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Kapitel 2

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Der Aufprall der Schwertklingen vibrierte in den Knochen. Sie umklammerte den Knauf ihrer Waffe umso fester. Jetzt bloß nicht nachgeben! Wie sie es beabsichtigt hatte, lag Goswins Klinge über der ihren. Hochhebeln! Mariana drehte das Schwert und drückte es nach oben. Die Bewegung schmerzte in den Armen, hielt Goswin doch mit aller Kraft dagegen. Es nützte ihm nichts. Die Waffe wurde ihm aus der Hand gewunden, wirbelte durch die Luft und prallte auf den sandigen Boden des Kampfplatzes.

Von der Umzäunung hörte sie die anerkennenden Rufe der Krieger. Ihr Bruder im Blute zischte einen Fluch, als sie ihm triumphierend die Spitze des Schwerts auf die Brust setzte.

»Sehr gut!« Frans, Schwertmeister der Ewigen, kam zu ihnen. »Mariana, nur etwas schneller, du hast zu lange überlegt, bevor du Goswin entwaffnen konntest. Goswin, diesen Moment hättest du nutzen können, achte beim nächsten Mal darauf. Wer kommt jetzt?«

Mariana nickte und stellte sich mit Goswin hinter den hölzernen Zaun. Sie wiederholte die Bewegung mit dem Schwert. Frans hat recht. Es muss schneller gehen, wie eine instinktive Handlung.

Goswin fuhr mit dem Daumen über seine Klinge, bevor er sie in die Scheide steckte. »Manchmal glaube ich, ich werde die Kampftechniken der Ewigen nie beherrschen.«

»Das geht mir genauso. Ich muss immer noch überlegen, wie ich eine Taktik am besten anwende. Deswegen geht es nicht schnell genug. Aber wir werden es schon noch lernen.«

»Hoffen wir’s.«

Sie lernten die Kampfkünste der Ewigen seit zwei Wintern. Frans hatte prophezeit, dass es lange dauern würde, sie zu meistern. Sie unterschieden sich von den Techniken der Vampirkrieger in feinen, aber wichtigen, Nuancen. Wenn Mariana und Goswin geglaubt hatten, ihr Können als Vampirkrieger verschaffte ihnen einen Vorteil, dann waren sie eines Besseren belehrt worden.

Sie drehte sich um. Die Pflastersteine des von Fackeln erleuchteten Burghofs glänzten vom Nieselregen, der schon die ganze Nacht fiel. Die Hunde in den Zwingern bellten einen mit Holz beladenen Wagen an, der schwerfällig durch das Tor rumpelte. Am Zaun des Kampfplatzes standen etwa zwanzig Krieger, die auf ihren Waffengang warteten. »Bis zum Morgenmahl ist noch Zeit und die Regenwolken haben sich fast verzogen. Warum reiten wir nicht ins Tal und üben da mit den Pferden?«, schlug sie vor. »Hier kommen wir sowieso nicht mehr dran.«

Für Kampfübungen zu Pferd war der Hof zu klein. Tyr lag auf steilen Felsklippen hoch über den Tälern des Qanicengebirges und wurde überragt von schneebedeckten Gipfeln. An regnerischen Tagen verschlangen graue Wolken die Burg. Der Hof, in dem neben dem Kampfplatz die Gärten und der Brunnen lagen, war von der Halle mit den daran anschließenden Wohngemächern, dem Haus des Bundes der Ewigen, Wirtschaftsgebäuden, Ställen, Scheunen und Werkstätten umgeben. Um all dies zog sich die aus dem schwarzen Stein des Gebirges erbaute Mauer mit den wuchtigen Wehrtürmen, die den Wachen einen ungehinderten Ausblick in die Ferne erlaubten. Burg Tyr hatte nur einen Zugang, den über das Tor, zu dem ein steiler Weg aus dem bewaldeten Tal weit unterhalb der Felsklippen führte.

»Gute Idee!«, sagte Goswin. »Lass uns ‒.«

»Mariana!« Die breitschultrige Gestalt ihres Vaters, mit kahl geschorenem Kopf und gekleidet in ein weißes Hemd und Lederhosen, stapfte auf sie zu. Er grüßte die älteren Krieger und Frans mit Handschlag. Die Jüngeren wichen respektvoll zurück und neigten die Köpfe. Wie jeder, der im Rebellenkrieg gekämpft hatte, war er eine Legende.

»Goswin.« Vater nickte ihrem Bruder im Blute zu, der den Gruß ehrerbietig erwiderte. »Das war ein guter Waffengang.«

Goswin errötete.

»Jawohl.« Frans grinste. »Noch fünf oder sechs Winter und die beiden sind halbwegs brauchbar als Kämpfer der Ewigen. Jetzt entschuldigt mich, ich muss sehen, ob das nächste Paar das genauso gut hinkriegt.« Er begab sich auf den Kampfplatz, wo sich Vlad und Lys bereits gegenüberstanden.

Mariana verzog das Gesicht. ›Halbwegs brauchbar‹! Goswin und sie hatten besser gekämpft als Sandor und Reyk, die erfahrene Krieger waren!

Ihr Vater lachte und sagte: »Mariana, ich möchte mit dir sprechen.«

»Natürlich, Vater. Entschuldige, Goswin.«

Der zuckte mit den Schultern. »Ich reite ins Tal. Komm einfach nach«, entgegnete er und machte sich auf den Weg zu den Ställen.

»Er ist ein exzellenter Kämpfer. Er braucht nur mehr Selbstvertrauen«, meinte ihr Vater. »Lass uns in mein Studierzimmer gehen.«

Das Studierzimmer lag in dem Turm über dem Tor. Mariana hatte hier oft mit ihrem Vater gesessen. Bei ihrem allerersten Gespräch in diesem Raum war sie gerade sechs Winter alt geworden und hatte ihn informiert, dass sie Kriegerin werden wollte. Er hatte gelächelt und sich ernsthaft mit ihr darüber unterhalten, ob es ratsam sei, auf ihrem Pony Schneeflocke in die Schlacht zu ziehen.

Das Zimmer war sparsam eingerichtet, mit einem Tisch, einfachen Holzstühlen und einem Regal. An den mit dunklen Holzpaneelen verkleideten Wänden hingen Öllampen und ein kunstvoll geknüpfter Teppich, der eine Jagdszene darstellte. Durch das Fenster sah man den Weg, auf dem Goswin und eine kleine Gruppe von Kriegern ins Tal hinuntertrabten. Es gab ihr einen Stich, sie davonreiten zu sehen, wäre sie doch gerne dabei gewesen.

Ihr Vater nahm an dem Tisch Platz, der, wie das Regal auch, mit Pergamenten und Büchern überladen war. Sie setzte sich ihm gegenüber. Er kam sofort zum Punkt. »Du wirst wissen, was ich mit dir besprechen will.«

»Ja. Was wird, wenn du der Herrscher bist.«

»Das ist richtig. Du wirst als meine Nachfolgerin benannt werden. Sollte mir etwas zustoßen, wirst du die Herrschaft übernehmen müssen.«

Sie schluckte. »Ich hoffe, das wird niemals passieren.«

Er sah sie prüfend an. »Machen dir deine neuen Verantwortlichkeiten Angst?«

»Nein, ich habe keine Angst.« Sie nestelte an einem Faden, der unter dem Armschutz ihrer Lederrüstung hervorlugte. »Ich freue mich darauf, mehr über die Regierungsgeschäfte zu erfahren. Das, was du mit Maksim morgens vor dem Kamin beredest, klingt spannend. Zumeist jedenfalls.« Er lachte und auch sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Nun ja, welche Menge an Pelzen an die blaue Stadt gesandt wird, finde ich nicht besonders faszinierend. Nein, es ist eher die Verantwortung, die mir Unbehagen bereitet. Du hast so viel Erfahrung, genau wie all die Fürsten, die im Rat sitzen. Ich habe gar keine. Ich … ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Du wirst dich auf lange Winter einstellen müssen, in denen du lernst, worum es in Regierungsgeschäften geht. Du wirst mit mir zusammenarbeiten und in den Rat aufgenommen. Zunächst als Gast, also ohne Stimmrecht.«

Das klang nicht mehr ganz so furchteinflößend.

»Es stimmt, wir binden dich sehr früh in all dies ein. Aber so hast du Zeit, um Erfahrungen zu sammeln, ohne dass man weitreichende Entscheidungen von dir erwartet. Du sollst zunächst einmal zuhören und lernen. Nicht mehr und nicht weniger.«

Sie nickte entschlossen. »Das werde ich, Vater.«

»Gut. Ich werde den Rat zum Teil neu besetzen. Einige Räte haben angekündigt, dass sie zu ihren Stämmen zurückkehren möchten. Andere werden ohne Maksim nicht im Rat verbleiben wollen. Ich will die Entscheidung, wer sie ersetzt, bis zu Maksims Abdankung getroffen haben. Wir benötigen fünf neue Räte. Ich möchte, dass du mit mir die Kandidaten durchgehst.«

»In Ordnung. Aber was bedeutet das für mich? Ich meine, ich werde mit dir arbeiten, aber werde ich noch eine Kriegerin sein?« Das bereitete ihr die meisten Sorgen. Es würde ihr schwerfallen, das Kriegerleben aufzugeben.

»Ja. Du wirst deine Kampfübungen wie gewohnt fortsetzen. Also wirst du zukünftig sehr viel mehr zu tun haben und musst dir deine Zeit gut einteilen.«

Sie atmete auf. Die Gefahr, fortan in düsteren Zimmern gefangen zu sein, um beim schummrigen Licht einer Kerze auf verstaubten Pergamentrollen herumzukritzeln, war also nicht gegeben. Ein Mehr an Arbeit fürchtete sie nicht.

»Während der ersten Monde geht es darum, dass du dich einfindest und verstehst, welcher Art die Regierungsgeschäfte sind. Dann wirst du nach und nach Aufgaben übernehmen. So wächst du in deine neue Rolle hinein.« Er zog zwei Pergamente aus dem Stapel vor ihm. »Hier sind die Mitschriften der letzten Ratssitzungen. Lies sie dir bitte bis morgen Nacht durch. Bis dahin habe ich eine Liste der Kandidaten für den Rat erstellt. Sei bei Einbruch der Nacht morgen hier, dann können wir sie gemeinsam durchgehen.«

Mit sinkendem Herzen nahm sie die Pergamentrollen. Soweit zu dem Plan, für den Rest der Nacht ins Tal zu reiten. Die Rollen waren dick. Es würde dauern, sie zu lesen.

»Darüber hinaus werdet Arik und du repräsentative Pflichten haben. Wenn wir Gäste erwarten oder zu den Stämmen reisen. Und natürlich auch bei den Zeremonien zur Abdankung und Ernennung des Herrschers. Dazu gibt es festgelegte Abläufe, mit denen ich euch vertraut machen werde. Aber das kann warten, es gibt Wichtigeres.« Er seufzte. »Auch wenn die Schneider da anderer Meinung sind, wie mir deine Mutter sagte. Ihr bekommt für die Zeremonie neue Festgewänder. Wundere dich also nicht, wenn dich einer der Schneider in eine Ecke zerrt und deine Maße nimmt.«

Sie lachte. Gegen neue Kleider hatte sie nichts einzuwenden. Aber Arik würde es hassen, eines seiner heiß geliebten Bücher dafür aus der Hand legen zu müssen. Ihr Vater grinste. »Und jetzt ab mit dir. Ich erwarte, dass du morgen Abend alles über die letzten Ratssitzungen weißt.«

Mariana studierte die Pergamentrollen bis weit in den Morgen hinein. Ihre Befürchtungen hatte sie rasch vergessen und war tief in die Angelegenheiten des Qanicengebirges eingetaucht. Die Bandbreite der Aufgaben überraschte sie, auch wenn sie durch die Gespräche zwischen ihrem Vater und Maksim bereits viel mitbekommen hatte. Abgaben wurden festgesetzt und verteilt, der Handel von Weizen und Fleisch diskutiert. Da war der Fall eines Fürsten, der ohne Erben gestorben war – die Ursache seines Todes blieb unklar, es gab vage Hinweise auf einen Schwertkampf um eine Frau – und dessen Stamm in einen benachbarten aufgehen sollte. Der Rat bestimmte, mit wie viel Gold und Kriegern die Stämme unterstützt wurden, die die Grenzen zum Niemandsland und den nördlichen Grasländern bewachten. Es wurde debattiert, wie man den Wajaren – Banditen, Mördern und Wegelagerern – beikommen konnte, deren Zahl stark angestiegen war und die Stammesfürsten immer mehr Gold und Krieger kosteten, um ihre Liegenschaften und Untertanen zu schützen. Außerdem sprach der Rat bei Streitigkeiten zwischen Stämmen und bei Kapitalverbrechen Recht.

Am interessantesten aber fand sie die Beziehungen zu den von Menschen beherrschten Gebieten. Mit der blauen Stadt, weit im Westen jenseits der Grasländer an der Küste des Meeres gelegen, herrschte ein lebhafter Austausch. Es gab einen regen Handel. Die Bewohner des Qanicengebirges versorgten die Städter mit Pelzen, Fleisch und Erzen und bezogen dafür Handwerkskunst wie Schmuck oder Keramik. Dies war dem Einfluss des Bundes der Ewigen geschuldet, der in der blauen Stadt sein Haupthaus unterhielt. Die Ewigen hatten Maksim während des Rebellenkriegs unterstützt und waren mit Frans als ihrem Schwertmeister auf Burg Tyr im Rat der Stämme vertreten.

Mit den beiden anderen Städten der Menschen, Insan und Quadin, in den Grasländern nördlich des Gebirges gelegen, gab es keine Beziehungen. Grußworte wurden nicht erwidert und in den Debatten des Rats ging es darum, wie man das ändern konnte.

Einige Räte waren laut den Mitschriften nicht an der Änderung dieses Status Quos interessiert. Sie hielten das für vergebliche Mühe und verbrachten mehr Zeit darauf, über das Niemandsland nachzudenken, dessen bewaldete Hügel sich zwischen dem westlichen Rand des Gebirges und den Grasländern erstreckten. Hier lebten Menschen ohne eine Regierung. Die versprengten Dörfer und Weiler verwalteten sich selbst. Es gab Räte, die argumentierten, dass das Niemandsland von einer Herrschaft der Vampire profitieren würde. Der Großteil des Rats lehnte diese Überlegungen ab.

Wie es wohl in den Städten und Dörfern der Menschen aussah? Vampire lebten zumeist in Festungen, deren Mauern sie vor der Sonne schützten. Von Menschen oder Vampiren bewohnte Flecken gab es im Qanicengebirge, aber das waren in der Regel nicht mehr als zwei oder drei Häuser, etwa rund um eine Mühle, Erzmine oder einen Bauernhof. Und das Meer! Die blaue Stadt, hatte Frans erzählt, lag hoch oben auf den Klippen über dem Ozean. Bis zum Horizont sah man nichts als Wasser, das in einer ewigen Brandung an die Felsen rollte und über dem Abertausende von Seevögeln kreisten.

Sie berichtete ihrem Vater in der folgenden Nacht von diesen Gedanken.

Er nickte. »Ja, die Beziehungen zu den Menschen sind schwierig. Einige unserer Bediensteten, die Verwandte in Insan oder Quadin haben, sagen, dass wir dort als menschenmordende Blutsauger verschrien sind.«

»Aber die Städte haben doch nie unter den Vampiren gelitten. Die Grasländer, so ganz ohne Höhlen, sind für uns wegen unserer Sonnenempfindlichkeit unüberwindbar. Ich könnte die Angst verstehen, wenn die Städte im Niemandsland gelegen und überfallen worden wären, aber so?«

»Nun, inzwischen sind die Grasländer für einige Vampire kein Hindernis mehr.« Er schmunzelte. Mariana stieg die Hitze in die Wangen. Ab und an vergaß sie, dass sie sich in diesem Punkt grundlegend von anderen ihrer Art unterschied. »Viele Menschen haben auch heute noch Angst vor uns. Wir Vampire haben über lange Zeit Menschen versklavt. Zwar waren davon die Menschen im Niemandsland betroffen, aber die Erzählungen sind bis zu den Städten gedrungen. Das Ganze hat erst durch den Rebellenkrieg und Maksims Machtübernahme vor dreißig Wintern geendet. Die Erinnerung an die alten Verhältnisse ist lebendig. Es wird lange dauern, bis die Menschen uns voll vertrauen.«

»Deswegen immer noch die Grußworte nach Insan und Quadin. Um Vertrauen aufzubauen.«

»Ja. In der Hoffnung, dass dies dazu führt, irgendwann mit den Menschen in diesen Städten einen Austausch zu pflegen.«

Dann fragte er nach ihrer Meinung zu dem Stamm, der in einem anderen aufgehen sollte, und kam schließlich zu den neuen Mitgliedern des Rats. »Wir verlieren fünf Fürsten, die zu ihren Ländereien zurückkehren werden.« Er deutete auf die Namensliste, die auf dem Tisch lag. Mariana kannte jeden von ihnen. Einer der Räte war Vater geworden und wollte zukünftig bei seiner Familie sein. Die Fürsten Rakta und Dhiig waren auf Maksims Bitten in den Rat gekommen und würden mit ihm abdanken. Dann gab es zwei Fürsten, die sich fortan auf die Geschäfte ihrer Stämme konzentrieren wollten. »Ich habe mir Gedanken zu ihren Nachfolgern gemacht. Wir müssen darauf achten, dass alle Gegenden des Qanicengebirges gleich repräsentiert werden. Und wir brauchen Leute mit Erfahrung. Insgesamt kämen acht Fürsten oder Krieger in Frage.«

Die meisten Namen auf der zweiten Liste sagten Mariana nichts. Bei einem der zwei, die sie kannte, sank ihr Herz. »Mir sagen nur diese beiden etwas. Bei der Fürstin Shazad habe ich einen Teil meiner Kriegerausbildung absolviert. Und Milo Yirdar kenne ich aus deiner und Mutters Erzählungen.«

Yirdar war Vaters Bruder im Blute und hatte mit ihm im Rebellenkrieg gekämpft.

Die Fürstin war die Mutter von Jesko. Tief drinnen hoffte Mariana, dass Vater sie nicht zur Rätin ernannte, denn dann würde Jesko auf Tyr auftauchen. Jesko, in den sie sich verliebt und dem sie sich hingegeben hatte. Nur, um von ihm irgendwann einmal erklärt zu bekommen, dass es ihm leidtäte und er sie nicht liebte. Einige Nächte danach hatte sie gesehen, wie er mit der Tochter eines Fürsten, der zu Besuch auf Shazad weilte, in seinem Gemach verschwand. Mariana war neunzehn Winter alt gewesen und hatte sich, um ihn zu vergessen, mit Vehemenz in ihre Kampfübungen gestürzt. Das Ergebnis war eine Reihe zufriedener Schwertmeister, die ihr eine große Zukunft als Kriegerin vorhersagten. So ist aus dem Fiasko mit Jesko doch noch Gutes entstanden, dachte sie bitter.

»Was hältst du von der Fürstin?«

»Sie ist streng, aber gerecht.« Und hatte ihren Sohn zum Frauenhelden erzogen, aber das konnte sie ihrem Vater nicht sagen. »Mehr weiß ich nicht von ihr. Sie hat sich um unsere Ausbildung nicht gekümmert, dafür war ihr Schwertmeister zuständig. Wenn es Dispute gab, dann hat sie die gerecht gelöst.«

»Das deckt sich mit dem, was ich über sie gehört habe. Sie war schon einmal Mitglied des Rats, ist dann aber auf ihre Ländereien zurückgekehrt. Maksim hält große Stücke auf sie. Ich würde sie gern zur Rätin ernennen.«

Mariana biss sich auf die Lippen. Vielleicht hatte sie Glück und Jesko kam nicht mit seiner Mutter nach Tyr. Seit dem Tod seines älteren Bruders war er ihr Erbe und würde sich, falls die Fürstin der Ernennung zur Rätin zustimmte, zu Hause um die Belange des Stammes kümmern müssen. Das hoffte sie zumindest.

»An Milo erinnerst du dich nicht? Er hat Tyr verlassen, als du fünf Winter alt warst.«

Sie verband kein Gesicht mit dem Namen. »Nein. Wohin ist er damals gegangen?«

»Milo ist ein Abenteurer. Ihm wurde nach dem Ende des Rebellenkriegs auf Tyr langweilig. Dann wurde er gebeten, einen der Stämme bei der Vernichtung von Wajaren zu unterstützen. Seitdem zieht er auf Wajarenjagd durch das Gebirge.«

»Seit zwanzig Wintern?«, fragte sie verblüfft. Aus den Erzählungen vor dem Kamin wusste sie um Yirdars Wajarenjagd, nicht aber, dass er sie schon so lang betrieb.

»Ja. Er ist nicht besonders sesshaft. Und die Wajarenjagd bedingt es, dass er in alle möglichen Gegenden reisen muss, um die Banditen auszuräuchern.«

»Denkst du nicht, dass ihm wieder langweilig werden wird, wenn er dauerhaft auf Tyr sein muss?«

»Nein. Damals war er ein Krieger, der nach dem Krieg außer Kampfübungen abzuhalten nichts zu tun hatte. Jetzt wird Milo Mitglied des Rats sein. Seine Erfahrung ist für uns von unschätzbarem Wert. Wie du weißt, haben sich die Aktivitäten der Wajaren verstärkt und wir müssen ihnen beikommen.« Er deutete auf die anderen Namen. »Hroar Gisher ist ebenfalls ein guter Kandidat. Ich mag ihn nicht besonders. Aber er ist der Fürst eines großen Stammes und hat ein herausragendes strategisches Verständnis, das für den Rat wichtig ist.«

»Du würdest jemanden in den Rat holen, den du nicht magst?«

»Ja. Der Rat soll alle möglichen Meinungen reflektieren. Es werden keine guten Entscheidungen getroffen, wenn ich nur Leute habe, mit denen ich gern Wein trinke. Der Rat führt dann keine kontroversen Diskussionen.« Er lächelte. »Das war eine der ersten Lektionen, die ich von Maksim gelernt habe. Wir herrschen über ein Volk, das die unterschiedlichsten Meinungen hat und ebenso unterschiedlich lebt, sei es als Krieger, Fürst, Bauer oder Minenarbeiter. Wir brauchen Räte, die all diese Meinungen und Gegebenheiten abdecken. Ganz gleich, ob einige dieser Räte mir nun gefallen oder nicht.«

Sie nickte nachdenklich. »Wieso magst du Hroar Gisher nicht?«

»Er hängt sein Fähnchen gern in den Wind. Ich hingegen mag es, wenn man einen festen Standpunkt hat. Außerdem vertritt Gisher überholte Ansichten, was unseren Umgang mit den Menschen angeht. Wobei er nicht der Einzige ist, der diese Ansichten hat.«

Er spielte auf die Diskussionen um das Niemandsland an. Mehr als einmal hatten er und Maksim das beim Beisammensein der Familie im Kaminzimmer besprochen und Mariana es jetzt in den Mitschriften gelesen. Die Argumente für die Unterwerfung des Niemandslandes waren verworren. Dort lebten nur Menschen. Es gab keine Bodenschätze und keine wertvollen Ackerflächen oder Weidegründe. Die Fürsten, die für die Vereinnahmung des Niemandslandes plädierten, beriefen sich auf die altmodische Ansicht der Überlegenheit der Vampirrasse. Eine Herrschaft der Vampire täte den Menschen gut und brächte Ordnung in ihr Leben. Mariana hingegen glaubte, dass es den Fürsten mehr um die Erfüllung ihrer Machtgelüste als um das Wohl von Menschen ging.

»Dann würde ich gerne noch Alek Nitshav und die Fürstin Amirad in den Rat aufnehmen. Ihre Stämme sind klein und beide regieren schon lang. Mit dem Weggang der Fürsten Rakta und Dhiig sind viele der großen Stämme im Rat vertreten und wir können die Machtgewichtungen so wieder glattziehen.« Ihr Vater sah gedankenverloren auf die Namensliste. »Damit hätten wir fünf neue Räte. Ich werde Maksim nach seiner Meinung fragen, dann können wir sie benachrichtigen.«

»Haben Maksim und Rodica bereits beschlossen, was sie nach seiner Abdankung machen werden?«

»Sie ziehen sich auf eine kleine Festung zurück. Maksim befürchtet, dass er in Regierungsgeschäfte verwickelt wird, sollte er auf Tyr bleiben. Unrecht hat er da nicht.«

Maksim und Rodica wären nicht mehr auf Tyr. Das traf sie. »Ich werde sie vermissen«, sagte sie leise. »Burg Tyr ohne Rodica und Maksim … es fühlt sich nicht richtig an.«

»Die Welt, in der du lebst, ist ihnen zu verdanken. Sie ist ihr Vermächtnis. Ein Teil von ihnen wird immer hier sein, selbst ‒.« Er verstummte kurz und fuhr mit fester Stimme fort: »Selbst nach Rodicas Tod.«

Sie schauderte. Der Tod von Rodica, der einzigen Sterblichen in ihrer Familie. Eine fürchterliche Vorstellung.

Er schien ihre Gedanken zu lesen. »Bedenke, wir sind nicht so unsterblich, wie wir glauben. Du bist eine Kriegerin. Würden wir in Schlachten ziehen, müsstest du dem Tod bei jedem Kampf ins Gesicht sehen.«

»Ich weiß.« Sie lächelte unglücklich. »Aber wir haben es in der Hand, oder? Ich hätte nicht Kriegerin werden müssen, ich habe es mir ausgesucht. Rodica hat keine Wahl, ob sie stirbt oder auf ewig weiterlebt.«

Er seufzte und legte seine Hand in einer tröstenden Geste auf die ihre. »So ist es nun einmal, Mariana, und wir müssen damit fertigwerden. Du und Arik könnt eure Großeltern besuchen. Die Festung, an die Maksim denkt, ist die an den Wasserfällen. Sie ist nicht einmal einen halben Nachtritt entfernt.«

Unvergängliches Blut - Die Erben

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