendes Gelächter aus. Doch an Julias ernstem Gesicht merkte sie schnell, dass es ihr ernst war und tatsächlich alle glaubten, dass etwas zwischen Tina und Henry lief.

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte sie schließlich.

„Du weißt also nichts davon?“

„Nein, das ist doch absoluter Quatsch. Das hätte Tina mir erzählt.“

„Vielleicht ja aber auch nicht. Stefan hat Tina gesehen, wie sie vor ein paar Tagen am frühen Morgen aus seinem Zimmer geschlichen ist.“

„Vielleicht hatte sie etwas mit ihm zu besprechen.“

„Sie hatte wohl noch dieselben Klamotten von abends zuvor an und…“

Julia verstummte abrupt als sich die Tür zur Küche öffnete. Tina und Henry kamen gemeinsam von ihrer Pause in die Küche zurück. Mareike sah zu Tina auf und für einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Tina lächelte in ihre Richtung, wich ihrem Blick jedoch gleich wieder aus. Mareike schüttelte den Kopf. Davon wollte sie überhaupt nichts wissen und von Gerüchten hielt sie im Allgemeinen nicht viel. Doch während des restlichen Arbeitstages glitt ihr Blick ständig zu Tina und Henry hinüber. Sicher, die beiden verstanden sich gut, aber das war von Anfang an so gewesen. Aber abgesehen davon konnte sie nichts Ungewöhnliches feststellen. Vielleicht war es auch nur ein böses Gerücht, das Stefan in die Welt gesetzt hatte, vermutete Mareike. Stefan hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Henry nicht sehr mochte, schließlich hatte Stefan den Job des Küchenchefs vor Henry zugestanden. Außerdem wusste Mareike auch, dass Stefan Tina sehr gerne mochte, doch die paar Annäherungsversuche, die er bisher unternommen hatte, waren ohne Erfolg geblieben. Dennoch ließ es Mareike keine Ruhe, was sie gehört hatte. Sie wollte mit Tina darüber nach Feierabend reden und diesmal würde sie sie nicht entwischen lassen. Darum bat sie Tina heute noch zwei Stunden länger zu bleiben. Es war viel zu tun und außerdem konnte Mareike sich so sicher sein, dass sie heute gemeinsam Feierabend machen konnten.

Tina war alles andere als glücklich darüber, war sie doch wie jeden Abend mit Henry verabredet. Er wollte sich auf seine Prüfung vorbereiten und das Dinner, was er sich ausgedacht hatte, für sie beide heute zu kochen. Tina hatte ihm angeboten, bei ihr zu Hause zu kochen, da er selbst in seinem Zimmer keine Küche hatte.

Doch sie hatte Mareikes Bitte nicht ausschlagen können, ihr noch ein wenig zu helfen. Sie war ihre Freundin und an Tina nagte ohnehin schon das schlechte Gewissen, da sie Mareike noch immer nicht einweihen durfte, dass sie ein Verhältnis mit Henry hatte. Tina hoffte, dass die nächsten zwei Wochen möglichst schnell verflogen, Henry seine Prüfung bestand und sie endlich zu ihrer Beziehung stehen konnten.

Sie ging zu Henry hinüber, der gerade die letzten Arbeiten erledigte bevor er Feierabend machen konnte. Sie half ihm bei den letzten Aufräumarbeiten und sagte leise zu ihm:

„Ich muss noch etwas länger bleiben heute.“ Henry sah kurz zu ihr auf, machte dann aber mit seiner Arbeit weiter.

„Aber ich wollte doch für uns kochen“, sagte er dann ebenso leise.

„Ich weiß, aber Mareike hat mich darum gebeten. Sie braucht mich noch und ich werde sie nicht im Stich lassen.

„Na gut.“

„Fahr doch schon einmal vor, ich komme dann später mit dem Bus nach.“

„Bist du sicher? Ich könnte auch oben auf dich warten.“

„Nein, fahr schon einmal vor. Hier ist mein Hausschlüssel.“

Tina zog ihren Schlüssel aus der Hosentasche und legte ihn unauffällig vor Henry auf die Arbeitsplatte.

„Gut, wir sehen uns dann bei dir“, sagte Henry und steckte den Schlüssel schnell in seine Tasche.

Zwei Stunden später konnte Tina dann auch endlich Feierabend machen. Sie zog sich um und ging schon einmal zum Hintereingang hinaus. Dort verbrachte sie auch oft ihre Pause. Es war keine besonders schöne Aussicht. Hier auf dem Hinterhof standen die Abfalleimer und es parkten hier auch die Autos der Angestellten des Hotels. Doch wenn sie Stunden in der Küche zubrachte, brauchte sie manchmal einfach frische Luft. Direkt hinter dem Eingang ging eine kleine Gittertreppe mit fünf Stufen hinab zum Parkplatz. Tina setzte sich auf die oberste Stufe und wartete auf Mareike. Ihre Füße schmerzten vom vielen Stehen, etwas was sie an diesem Job am meisten hasste.

Wenig später öffnete sich die Tür hinter ihr, doch es war nicht Mareike sondern Stefan, der sich zu ihr gesellte.

„Mareike kommt gleich.“

Tina nickte. „Gut.“

„Wie geht’s dir so?“ Tina sah Stefan verwirrt an. Seit über einer Woche ging er ihr aus dem Weg und jetzt versuchte er es mit Smalltalk.

„Gut“, sagte sie dennoch und stand auf.

„Hör mal, Tina. Ich weiß ich habe dich schon einmal gefragt und du hast nein gesagt. Ich versuche es aber trotzdem noch einmal.“ Tina hatte keinen Schimmer worauf das Gespräch hinaus lief, dennoch war sie plötzlich auf der Hut.

„Was?“

„Wie wäre es, wenn wir mal zusammen ausgehen würden. Lass uns was essen gehen oder ins Kino, ganz wie du möchtest.“

„Äh…“, war alles was Tina zunächst zustande brachte. „Ein Date?“

„Ja“, sagte Stefan und grinste. Darauf wollte er also hinaus und es stimmte, dieses Gespräch hatten sie in der Tat schon mehr als einmal geführt. Aber sie hatte gedacht, dass Stefan es verstanden hatte, dass sie nicht interessiert war und es war schon sehr lange her, seit er sie zum letzten Mal gefragt hatte. Was hatte sich geändert?

„Also, was sagst du?“

„Also ich weiß nicht, Stefan.“

„Ach komm schon.“

„Nein, ich denke nicht. Ich…“

„Ja ich weiß schon, was du sagen willst. Du gehst nicht mit Kollegen aus, richtig?“

„Ähm… ja. Ach nun komm, guck nicht so.“

„Ja schon gut, du hast da schlechte Erfahrung, nicht wahr?“, sagte Stefan scharf und verschwand wieder durch die Tür.

Tina schloss für einen Augenblick die Augen. Im nächsten Moment wurde die Tür wieder aufgerissen und Tina wappnete sich innerlich auf die Fortsetzung des Gesprächs. Doch es war Mareike. Endlich.

„Los geht’s. Jetzt aber schnell, sonst verpassen wir den Bus“, sagte Mareike und hetzte die Treppe hinunter. Im Gehen oder besser gesagt Rennen sah Mareike zu Tina auf.

„Ist alles in Ordnung? Du siehst etwas genervt aus.“

Tina schüttelte den Kopf. „Stefan. Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm ausgehe.“

„Oh ich dachte, er hätte es mittlerweile aufgegeben.“

„Ja, das dachte ich auch.“

Gerade noch rechtzeitig erreichten sie den Bus. Sie stürmten hinein und setzten sich nebeneinander. Mareike schnaufte neben ihr. Sie war eindeutig in keiner guten Form. Genau genommen, war sie noch nie in guter Form gewesen. Mareike hasste Sport, aber wenn sie Tina neben sich ansah, die kaum nach Luft zog, musste sie sich eingestehen, dass ein bisschen mehr Kondition doch nicht schaden konnte. Außer dem Ärger, der Tina deutlich ins Gesicht geschrieben stand, schien sie nicht einmal ins Schwitzen geraten zu sein. Dabei waren sie beinahe gerannt. Während der Bus fuhr hatten sie endlich mal wieder Gelegenheit miteinander zu reden. Na ja, eigentlich redete Mareike die ganze Zeit und Tina hörte ihr schweigend zu. Das war auch nichts Ungewöhnliches. So verlief es häufig, Mareike quatschte und Tina hörte zu. Mareike war schon immer eine Quasselstrippe. Dann fiel Mareike wieder ein, dass sie ja eigentlich etwas von Tina hören wollte, also schwieg sie plötzlich, um Tina Gelegenheit zu geben, etwas von sich aus zu erzählen. Tina sah jedoch nur zum Fenster hinaus und schwieg weiter. Dann sah Tina verwirrt zu Mareike, da diese so plötzlich aufhörte zu reden.

„Was ist?“

„Warum sagst du nichts, Tina?“

Tina runzelte die Stirn. „Du hast doch die ganze Zeit geredet.“

„Ja, aber jetzt nicht mehr. Hast du nicht irgendwas zu erzählen?“

„Nein“, sagte Tina und sah wieder zum Fenster hinaus.

Mareike sah sie eine Weile an, doch Tina sagte tatsächlich nichts. Wahrscheinlich war an dem Gerücht überhaupt nichts dran, aber dennoch war Mareike misstrauisch. Sie beschloss den Stier bei den Hörnern zu packen und es direkt auszusprechen.

„Okay, was soll´s. Ich frage dich einfach ganz direkt. Schläfst du mit Henry?“

Tina zuckte erschrocken zusammen und sah Mareike entsetzt an.

„Wie bitte?“

„Schläfst du mit Henry?“

„Ich äh… nein“, log Tina und hasste sich sofort dafür. Sie log ihre beste Freundin an, warum tat sie das? Weil Henry sie darum gebeten hatte, erinnerte sie sich. Aber sie hatten nicht ausgemacht zu lügen, sie wollten es nur nicht gleich jedem auf die Nase binden. Es sollte einfach nicht gleich jeder erfahren. Doch Lügen ging gar nicht, dachte Tina und machte den Mund auf und wollte gerade die Sache richtig stellen, als Mareike sagte:

„Gut, das konnte ich mir auch nicht vorstellen. Mir hätte klar sein müssen, dass du es mir erzählt hättest.“

Tina biss sich auf die Lippen und schwieg.

„Wie kommst du darauf?“, fragte Tina dann doch nach einer Weile leise.

„Es wird über euch geredet. Stefan hat behauptet, dass er dich vor ein paar Tagen morgens aus Henrys Zimmer hat schleichen sehen. Aber wahrscheinlich erzählt er nur dummes Zeug.“

Tina lächelte gequält. Verdammter Mist, wann hatte Stefan sie gesehen. Das konnte doch überhaupt nicht sein, sie hatte Niemanden gesehen.

Als Tina nach Hause kam, war Henry schon mitten bei der Arbeit für sein Dinner.

„Hi“, sagte Henry und zog sie stürmisch in ihre Arme. Er gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss, der Tina augenblicklich vergessen ließ, dass sie Henry von ihrer Unterredung mit Mareike erzählen wollte. Das hatte später auch noch Zeit, beschloss sie.

Henry löste sich aus ihren Armen und ging wieder hinüber zum Herd. Tina spähte in die Töpfe hinein.

„Was gibt es denn Leckeres?“

„Überraschung“, sagte Henry und scheuchte Tina von den Töpfen fort. Nachdem Tina geduscht und sich umgezogen hatte ging sie wieder hinunter zu Henry.

„Kann ich dir helfen?“, fragte sie.

„Nein, lass dich heute mal verwöhnen und setzt dich einfach hin.“

Tina setzte sich lächelnd an den Tisch und sah Henry bei der Arbeit zu. Sie genoss es, ihn kochen zu sehen, mit seinen schönen Händen und mit welcher Geschwindigkeit und Lässigkeit er das Gemüse zerkleinerte. Tina hatte zwar auch im Laufe der Zeit gelernt, wie man wie ein Profi Gemüse und Fleisch schnitt und auch sie konnte es verdammt schnell. Bei Henry sah es alles aber so locker aus, nie wirkte er gestresst. Er liebte das Kochen und das sah man ihm eben an.

Das Telefon riss Tina plötzlich aus ihren Gedanken. Sie stand auf und ging zum Telefon, dass in der Küche stand.

„Hallo?“, meldete sie sich.

„Na endlich erreiche ich dich mal. Wo hast du die letzten Tage gesteckt zum Teufel?“

„Christian“, jubelte sie auf. Ihr Bruder hatte tatsächlich ein paar Mal auf ihren Anrufbeantworter gesprochen, doch Tina hatte es versäumt ihn zurückzurufen. Das sah ihr gar nicht ähnlich.

„Na nun erzähl, was hast du so getrieben?“, fragte Christian noch einmal.

„Ich… ähm. Kann ich dich morgen zurückrufen? Da habe ich etwas mehr Zeit.“

„Was, du wimmelst mich ab? Wer ist bei dir, Tina?“

Tina lachte. Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Er kannte sie einfach zu gut.

„Erzähl ich dir morgen okay?“

„Na gut, aber morgen lasse ich mich nicht wieder abwimmeln.“

„Versprochen, ich rufe dich morgen an“, sagte Tina lächelnd in den Telefonhörer und verabschiedete sich von Christian.

Sie ging zurück an den Tisch. Henry sah zu ihr auf, während er dabei war, die Zwiebeln zu schneiden.

„War das dein Bruder?“

Tina nickte. „Mmh… ja.“

„Wo ist er noch mal im Augenblick?“

„Im Sudan, er ist dort als Sanitäter bei den ’Ärzten ohne Grenzen’ tätig. Christian wollte schon immer Gutes tun und was von der Welt sehen, der kleine Idealist…“, seufzte sie. „Er hat das schon seit längerem geplant und jetzt hat er endlich die Chance dazu bekommen.“

„Ist er schon lange weg?“

„Seit vier Wochen und er kommt auch erst in zwei Wochen wieder. Danach muss er seinen Job hier wieder antreten. Außerdem wird er demnächst Vater, also hat er nicht so schnell wieder die Zeit für so einen Trip“, sagte Tina ein wenig gequält.

„Vermisst du ihn?“

„Sehr. Ich bin echt froh, wenn er wieder da ist. Ich mache mir auch echt große Sorgen um ihn, denn so ganz ungefährlich ist es auch nicht gerade, was er da unten tut. Wir telefonieren öfter, aber das ist nicht dasselbe. Christian und ich haben ein sehr enges Verhältnis. Er ist nur eineinhalb Jahre älter als ich und er ist mein bester Freund. Ich kann mit ihm über alles reden und wir haben keine Geheimnisse voreinander. Wir haben zum Teil auch den gleichen Freundeskreis und wir sind schon früher als wir noch jünger waren, ständig zusammen um die Häuser gezogen.“

„Und jetzt zieht ihr nicht mehr gemeinsam um die Häuser?“

Tina lachte.

„Nein, heute haben wir unsere eigenen Häuser und müssen nicht um sie herumziehen.“

Henry sah sie etwas skeptisch an, lächelte aber dabei. Er kannte Tinas Humor gut genug. „Sehr witzig.“

„Nein mal im Ernst, wir sehen uns schon noch ziemlich regelmäßig, aber es ist schon anders geworden, wir sind einfach älter geworden, schätze ich.“

„Ja, so ist das eben.“

„Ja, außerdem wird mein Bruder demnächst Vater, da werden wir uns sicherlich noch weniger sehen, aber wir haben auch jetzt, wo er so weit weg ist, immer telefoniert.“

„Ist dein Bruder verheiratet?“

„Nein noch nicht. Ich kann mir ehrlich gesagt auch gar nicht vorstellen, dass es mal so weit kommt.“

„Weil du seine Freundin nicht magst?“

Tina sah Henry verdutzt an. „Warum sagen immer alle, ich würde sie nicht mögen? Woher hast du das überhaupt?“

„Ich glaube Mareike hat so was mal irgendwann erwähnt.“

Tina seufzte. „Hör nicht auf sie. Es stimmt, ich habe kein sehr inniges Verhältnis zu der Freundin meines Bruders. Ich habe mir aber bisher nur noch nicht die Mühe gemacht, sie wirklich kennen zu lernen.“

„Warum nicht?“

„Weil mir nicht klar war, dass es wohlmöglich so ernst zwischen ihnen sein könnte.“

„Erst jetzt wo sie schwanger ist?“

„Nein, nicht einmal jetzt, obwohl ich hoffe, dass es das ist. Ich wünsche es mir, allein schon wegen des Kindes. Mein Bruder ist leider was Frauen angeht, ein großer Hallodri. Ich kann mich nicht erinnern, dass er mal wirklich treu war.“

„Und das ärgert dich“, stellte Henry fest.

„Ich liebe Christian, aber ich hasse es, wenn er so was macht, ja. Aber er scheint Merle wirklich zu lieben, also werde ich mir wohl doch bald die Mühe machen, sie besser kennen zu lernen.

„Ja, das solltest du tun. So und nun setz dich wieder hin und lass dich bedienen. Das Essen ist fertig.“

Henry hatte wirklich hervorragend gekocht. Als Vorspeise gab es Rinder-Carpaccio mit Parmesanspänen. Direkt darauf folgte eine getrüffelte Lauchsuppe. Der Hauptgang war wesentlich umfangreicher und bestand aus gebratenem Schweinefilet im Zucchinimantel auf Balsamicojus mit selbstgemachten Buttergnocchi und Gemüsereis. Der Nachttisch und somit letzte Gang war der krönende Abschluss. Henry hatte, wie es sich für einen echten Österreicher gehörte, einen wunderbaren Kaiserschmarrn gemacht. Tina, die sich sonst im Allgemeinen, nie sehr viel aus Nachspeise, insbesondere Süßspeisen machte, war völlig verzückt. So etwas Wunderbares hatte sie noch nie gegessen und sie hatte schon öfter Kaiserschmarrn gegessen, auch schon in Österreich.

Sie genossen den Abend und Tina war sich sicher, dass er mit so einem tollen Menü einfach jeden beeindrucken konnte, auch die Prüfer. Zum Essen tranken sie Wein beim Kerzenschein und räumten anschließend gemeinsam ihre Küche auf. Dabei durfte Tina dann doch noch helfen. Anschließend waren sie müde in Tinas Bett gesunken und waren eng aneinander-gekuschelt eingeschlafen.

Als Tina am nächsten Morgen erwachte, lag sie alleine im Bett. Sie stand auf, schlüpfte in ihre graue Jogginghose und in ein Tangtop und ging die Treppe hinunter auf der Suche nach Henry. Aber auch im unteren Stockwerk war Henry nirgends zu entdecken. Tina sah aus dem Fenster. Henrys Wagen stand in ihrer Einfahrt, also musste er noch irgendwo hier sein. Sie öffnete ihre Terrassentür und trat hinaus in den Garten, doch auch hier konnte sie ihn nicht entdecken. Nur ihre Nachbarin winkte ihr aufgeregt zu. Tina winkte zurück und rief: „Guten Morgen.“

„Guten Morgen“, sagte ihre Nachbarin und trat näher an den Zaun heran. „Das ist aber ein knackiger Handwerker auf deinem Dach.“

„Was?“, sagte Tina und folgte dem Blick ihrer Nachbarin zu ihrem Dach hinauf. Ganz oben auf ihrem Dach stand Henry auf einer Leiter in einer ausgewaschenen Jeans und einem Axelshirt bekleidet.

„Gott, das ist nicht mein Handwerker“, sagte Tina erschrocken und ging zur Leiter.

„Henry, was zum Teufel tust du da?“

Henry sah zu ihr hinab. „Ich repariere dein Dach.“

„Ich kann da gar nicht hinsehen, komm bitte runter. Ich kann doch einen Handwerker bestellen.“

„Ich bin gleich fertig, dann kannst du dir den Handwerker sparen. Mach doch schon mal Frühstück, dann brauchst du nicht hinzusehen.“

„Wirklich?“

„Ja, ich falle schon nicht runter. Versprochen“, sagte Henry der Tinas ängstlichen Blick bemerkte.

Wenig später hatte Tina den Tisch auf der Terrasse gedeckt und Henry trat zu ihr auf die Terrasse. Er nahm sie in seine Arme und gab ihr einen stürmischen Kuss. Tina war so erleichtert, dass er wieder heil unten angekommen war, dass es ihr völlig gleichgültig war, dass ihre Nachbarin amüsiert in ihre Richtung starrte und sich vermutlich das Hirn zermarterte, wer dieser Kerl in Tinas Garten war.

„Ich wusste gar nicht, dass du auch ein Handwerker bist“, sagte Tina, als sie wieder Luft bekam.

„Es gibt vieles, was du nicht von mir weißt, Schätzchen.“

„Scheint so“, sagte Tina unsicher und dennoch war sie sehr gerührt, dass Henry auf ihr Dach gestiegen war und das für sie getan hatte. Auch, dass er es nicht vergessen hatte, dass ihr Dach kaputt war, dabei hatte sie es nur einmal beiläufig erwähnt, dass sie ein Leck im Dach hatte. So hatte sie sich die Handwerkerrechnung sparen können und damit hatte er ihr einen großen Dienst erwiesen.

Am Abend rief Tina ihren Bruder an. Sie sprachen eine Stunde miteinander. Sie musste Christian alles über Henry erzählen. Zum Schluss wünschte er ihr alles Gute und freute sich auf zu Hause. Tina musste ihm das Versprechen geben, ihr Henry nach seiner Rückkehr vorzustellen, damit er sein Votum abgeben konnte, ob Henry gut genug für seine kleine Schwester war. Tina hatte gelacht, aber sie wusste, dass auch ein gewisser Ernst in seinen Worten gelegen hatte. Christian hatte immer auf sie aufgepasst und auch wenn er selbst, was Beziehungen betraf, kein Musterknabe war, so legte er doch großen Wert darauf, dass seine Schwester gut behandelt wurde und dass ihr niemand wehtat. Verhindern hatte er es dennoch nicht können, dass ihr in der Vergangenheit wehgetan wurde.

Liebe mit Nebenwirkungen

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