Читать книгу Unvergängliches Blut - Die Erben - S.C. Keidner - Страница 7

Kapitel 5

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»Das nehmen wir zurück, dann passt es einwandfrei.« Gioll, der Schneider, steckte Nadeln in den Ärmel von Marianas Festgewand. Das Kleid war aus schimmernder nachtblauer Seide genäht, mit einem Kranz aufgestickter roter Edelsteine um den Ausschnitt. Am Oberkörper lag es eng an, der Rock bauschte sich glockenförmig.

Mariana fand das Gewand wunderschön, aber die lange Anprobe ließ ihre Ungeduld wachsen. Die Zeit konnte sie mit wichtigeren Dingen verbringen. Aus einem Schwertkampf wurde heute nichts mehr. Die Sonne kroch bereits über die Bergspitzen, was die Vampirkrieger hinter die Mauern der Burg trieb. Sie beschloss auszureiten, sobald Gioll mit ihr fertig war. Ihr Pferd Winterstern, eine hochbeinige Apfelschimmelstute, hatte sie länger nicht bewegt.

»Autsch!« Arik stand ihr gegenüber, die Arme abgespreizt. Giolls Gehilfe steckte ihm das Hemd ab. Man hatte ihn für die Anprobe von einem Buch weggeholt, was seine Laune auf den Tiefpunkt hatte sinken lassen. »Pass mit den Nadeln auf!«

Dem Gehilfen, einem dürren Bürschlein, waren Ariks Befindlichkeiten gleich: »Bleib still stehen, dann passiert auch nichts.«

Ihr Bruder seufzte ergeben. »Bin ich froh, wenn das Fest vorbei ist!«

»Ein Junge in deinem Alter freut sich doch für gewöhnlich auf solche Festlichkeiten!« Gioll schüttelte den Kopf. »Das Festessen, die Zeremonien, Musik. Das ist doch mal eine Abwechslung auf Burg Tyr!«

»Ja, schon. Aber dieses ganze Getue, bevor wir feiern können?«, maulte Arik. »Wozu brauche ich neue Hemden? Und dann noch mit diesen weibischen Stickereien? Und Hosen, die genauso aussehen wie meine alten? Wieso kann ich nicht die anziehen? Auf mich schaut doch sowieso niemand.«

»Im Gegenteil.« Gioll trat einen Schritt zurück und musterte Mariana mit zusammengekniffenen Augen. »Du bist der Sohn des Herrschers. Alle werden dich anschauen. Ganz besonders die Frauen! Denen willst du doch gefallen, oder?«

Von Arik kam ein würgendes Geräusch.

Mariana lachte. Wenn Gioll so weitermachte, würde ihr Bruder die Flucht ergreifen, um all den Frauen, die sich vermeintlich auf ihn stürzten, zu entkommen.

Der Schneider grinste. »Du bist fertig, Mariana. Seid bitte vorsichtig, wenn ihr es auszieht«, wies er seine Gehilfin an, die im Nebenraum wartete, wo Mariana aus dem Gewand stieg, in Lederhosen und Hemd schlüpfte und sich den Schwertgürtel umlegte.

Sie rief Gioll und Arik, bei denen es inzwischen um den Umhang ging, einen Abschiedsgruß zu, bevor sie die Treppe nach unten nahm und kurz in das Studierzimmer ihres Vaters sah, um ihm zu sagen, dass sie einen Ausritt machte.

»Bleib nicht zu lang weg«, sagte er stirnrunzelnd. Er mochte es nicht, wenn sie tagsüber allein unterwegs war, nahm ihre Ausflüge aber zähneknirschend hin. »Ich werde nachher mit deiner Mutter im Kaminzimmer sein. Komm bitte zu uns, wenn du wieder da bist.«

Sie versprach, das zu tun, und eilte weiter, durch die Halle in den Hof. Bevor sie losritt, musste sie sich nähren. Wie alle Vampire nahm sie ein paar Mal im Mond Blut zu sich. Sie hätte ohne Bedauern auf diesen Akt verzichtet, aber er war unvermeidlich. Vampire, denen Blut versagt wurde, durchlitten die Tobsucht, ein dem Wahnsinn ähnelndes Gebaren, bei dem sie alles dafür taten, um an Blut zu kommen. Erhielten sie es nicht, starben sie einen qualvollen Tod. Ganz gleich, wie sehr man es vielleicht wollte, als Vampir konnte man nicht auf Blut verzichten.

Also stieg sie die Treppe zur Küche hinab, einem Gewölbe aus rußgeschwärztem Stein, das unter der Halle lag. Ein Feuer loderte im riesigen Kamin und der Duft vom Braten, den man zum Morgenmahl gereicht hatte, hing in der Luft. Mägde und Knechte wuschen an steinernen Trögen Töpfe, Pfannen und Essbretter ab. Von den schwarzen Deckenbalken hingen getrocknete Kräuter und Schinkenstücke. Auf einem an die Wand geschobenen Tisch standen etwa ein Dutzend Becher. Zwei Blutdiener saßen auf einer Bank, hatten sich mit Messern die Adern an den Handgelenken aufgeritzt und hielten sie über je einen Becher. Sie erwiderten ihren Gruß und wandten sich wieder ihrem Gespräch über das Wetter zu. Mariana nahm einen Becher und stürzte das Blut runter. Seit Maksim die Macht übernommen hatte, nährten sich die meisten Vampire des Qanicengebirges auf diese Weise. Sich von Menschen zu nähren, war zwar nicht verboten, aber es galt als unzivilisiert. Für ihren Teil konnte Mariana sich nicht vorstellen, jemanden zu beißen.

Kurze Zeit später galoppierte sie auf Winterstern den Weg ins Tal hinunter. Die Hufe der Stute trommelten auf der von unzähligen Wagenrädern gefurchten Erde. Felsen flogen vorbei. Sie tauchten in die Wälder ein. Unter den uralten Baumriesen, an deren Stämmen sich Schlingpflanzen hochrankten und die mit den hellgrünen Blättern des Frühlings bedeckt waren, herrschte Dämmerlicht. Dort, wo sie das Laubwerk durchdrang, malte die Sonne helle Flecken auf den Weg. Vor ihnen sprang ein Hase aus den Büschen und verschwand wilde Haken schlagend in den Tiefen des Waldes.

Herrlich, der Enge der Burg zu entkommen und sich die Frühlingssonne ins Gesicht scheinen zu lassen! Ihr erschien es unfassbar, die Welt niemals bei Sonnenlicht zu sehen und sich hinter Mauern davor zu verkriechen. Sie konnte kommen und gehen, ohne abschätzen zu müssen, wann die Sonne aufging und wo man vor ihr Schutz fand. Vampire, die keine Sonnenwandler waren, planten jede Reise penibel, legten im Voraus fest, wie weit sie in einer Nacht ritten und in welcher Höhle oder Festung sie den Tag verbrachten. Es gab Reisen, die ein solcher Vampir niemals würde unternehmen können, wie in die blaue Stadt jenseits der Grasländer. Sie hatte großes Glück, diese Freiheit genießen zu dürfen. Winterstern schien Ähnliches zu empfinden. Sie drängte nach vorn und musste gezügelt werden, damit sie sich nicht bereits zu Beginn des Ausritts verausgabte.

Die Bäume wichen zurück, als sie sich ihrem Ziel, dem Bergsee, näherte. In warmen Sommernächten ritten die Kinder zum Schwimmen hierher. Zu dieser Tageszeit jedoch war es einsam.

Der See, gespeist von zahllosen Bächen, lag unterhalb von steilen Felshängen und war umgeben von Wald, Gräsern und Schilf. Es gab Klippen, von denen man sich mit waghalsigen Sprüngen ins Wasser stürzen konnte, und einen Wasserfall, hinter dem eine Grotte lag.

Marianas Lieblingsplatz waren die Felsblöcke am Ufer. Dort sonnte sie sich gerne. Falls es zu warm wurde, konnte man sich in die Schatten von hohen Fichten zurückziehen. Häufig beobachtete sie Fische, fette Barsche, Hechte und Forellen, die sich in dem klaren Wasser tummelten. Enten dümpelten friedlich und Reiher stakten im Wasser nahe des Ufers umher. In der Einsamkeit des Tages konnte man vor sich hinstarren und in Ruhe nachdenken.

So überraschte es sie, dass sie wider Erwarten nicht allein war. An den Felsblöcken graste ein Pferd, ein prächtiges Tier, dessen schwarzes Fell in der Sonne glänzte. Es trug ein Halfter aus Leder, hob den Kopf und schaute ihnen entgegen. Winterstern schnaubte, die Ohren aufmerksam aufgerichtet. Sichtlich uninteressiert an ihnen wandte sich der Rappe wieder dem Gras zu.

Mariana zügelte die Stute und legte die Hand an den Schwertknauf.

Angst hatte sie keine. Falls nötig, konnte sie sich verteidigen. Es handelte sich wahrscheinlich um einen einzelnen Reisenden, einen Vampir, der sich vor der Sonne versteckte. Ein Mensch oder ein Ewiger hätte sich längst zu erkennen gegeben, schon allein aus Sorge, dass sie das Pferd stehlen könnte. An Verstecken gab es an diesem Teil des Seeufers zwei Höhlen in den Klippen. Eine war niedrig, sodass man in ihr nur sitzen konnte, die andere groß genug, um bequemen Unterschlupf zu bieten. Sie lenkte Winterstern zu den Felsen, die Umgebung aufmerksam beobachtend.

»Sei gegrüßt.« Die Stimme des Mannes ließ sie hochfahren.

Sie hatte richtig gedacht. Es war ein Vampir, der da im Eingang der größeren Höhle saß, gerade weit genug zurückgezogen, um die Sonnenstrahlen zu meiden. Er streckte die Beine lässig von sich und hielt einen Grashalm im Mund. Als er sie freundlich angrinste, erkannte sie seine Fangzähne. »Keine Angst, ich beiße nicht.«

Für einen Vampir war das eine fragwürdige Aussage. »Ich auch nicht«, gab sie zurück. »Aber ich benutze gern mein Schwert.«

Der Mann lachte und nahm den Grashalm aus dem Mund. Er hatte ein kantiges Gesicht und dunkle Augen, die einen interessanten Gegensatz zu seinem hellen Haar bildeten, das in einem kurzen Pferdeschwanz nach hinten gebunden war. Bartstoppeln gaben ihm etwas Verwegenes. Bekleidet war er mit einer abgenutzten, aber gut in Schuss gehaltenen Lederrüstung und einem schwarzen Umhang. Also ein Krieger und kein Fürst, den sie mit ersuchter Höflichkeit behandeln und mit ›Ihr‹ hätte titulieren müssen. Neben ihm auf dem Boden lagen ein Sattel, Satteltaschen, die zur Rüstung gehörenden schweren Lederhandschuhe, eine Decke, ein Schwert in seiner Scheide und der Rest eines Bratens auf einem Blechteller.

»Dann werde ich mich hüten, dich zu verärgern. Du bist eine Sonnenwandlerin, richtig?«

»Das bin ich.« Mariana nahm die Hand nicht vom Schwertknauf. Möglich, dass der Mann doch nicht allein war. »Was tust du hier? Woher kommst du?«

»Ich hatte gehofft, heute Nacht noch Tyr zu erreichen, habe mich aber verschätzt, was die Entfernung angeht. Der Morgen hat mich hier überrascht. Als Vampir der alten Schule muss ich mich vor der Sonne verstecken.«

»Tyr ist nicht weit entfernt.« Sie musterte ihn. Er schien unbekümmert zu sein. Sein Schwert lag unbeachtet da. Entweder hielt er sie für ungefährlich oder er war in der Lage, einer Bedrohung schnell genug zu begegnen, ohne dass er die Hand am Schwertknauf haben musste. Sie vermutete Letzteres. Der Mann hatte unzählige Narben an Händen und Unterarmen und der Ausdruck in seinen Augen, eine zeitlose Abgeklärtheit, sagte ihr, dass er viel gesehen haben musste. Wie dem auch sein mochte, solange sie in der Sonne blieb, konnte er ihr nichts anhaben.

»Kommst du von da?«

»Ja.«

»Es ist wohl viel los, oder? Jetzt, wo Maksim D'Aryun abdankt?«

Ihr unwillkürlicher Seufzer entlockte ihm ein Lachen.

»Ja«, wiederholte sie. »Es herrscht ein ziemlicher Trubel. Ein Grund, weswegen ich hierher geritten bin. Um dem ganzen Getümmel zu entkommen.«

»Und jetzt verderbe ich dir den Ausflug.«

»Ich kann mich ja da vorne an den Felsen niederlassen. Da würde ich dich weder hören noch sehen. Folgen kannst du mir nicht, ohne in der Sonne zu verbrennen.«

»Auch wieder wahr.«

»Wo kommst du her?«

»Aus dem Süden des Gebirges. Ich bin eine Zeit lang beim Stamm der Daksina gewesen.«

»Der Süden. Ich bin noch nie dort gewesen. Ist es anders als bei uns?«

»Es ist wärmer und trockener. Mir gefällt es hier, ehrlich gesagt, besser.«

»Was ist hier besser als im Süden?«

»Hier gibt es Wälder und Seen. Im Süden ist es karg. Bäume wachsen kaum. Auch sind die Berge nicht so hoch wie hier.«

»Was hast du im Süden gemacht? Bist du ein Krieger der Daksina?« Sie hatte von dem Stamm gehört. Die Daksina betrieben Viehzucht und blieben weitestgehend unter sich.

»Nein, sie haben mich angeheuert, um ihr Banditenproblem zu lösen.«

»Ihr Banditenproblem?«

»Viehdiebe. Sie haben die Daksina immer wieder überfallen und ihnen ihre Kühe und Schafe gestohlen. Der Stamm hat keine Krieger und da haben sie mich gebeten, ihnen zu helfen.«

»Und, hast du das?« Ihre Frage war als die Herausforderung gemeint, nach der sie klang. Da war etwas an ihm, dass sie dazu brachte, diesen Tonfall anzuschlagen. Sie konnte nicht den Finger darauflegen, was es war. War es seine Lässigkeit, die ihr suggerierte, kein Gegner für ihn zu sein?

»Ja.«

Die knappe Antwort zeigte, dass ihre Einschätzung richtig gewesen war. Man durfte sich von dem unbekümmerten Äußeren dieses Vampirkriegers nicht täuschen lassen. »Und jetzt reist du weiter durch das Qanicengebirge.«

Er grinste. »Ich dachte, ich schaue mich mal im Norden um. Aber vielleicht suche ich auch das Schwert der Seherin.«

Mariana legte den Kopf schief und betrachtete ihn. Er schien sie nicht für voll zu nehmen, wenn er schon mit Geschichten für Kinder ankam. Das Märchen erzählte von einer Seherin, die ein magisches Schwert besaß, mit dem man jeden Gegner besiegte. Krieger begaben sich auf lange Wanderungen, an deren Ende sie die Seherin fanden und um das Schwert baten. Natürlich sah die Seherin voraus, dass die Krieger das Schwert zur eigenen Bereicherung nutzen würden und verweigerte seine Herausgabe. Ein Krieger wurde darüber so wütend, dass er ihr den Kopf abschlug. Seitdem kehrte keiner derjenigen, die auf die Suche nach dem Schwert gingen, jemals zu seinem Stamm zurück. Es hieß, dass der Geist der Seherin sie zu ihren Sklaven gemacht habe. »Dann pass bloß auf, dass du nicht verschwindest.«

»Noch bin ich ja da.« Er schob sich den Grashalm wieder zwischen die Zähne. »Aber danke für deine Anteilnahme.«

»Sehr gerne«, entgegnete sie trocken. »Und wohin gehst du, wenn du auf Tyr gewesen bist?«

»Wohin der Wind mich treibt. Was machst du auf Tyr?«

»Ich bin eine Kriegerin.« Was war das für ein Mann? Er reiste allein und schien keinem Fürsten verpflichtet zu sein. Er war unbekümmert, zugleich aber ein gestandener Krieger, der seinen Anteil an Tod und Grauen gesehen haben musste. Ein Mann der Gegensätze, den sie interessant fand.

»Aber eine junge Kriegerin.«

Da war es wieder. Er nahm sie nicht für voll. Es war die selbstgefällige Einstellung der erfahrenen Krieger, mit der sie auf Tyr zu kämpfen hatte. Das brauchte sie sich an ihrem Rückzugsort, dem See, nicht auch noch anzuhören. »Das gebe ich zu, ja.«

Er grinste und schob den Grashalm von einem Mundwinkel in den anderen. Sie beschlich das Gefühl, dass er sie vorsätzlich neckte. Aber warum? Nun, sie hatte keine Zeit, dem auf den Grund zu gehen, auch wenn sie es liebend gern getan hätte. Die Sonne stand hoch am Himmel. Wenn sie nicht bald den Rückweg antrat, würde Vater ihr die Leviten lesen. Nicht dass sie plante, ihm von diesem Krieger zu erzählen. Dann bestand die Gefahr, dass er ihr für den nächsten Ausritt einen Ewigen oder Menschenkrieger als Wächter zur Seite stellte, aus Angst, ihr könne etwas zustoßen. Das wollte sie nicht. »Ich muss los. Man erwartet mich.«

»Dann noch viel Spaß. Ich würde dir ja gerne meine Begleitung anbieten, um dich vor Strauchdieben zu beschützen, aber ‒.« Der Mann hob entschuldigend die Hände.

Jetzt lächelte sie doch und beschloss, die spröde Zurückhaltung aufzugeben. Trotz seiner Neckereien war ihr der Mann sympathisch. »Entschuldigung angenommen. Wenn ich auf dem Weg nach Tyr auf einen Strauchdieb treffe, sehe ich zu, dass ich dir etwas von ihm übrig lasse.«

Er lachte, machte eine drollig aussehende Verbeugung im Sitzen und sagte: »Das ist sehr nett von dir. Wir sehen uns auf Tyr. Gehab dich wohl.«

»Gehab dich wohl.« Sie lenkte Winterstern um einige kleinere Felsblöcke, blickte kurz zu dem Mann zurück, der ohne eine Sorge in der Höhle saß und sie zum Abschied angrinste. Dann gab sie der Stute die Sporen und Winterstern, die noch lange nicht müde geritten war, stob begeistert los.

Der blonde Vampirkrieger sah dem davongaloppierenden Pferd und der Reiterin hinterher, bis das dichte Grün der Wälder sie verschluckte und der Hufschlag verklang. Ein leises Lächeln glitt über seine Züge. »Mariana.«

Unvergängliches Blut - Die Erben

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