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Kapitel 10

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Die Nacht, in der Maksim abdankte und Marianas Vater zum Herrscher über die Vampirstämme ernannt werden sollte, war sternenklar. Ein warmer Wind trug den Geruch von Harz und Moos aus den Wäldern mit sich. Er bewegte die an den Türmen hängenden Fahnen, die abwechselnd die Symbole der Tyr und der D’Aryun zeigten, das Antlitz eines Wolfs vor einer Schwertklinge und die Halbsichel des Mondes.

Feuerkörbe waren aufgestellt worden, um zusammen mit den zahlreichen Fackeln den Burghof taghell zu erleuchten. Die Halle bot für die vielen Gäste nicht genügend Raum und so fanden die Zeremonie und das daran anschließende Festmahl draußen statt. Man hatte lange Tische aufgestellt, geschmückt mit edlen Tischdecken und Arrangements aus bunten und schwarzen Steinen, an denen die Abgesandten der Stämme, der Ewigen, der blauen Stadt und der Menschen aus dem Niemandsland saßen.

Die Tafel auf dem Podest an der Stirnseite der Tische war für die Familie des Herrschers und die Räte vorgesehen. Mariana, angetan mit ihrem Festgewand aus nachtblauer Seide, saß zwischen ihren Eltern. Neben ihre Mutter hatte man Arik und eine Hälfte der Räte platziert, auf der anderen Seite ihres Vaters Maksim mit Rodica und die restlichen Räte. Die Angehörigen der Ratsmitglieder hatten einen eigenen Tisch.

Das Meer an Gesichtern, das zu ihnen heraufsah, machte sie nervös, auch wenn nicht sie es war, die im Mittelpunkt stand. Ihr Vater war die Ruhe selbst und wechselte ab und zu ein Wort mit Maksim, wenn die beiden sich auf einen alten Weggefährten in der Menge aufmerksam machten. Ihrer Mutter, deren Festgewand aus fliederfarbener Seide genäht war, schien es ähnlich wie ihr zu ergehen, denn sie zupfte unaufhörlich an einem Mundtuch. Auf Rodicas Gesicht lag ein wehmütiger Ausdruck. Sie hielt Maksims Hand. Ariks Miene war reglos, aber er hatte Mariana anvertraut, dass er viel lieber bei seinen Büchern sein wollte, als an der Zeremonie teilzunehmen.

Ihre Erleichterung war groß, dass Jesko an einem Platz saß, der nicht in ihrem Blickfeld lag. Ihr war es weitestgehend gelungen, ihn zu meiden. Er tauchte häufig in ihrer Nähe auf, als suchte er eine Gelegenheit mit ihr allein zu sein. Selbst wenn sie das gewollt hätte, wäre es schwierig gewesen. Da waren die ersten Ratssitzungen, an denen sie teilnahm. Dann übte sie mit den Kriegern Waffengänge zu Pferd im Tal, und Gioll hatte auf einer letzten endlos dauernden Anprobe des Festgewands bestanden. Dazu waren die Begrüßungen der Gäste und die Kampfübungen mit den Ewigen gekommen.

Fürst Njastar, der Älteste des Rats der Stämme, leitete die Zeremonie. Sie würde einfach und kurz sein, ohne großen Pomp. Maksim und Vater hatten darauf bestanden.

Jetzt trat Njastar, angetan mit einer tiefroten Robe aus Samt, nach vorne und räusperte sich. Das gespannte Raunen, das durch den Hof geschwebt war, verstummte.

»Ich heiße Euch willkommen. Wir werden heute Nacht den Herrscher über die Stämme, Maksim D’Aryun, verabschieden und den zukünftigen Herrscher, Damien Tyr, ernennen. Ich bitte nun den Herrscher über die Stämme, Maksim D’Aryun, vorzutreten.«

Maksim küsste Rodica auf die Wange, erhob sich und stellte sich zu dem Fürsten. Seine Miene war ernst.

»Maksim vom Stamme der D’Aryun, du hast kundgetan, der Herrschaft über die Stämme zu entsagen. Ist das richtig?«

»Das ist richtig«, antwortete Maksim ruhig.

»Du hast den Entschluss, der Herrschaft über die Stämme zu entsagen, aus eigenem und freiem Willen gefasst. Ist das richtig?«

»Das ist richtig.«

»Hast du einen Entschluss gefasst, wer dir als Herrscher über die Stämme nachfolgen soll?«

»Ja, das habe ich.«

»Nenne uns seinen Namen.«

»Ich benenne Damien vom Stamme der Tyr als meinen Nachfolger.«

»Damien Tyr.« Fürst Njastar nickte Vater zu, der sich nach einem Kuss auf die Lippen ihrer Mutter zu den beiden Männern gesellte. Mit den zwei leeren Plätzen zu ihrer Seite fühlte Mariana sich seltsam alleingelassen. Sie sah zu Rodica hinüber, in deren Augen Tränen schimmerten, und die ihr zulächelte.

»Damien vom Stamme der Tyr, du wurdest als zukünftiger Herrscher über die Stämme benannt. Bist du bereit, die Herrschaft anzutreten?«

»Ja, das bin ich.« Die Stimme ihres Vaters klang ergriffen.

»Hast du diesen Entschluss aus eigenem und freiem Willen gefasst?«

»Ja, das habe ich.«

»So sei es.« Fürst Njastar winkte Milo heran. Der hielt ein Kissen aus dem gleichen blutroten Samt wie Njastars Robe, auf dem die Insignien der Macht lagen, der Stab, die Kette und der Ring des Herrschers.

Seit Äonen verliehen die Insignien ihrem Besitzer das Recht, über die Stämme zu herrschen. Der Ring aus Silber symbolisierte die Verbundenheit des Herrschers mit den Stämmen, die Kette aus silbernen Gliedern, zwischen denen Diamanten funkelten, den Zusammenhalt der Stämme, für den er verantwortlich war. Der Stab, aus vergoldetem mit Edelsteinen verziertem Holz, das der Sage nach von einem tausende Winter alten Baum stammte, gab ihm die Macht über das Qanicengebirge. Verlor der Herrscher die Insignien oder wurden sie ihm gewaltsam abgenommen, ging er der Herrschaft verlustig. Sobald ihr Vater den Schwur des Herrschers geleistet hatte, würde Milo sie unter Fürst Njastars Aufsicht in dem schweren Schrank einschließen, in dem sie seit jeher aufbewahrt wurden.

Der Fürst nahm die Silberkette. Ihr Vater senkte den Kopf, damit er sie ihm umlegen konnte. Dann setzte ihm Njastar den Ring auf den kleinen Finger der rechten Hand. Schließlich präsentierte er ihm den Stab mit der Frage: »Damien Tyr, nimmst du die Insignien der Macht an?«

»Ich nehme die Insignien der Macht an«, sagte ihr Vater feierlich und ergriff den Stab.

»Knie nun nieder.«

Er gehorchte und legte den Schwur des Herrschers ab, versprach, den Stämmen zu dienen, ihr Wohl über das seine zu setzen und alle Gefahren von ihnen abzuwenden. Daraufhin legte ihm der Fürst beide Hände aufs Haupt und sagte: »Damien Tyr, ich ernenne dich zum Herrscher über die Stämme. Möge deine Herrschaft gerecht und segensreich sein.«

Jubel und Hochrufe brachen aus. Maksim umarmte ihren Vater und schlug ihm auf den Rücken. Mariana ertappte sich dabei, wie sie ergriffen lächelte.

Rodica wischte sich die Tränen weg.

»Alles in Ordnung?«, fragte Mariana besorgt.

»Ja, Liebes.« Ihre Großmutter lachte verlegen. »Ich … es hat mich überwältigt, dass Maksim all das für mich aufgibt.«

»Er liebt dich. Du bist ihm wichtiger als alles andere.«

Ihr Vater und Maksim kamen an den Tisch und rissen jeden von ihnen in eine Umarmung. Die Räte versammelten sich um sie und gratulierten, bis Vater ein Einsehen mit den hungrigen Gästen hatte und das Mahl unter Jubelrufen eröffnete. Die Spielleute, die mit ihren Flöten, Zithern und Fiedeln in einer Ecke des Hofs versammelt waren, spielten auf.

Mariana genoss das Mahl. Die Stimmung war gelöst, es wurde gescherzt und gelacht. Das Wildbret und der Wein schmeckten hervorragend. Ihre Mutter und sie vergnügten sich damit, die Kleider der Frauen zu betrachten und die Art der verwendeten Seide zu erraten. Arik und Alek Nitshav, einer der von Damien neu ernannten Räte, steckten die Köpfe zusammen. Von dem, was sie hören konnte, ging es um die Rechtsprechung beim Stamm der Nitshav. Neben ihr sprachen Damien und Maksim über die letzte Ratssitzung. Rodica lachte über einen von Milos Scherzen. Er hatte sich neben sie gesetzt, nachdem die Insignien weggeschlossen waren.

Fast bedauerte sie es, als das Mahl beendet war und die letzten Essbretter und Becher weggeräumt wurden. Der nächste Festakt stand an. Vor den Toren der Burg hatte man einen mehrere Mann hohen Stapel aus Hölzern, Reisig und Strauchschnitt aufgeschichtet, um den sich alle versammelten.

Ihr Vater hob die Fackel, die ihm ein Knecht in die Hand gedrückt hatte, entzündete den Stapel und läutete das Zeitalter seiner Herrschaft ein. Die Flammen fraßen sich rasend schnell durch das trockene Holz und schlugen bald oben heraus. Die Zuschauer jubelten.

»Ein gutes Omen für die Herrschaft deines Vaters, wenn das Feuer den Holzstoß vollkommen vernichtet«, sagte jemand hinter ihr. Jesko.

Mariana holte tief Atem. »Das ist es.« Sie freute sich, dass ihre Stimme ruhig klang. Sich ihrer Gastgeberpflichten besinnend, drehte sie sich zu ihm um. Er lächelte das charmante Lächeln, das sie einmal hatte glauben lassen, er liebte sie.

»Es ist ein rauschendes Fest«, sagte er. »Die Zeremonie war sehr gelungen.«

»Ja, es ist schön für Vater, dass alles so gut läuft. Gefällt es deiner Mutter und dir?«

»Sehr.« Jesko warf einen Blick auf die Menge, die um sie stand. Kinder drängten sich durch die Zuschauer und versuchten, dem Feuer so nah wie möglich zu kommen. Krieger, die dem Wein kräftig zugesprochen hatten, grölten. Einer von ihnen war gestolpert und beinahe in die Flammen gefallen. »Mariana, ich glaube, wir sollten reden. Wegen dem, was damals passiert ist.«

»Ich wüsste nicht, was es da zu reden gibt.« Noch einmal würde sie sich von ihm nicht blenden lassen.

»Es … können wir zurück in den Hof gehen? Nur kurz? Die vielen Leute.«

Sie seufzte. Es ließ sich nicht vermeiden, dass sie sprechen mussten. Also wieso nicht das Unangenehme hinter sich bringen? »Wir gehen in die Halle.« Sobald das Feuer abgebrannt war, würde man dort mit Wein und Met anstoßen. Sie wäre nicht lange mit ihm allein. Er folgte ihr widerspruchslos. In der Halle füllten die Bediensteten zahllose Becher und beachteten sie nicht.

»Also?« Sie trat an den Kamin, in dem ein Feuer knisterte.

»Ich will mich bei dir entschuldigen.«

»Bitte?«

»Ich … ich habe mich damals abscheulich dir gegenüber verhalten. Es ist durch eine Entschuldigung vielleicht nicht gutzumachen, aber ich will es trotzdem. Mich entschuldigen.«

»Woher kommt dieser Sinneswandel? Und wieso jetzt?«, fragte sie, nicht bemüht, den spöttischen Unterton in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Das ist sechs Winter her, Jesko.«

Er sah zu Boden. »Du hast recht. Vielleicht ist es zu spät dafür. Aber … seit dem Tod meines Bruders habe ich viel nachgedacht. Du weißt, wie ich damals war. Ich hatte keine Verantwortung und kein Ziel, lebte als Krieger in den Tag hinein. Suchte das Vergnügen. Und dachte wirklich, dass das ein erstrebenswertes Leben ist. Aber nachdem Hamil gestorben war, musste ich Verantwortung übernehmen. Ich glaube, das hat mich verändert.«

»Das mit Hamil tut mir leid, Jesko.« Sie meinte das aufrichtig. Hamil war im Gegensatz zu Jesko ein in sich gekehrter Mann gewesen. Sie hatte ihn gemocht. »Wie ist das passiert? Wir haben nur gehört, dass er gestorben ist.«

»Ein Unfall.« Jesko fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Hamil war auf einem Bergpfad unterwegs. Eine Gerölllawine ging auf ihn nieder. Er stürzte in eine Felsschlucht und wurde von Steinen zermalmt.«

»Armer Hamil! Es muss schrecklich für deine Mutter und dich gewesen sein.«

»Ganz besonders für Mutter. Die beiden waren sich sehr nah. Ich versuche, Mutter so gut wie möglich zu unterstützen. Aber Hamil fehlt. Man spürt es überall.«

»Und jetzt, wo deine Mutter Rätin geworden ist, hast du noch mehr Verantwortung.«

»Das ist richtig. Aber du bist zur Erbin des Herrschers über die Stämme geworden. Das ist auch nicht ohne.« Er lächelte schief.

»Es scheint, als wären wir beide in Positionen gekommen, die wir uns vor sechs Wintern nicht hätten vorstellen können.« Es fühlte sich seltsam an, ausgerechnet mit Jesko etwas gemeinsam zu haben.

»Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es tun«, sagte Jesko. »Um Mutters und Hamils wegen«, setzte er eilig hinzu, »ich würde mich nicht noch einmal dir gegenüber so benehmen.«

Meinte er es ehrlich? Oder hatte sie ihn in ihren Erinnerungen zu einem Taugenichts gemacht, der er nicht war? »Das hoffe ich, Jesko«, erwiderte sie leise. »Du hast mir sehr wehgetan.«

Er machte eine Bewegung, als wolle er ihr die Hand auf den Arm legen, hielt sich aber zurück. »Das weiß ich. Es war falsch. Es tut mir leid. Auch wenn diese Worte den Schmerz wahrscheinlich nicht aufwiegen können.«

Das klang sentimental und passte nicht zu dem Jesko, den sie kannte. Aber vielleicht hatte sich etwas bei ihm verändert. Möglicherweise hatte der Verlust seines Bruders ihn reifen lassen.

»Ich nehme deine Entschuldigung an, Jesko.« Es war die Vernunft, die aus ihr sprach. Ihre Gefühle ihm gegenüber, der Schmerz und die Wut darüber, wie er sie verführt und dann fallen gelassen hatte, hatten sich nicht geändert. Aber Jesko würde als Angehöriger eines Ratsmitglieds einige Nächte auf Tyr verweilen. Sie musste mit ihm umgehen. Diese Aussprache konnte helfen, das einfacher zu machen.

»Ich danke dir, Mariana.« Er sah sie eindringlich an. »Wenn ich etwas für dich tun kann, dann sagst du es mir. In Ordnung?«

»Natürlich.«

Stimmengewirr und Schritte ließen sie zur Tür blicken. Das Feuer musste abgebrannt sein. Die ersten Gäste kamen in die Halle und nahmen sich von den Getränken.

»Ich muss zu Vater und Mutter«, sagte sie. »Entschuldige mich, Jesko.«

Unvergängliches Blut - Die Erben

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